Auswahlband Schicksalsroman 8 Romane in einem Buch September 2018. Cedric Balmore
Sie sah ihn nur an und sagte schnippisch: „Die Kantine ist im Souterrain. Ich bin nicht zum Kaffeekochen bei Ihnen.“
Sie erwartete eine scharfe Antwort, aber er zuckte nur die Schultern und ließ sich den Kaffee von einer Lehrschwester holen.
Danach verschärfte sich das Klima noch, abgesehen von der eigentlichen Arbeit. Als Graf merkte, dass er sie nicht provozieren konnte, ließ er sie völlig in Ruhe und beschränkte sich tatsächlich auf das, weshalb sie bei ihm war.
Es war so eine Art Waffenstillstand. Bis sie eines Tages bemerkte, dass er sein Hemd, das schon gestern bekleckert gewesen war, noch immer trug. Ihr lag eine spitze Bemerkung auf der Zunge, aber sie unterließ es. Aber zufällig hatte wohl Professor Winter das nicht ganz saubere Hemd ebenso bemerkt und schien etwas gesagt zu haben. Graf jedenfalls verschwand in der Mittagspause und kam dann am Nachmittag mit einem blütenweißen Hemd wieder.
„Das hätten sie mir auch mal sagen können, dass mein Hemd bekleckert war. Ich hatte das gar nicht gesehen“, knurrte er Doris an.
„Bin ich Ihre Mutter oder Ihre Ehefrau, dass ich auf so was achten müsste? Sie sind doch selbst alt genug. Und einen Spiegel haben Sie doch sicher auch“, erwiderte sie feindselig.
Er musterte sie überrascht. Zuckte aber wie meistens, wenn er etwas Derartiges bemerkte, nur die Schultern und wandte sich ab.
Dann lernte sie zum ersten Mal seine geschiedene Frau kennen, Linda Hüttner.
Sie kam und wollte ihren geschiedenen Mann sprechen, und als sie ihn nicht antraf, fragte sie Doris. Sie war sehr freundlich. Eine brünette hübsche Frau von mittlerer Größe, schlank, aber man sah ihr an, dass sie diese Schlankheit erkämpfen musste. Sie neigte zur Korpulenz, und Doris fragte sich, welch innere Zweikämpfe Linda Hüttner angesichts eines guten Essens mit sich ausfechten musste.
„Herr Doktor Graf ist im Augenblick nicht verfügbar. Er ist im OP, und dort wird seine Anwesenheit als Internist benötigt. Kann ich irgendetwas für Sie tun?“
Bis dahin hatte sie noch gar nicht gewusst, dass Linda Hüttner die geschiedene Frau von Dr. Graf war, zumal sie ja einen anderen Namen trug; ihren Mädchennamen, wie sich später herausstellte. Doch Linda Hüttner nahm kein Blatt vor den Mund.
„Herr Doktor Graf ist mein geschiedener Mann. Ich habe etwas Wesentliches mit ihm zu besprechen. Wann glauben Sie, dass er da ist?“
Doris blickte auf die Uhr. „Das könnte Nachmittag werden. Es ist eine sehr schwierige Geschichte. Soll ich ihm irgendetwas ausrichten, dass er sich bei Ihnen melden soll? Es wird wenig Sinn haben, wenn Sie hier warten.“
„Nein, das hat keinen Sinn“, entgegnete Linda Hüttner und sah Doris lächelnd an. „Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie ihm wirklich Bescheid sagen?“
„Sie können sich fest darauf verlassen“, bestätigte Doris. Und sie fragte sich, während sie das sagte, wie alt Linda Hüttner sein mochte. Bestimmt schon über Mitte dreißig, obgleich sie noch gut aussah und sich offenbar alle Mühe gab, Äußerlichkeiten des Älterwerdens zu bekämpfen. Ein Kampf, in dem sie früher oder später unterliegen musste. Da half auch kein Make-up. Im Gegenteil. Es beschleunigte diese äußerlichen Merkmale nur noch. Aber Doris stand es nicht zu, etwas dazu zu sagen, und Linda Hüttner unterbrach ihre Gedanken auch mit der Frage:
„Wissen Sie, ob er mittags irgendwohin essen geht? Ich könnte ihn da treffen.“
„Wie ich die Sache beurteile, Frau Hüttner“, sagte Doris, „geht es mit der Operation über ein Uhr hinaus. Vielleicht wird es sogar zwei. Und Herr Doktor Graf isst, wie ich bisher weiß, nicht außerhalb. Allerdings kenne ich seine Gewohnheiten noch nicht so sehr gut. Schließlich bin ich erst drei Wochen hier.“
„Oh. Und es gefällt Ihnen, mit ihm zu arbeiten?“, fragte Linda Hüttner und lächelte wieder erwartungsvoll.
