Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018. Cedric Balmore
von vorn. Mit achtundzwanzig kann man das noch, sagte sie sich. Da ist man jung, so jung, dass ein neuer Anfang lohnt. Und es sollte ein Weg werden, auf dem sie kein Mann begleiten würde.
Dieser Dr. Graf gefiel ihr, weil er eben gar nicht so war, als habe er irgendwelches persönliches Interesse an ihr. Im Gegenteil, da hatte sie viel mehr Sympathie und Interesse bei Winter entdeckt.
Sie wollte sich in den nächsten Tagen um eine Wohnung kümmern. Ein Zimmer in einer Pension am Rande der Stadt hatte sie bereits. Was ihr fehlte, war ein Wagen. Natürlich hatte Dieter den Wagen behalten. Darauf war Doris auch gar nicht scharf. So eine riesige Limousine zu fahren, machte ihr ohnehin keinen Spaß. Der Wagen passte im Übrigen ganz zu Dieters Lebensstil.
Ihr Gedanken schweiften weiter, und sie erinnerte sich an ihre Schwangerschaft. Unmittelbar nach der Geburt starb das Kind. Ein Mädchen. Sie hatte sich so sehr darauf gefreut. Aber auch ein hervorragender Geburtshelfer konnte die Kleine nicht am Leben halten. Was danach kam, war das Bitterste gewesen, was sie in ihrem Leben erfahren hatte. Sie war von Dieter mit Vorwürfen überhäuft worden. Hätte in der Schwangerschaft irgendwelche Fehler gemacht, dass es so weit kommen konnte. Dabei war sie sich nicht nur keiner Schuld bewusst, sondern bekam auch von zwei Gynäkologen bestätigt, dass sie gar nichts mit dem Tod des Kindes zu tun hatte. Dass dies etwas gewesen sei, was kein Arzt voraussagen konnte, und keine Mutter, die das Kind unter dem Herzen trug, zu beeinflussen imstande gewesen wäre. Eine Atemlähmung, die unter zehntausend Geburten einmal vorkommt. Und bei ihr war eben dieses eine Mal. Das Kind zu verlieren, war schon sehr schlimm gewesen. Ein Schock ohnegleichen. Aber dann Dieters Verhalten. Im Grunde war damals das letzte Gefühl in ihr für ihn abgestorben. Danach hatten sich nur noch Jahre der Quälerei angeschlossen, gegenseitiger Vorwürfe, Schikanen, eine Kette von Peinlichkeiten, Streitereien und Hass.
Ich muss mich um die Wohnung kümmern, dachte sie, statt hier herumzusitzen. Aber diese halbe Stunde hat mir gutgetan.
Als sie weiterging und den Englischen Garten durchquerte, versuchte sie sich über die Person Dr. Wieland Grafs klar zu werden. Aber sie kam zu keinem Ergebnis. Professor Winter, den konnte sie sofort einordnen. Er war ihr sympathisch. Ein Mann, mit dem sie gerne zusammengearbeitet hätte. Und wiederum auch nicht. Sie spürte, dass er in ihr auch die Frau sah. Mit Dr. Graf war das anders. Sollte sie sich nun wirklich darüber freuen, dass er sie wie ein Neutrum betrachtete? Ein wenig verletzte es ihre Eitelkeit. Zum anderen aber wirkte es auf sie beruhigend. Von ihm, dachte sie, droht mir nie Gefahr.
In ihr war im tiefsten Innern eine Ahnung, dass sie sich da irrte. Aber sie wollte diese Ahnung nicht wahrhaben. Hörte nicht auf die innere Stimme, die ihr das Gegenteil ihrer Überzeugung signalisierte.
Wenn ich die Wohnung habe, dachte sie, und versuchte sich selbst auf ein anderes Thema zu bringen, werde ich nur noch meine Sachen holen. Und dann ist es vorbei. Vorbei mit Dieter, vorbei mit Erlangen, vorbei mit den trüben Erinnerungen. Hier in München werde ich ganz neu anfangen. Alles wird anders sein. Es wird so sein, wie ich mir noch während unserer letzten Zeit unserer Ehe geschworen habe, dass es sein müsste. Ich werde Tennis spielen, ich werde wieder Rad fahren. Natürlich, ein Rad will ich mir besorgen. Kein Auto. Vielleicht finde ich ein Zimmer irgendwo in der Nähe. Oder eine kleine Wohnung. Eine kleine Wohnung wäre besser. Etwas Geld habe ich ja zum Glück noch. Und was mir Dieter auszahlen wird, hilft noch dabei. Und das Gehalt, das ich in Zukunft verdiene, ist auch höher als in Erlangen. Merkwürdig. Und ich hatte gedacht, das ließe sich niemals steigern.
Sie fand an diesem Tage keine Wohnung. Auch nicht am nächsten. Aber sie nahm sich Zeit. Bis zum Monatsende war noch eine ganze Weile. Sie hoffte, dass es bis dahin klappen würde.
Aber sie brauchte noch eine ganze Woche, um eine Apartment-Wohnung zu finden. Und die war teurer, als von ihr einkalkuliert. Trotzdem griff sie zu. Und am selben Tage noch kaufte sie sich ein Rad. Mit einem Taxi zu fahren, wurde ihr allmählich doch zu teuer.