„Es arbeitet sich sehr gut mit ihm“, behauptete Doris. Sie dachte nicht im Traum daran, dieser Frau etwas von den Spitzen zu erzählen, mit denen sie sich mitunter gegenseitig traktierten.
„Das überrascht mich. Er hält nicht viel von Frauen. Jedenfalls hat er das mir gegenüber erklärt. Dabei kann er ohne Frauen nicht leben. Ich weiß es. Niemand weiß es besser als ich.“
„Tut mir leid, Frau Hüttner, aber so weit geht mein Interesse für ihn nicht. Ich arbeite mit ihm zusammen. Und dabei bleibt es“, sagte Doris so abweisend, dass Linda daraufhin eigentlich das Gespräch hätte abbrechen müssen. Aber das war absolut nicht ihre Art. Wenn sie sich für etwas interessierte, dann bohrte sie weiter und hoffte, fündig zu werden. Eine Frau, die mit Wieland zusammenarbeitete, konnte doch nicht nur das Berufliche sehen. Es sei denn, sie war verheiratet. Und das wollte Linda Hüttner zu gern erfahren. Und sie fragte danach.
Doris schüttelte den Kopf. „Was hat das mit meiner Arbeit zu tun? Frau Hüttner, ich werde ihm Bescheid sagen, wenn ich ihn sehe. Sie können sich fest darauf verlassen. Sagen Sie mir, wo er Sie erreichen kann, und ich werde es ihm mitteilen.“
Das war deutlich genug. Aber Linda zeigte sich auch jetzt noch dickfellig.
„Wo essen Sie denn zu Mittag? Ich würde Sie sehr gern einladen.“
„Tut mir sehr leid. Aber ich habe ein festes Programm. Und was das Essen angeht, so mache ich das so nebenbei, zwischendurch. Ich weiß nicht einmal, ob ich heute in die Kantine gehe. Und außerhalb esse ich bestimmt nicht. Es sind in nächster Nähe keine Lokale. Die etwas weiter entfernten sind mir zu teuer.“
„Aber ich hätte Sie doch eingeladen. Nun kommen Sie, seien Sie kein Frosch! Wir essen zusammen.“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „In einer Stunde haben Sie doch sicher Mittag?“ Doris lächelte höflich und schüttelte den Kopf. „Tut mir sehr leid, Frau Hüttner. Ich habe keine Zeit, so lange wegzubleiben.“
„Und wenn Sie Feierabend haben?“
Was denkt sie sich?, dachte Doris. Will sie mich ausforschen über ihn? Und sie sagte: „Ich habe heute Abend etwas vor. Entschuldigen Sie. Und jetzt muss ich dringend auf die Station.“
Linda Hüttner gab es auf. Aber gerade die abweisende Art von Doris hatte in ihr einen Verdacht geweckt, der zwar völlig unbegründet war, aber da sie von sich ausging und ihre Denkweise auch anderen unterstellte, war sie überzeugt, dass Doris irgendetwas mit ihrem ehemaligen Mann hatte. Und das wollte sie erforschen. Schließlich war sie nicht hier, sich mit Wieland zu streiten, sondern um einen erneuten Versuch zu machen, dass er wieder zu ihr zurückkehrte. Sie war fest entschlossen, es diesmal zu schaffen.
Sie ging und verabschiedete sich überaus freundlich. Nach Doris’ Geschmack ein wenig zu freundlich und scheinheilig. Aber Doris vergaß Linda Hüttner sehr rasch und dachte erst wieder an sie, als Dr. Wieland Graf vom OP zurückkam. Er wirkte müde und erschöpft, und sie ertappte ihn dabei, als er aus seinem Schreibtisch eine Flasche Cognac nahm und sich ein Glas eingoss.
Ihr vorwurfsvoller Blick auf die Flasche ließ ihn grinsen. „Wollen Sie auch einen?“
„O nein. Ich bin im Dienst.“
„Ich auch. Aber ein kleiner Cognac belebt.“
„Vielleicht für einen Moment“, erwiderte sie ablehnend.
Als er sein Glas ausgetrunken hatte und die Flasche wieder in den Schrank zurückstellte, sagte sie ihm das von Linda.
Sein Grinsen verschwand schlagartig. Wütend stand er auf.
„Warum haben Sie sie nicht rausgeworfen? Ich habe keine Zeit für diese Frau. Tut mir schrecklich leid. Wenn sie eine Patientin wäre, müsste ich sie erdulden. Aber das ist nicht der Fall.“
„Ich habe Ihnen gesagt, was sie mir aufgetragen hat, und mehr gibt es darüber nicht zu sprechen. Ist sonst noch etwas, Herr Doktor?“
„Menschenskind, Schwester Doris, nun setzen Sie sich doch mal hin.“
„Ich möchte keinen Cognac.“
„Ich