Die Wohnung lag im vierten Stock eines fünfstöckigen Neubaues. Eine winzige Küche, ein großes Wohnzimmer, ein kleiner Schlafraum, Abstellkammer und ein für diese Verhältnisse recht luxuriöses Bad mit Toilette. Die Wohnung gefiel ihr. Die Aussicht auf eine Bahnlinie war nicht berauschend. Aber dazwischen standen einige Bäume. So gab es doch etwas Grün. Auf der anderen Seite ging die Aussicht auf einen Neubau, der seiner Fertigstellung entgegenging. Auch kein schöner Anblick. Doch auch dort ein paar grüne Flecken. Die Straße war ruhig, und die Bahn störte weiter nicht. Es fuhren da offensichtlich nur sehr wenig Züge.
Sie hatte ein neues Fahrrad erstanden und machte die ersten Probefahrten. Schon von Anfang an bereitete es ihr Spaß, mit dem Rad zu fahren. Sie hatte etwa drei Kilometer bis zur TANNENHOFKLINIK. Kein weiter Weg mit dem Rad, wenn es nicht gerade in Strömen goss. Gegenwärtig war das Wetter herrlich. Und wenn es regnete, so hatte sie beschlossen, würde sie notfalls mit dem Bus fahren. Allerdings bedeutete das einen ziemlichen Umweg. Und ein gutes Stück zu Fuß musste sie trotzdem noch laufen. Aber sie machte sich darüber keine weiteren Gedanken. Wenn alle Stränge reißen, dachte sie, nehme ich ein Taxi.
Den Gedanken, einen Wagen zu kaufen, wies sie von sich. Es kostete am Ende noch viel mehr Geld, und die Parkgelegenheiten waren ohnehin rar. Nein, das Radfahren bekommt mir besser.
Sie hatte noch eine knappe Woche bis zum Monatsende und beschloss, ihre Sachen so schnell wie möglich von Erlangen zu holen und dann die Wohnung einzuräumen. Den Rest ihres Urlaubes wollte sie damit verbringen. In der TANNENHOFKLINIK sagte sie Bescheid, wo man sie jetzt erreichen konnte und nahm nicht an, dass sie vor ihrem Dienstantritt noch etwas von den Leuten dort hörte.
An einem einzigen Tag brachte sie die Sache mit Erlangen hinter sich. Der Spediteur, der ihre wenigen Möbel, die sie mitnehmen wollte, aufgeladen hatte, würde am nächsten Tag damit in München sein. Sie selbst war noch am späten Abend zurück, schlief schon in ihrer neuen Wohnung, in die sie sich ein paar Sachen, die sie nicht von Erlangen bekommen würde, gekauft hatte. Unter anderem auch ein Einzelbett für die doch recht kleine Schlafkammer.
Am nächsten Tage kamen pünktlich früh um neun die Möbel. Es war nicht so viel, dass es lange gedauert hätte, sie heraufzubringen, zumal es einen Fahrstuhl gab.
Das Einräumen ging dann doch schneller als gedacht. Und am Abend beschloss sie, sich selbst mit einem Kinobesuch zu belohnen. Ihr war einfach danach einmal wegzugehen, ganz gleich wohin.
Sie war zu früh, hatte sich aber schon die Kinokarte geholt, ging in eine Eisdiele, aß einen Becher Eis, und danach war immer noch Zeit bis zum Beginn des Films. Sie schlenderte die Straße entlang, sah sich die Auslagen in den Geschäften an, und als sie sich gerade wieder umwandte, um nun doch zum Kino zu gehen, prallte sie beinah mit einem Mann zusammen.
Sie hörte eine gemurmelte Entschuldigung, und da erst erkannte sie ihn.
Es war Dr. Wieland Graf ...
Er hatte die helle Jacke über dem Arm, trug ein weißes Hemd, weiße Hosen, und da es an diesem Sommerabend noch nicht dunkel war, bemerkte sie auch den überraschten Ausdruck in seinem Gesicht.
„Herr Doktor“, sagte sie, „guten Abend. Welch ein Zufall!“
Er hatte sich schnell gefangen, begrüßte sie mit Handschlag, lächelte noch immer verwirrt und meinte dann: „Das trifft sich gut. Eigentlich sehr gut. Haben Sie irgendetwas vor?“
Jetzt geht diese Platte los, dachte sie, nickte und erklärte ihm, dass sie schon eine Karte fürs Kino habe.
„Kino ist sehr gut. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitkomme?“
Sie hätte ihm am liebsten gesagt, dass sie auf männliche Begleitung keinen Wert lege. Aber sie unterließ es. Ihn schon vor dem Antritt ihres Dienstes in der TANNENHOFKLINIK zu verärgern, hielt sie auch nicht für sehr weise. Also schwieg sie, zuckte nur die Schultern.
„Sehr begeistert sehen Sie nicht aus. Aber Sie könnten mir einen persönlichen Gefallen damit erweisen.“
Er hatte nicht sehr laut gesprochen, und sein Gesicht war dem ihren etwas näher gekommen, als er sprach.
Sie roch den Alkohol.
Er hat getrunken, dachte