Tot am Ring. Wolfgang Wiesmann

Tot am Ring - Wolfgang Wiesmann


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      3 Schlüssel

      Jens Brisinzki platzte in Kühnes Büro ohne anzuklopfen. Manieren waren nicht seine Stärke, weil er es gewohnt war, in einem offenen Großraumbüro zu arbeiten und Türen als Hindernisse betrachtete. Auch sonst war Brisinzki ein unkonventioneller Patron, der bisweilen chaotische Zustände anrichtete, wenn er Programme schrieb.

      Durch einen unerwarteten Todesfall war der führende Informatiklehrer der Schule ausgefallen und da die Abiturprüfungen ins Haus standen, hatte Kühne mit Genehmigung der Bezirksregierung einen renommierten Praktiker aus der Wirtschaft geholt. Jens Brisinzki war 1,95 m groß, 56 Jahre alt und ein Meister seines Fachs. Kühnes schlimmste Befürchtung, der Neue würde keinen Draht zu den Schülern finden, hatte sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Brisinzki hatte von vorneherein reinen Tisch gemacht. Pardon gab’s nur für Fehler. Machte einer Scheiß, wurde er vor versammelter Mannschaft angeschissen, dass die Fetzen flogen. Noch hielten sich die Eltern zurück, und Kühne war froh um jeden Tag, den das Abitur näherrückte.

      „Chef, ich brauch die Schlüssel fürs Lehrerzimmer und den Kopierraum. Die Elektriker haben sich angemeldet. Wir gehen gemeinsam den Verkabelungsplan für das neue EDV-System durch.“

      Kühne murrte, nahm die entsprechenden Schlüssel vom Brett und reichte sie weiter an Brisinzki, der sie sofort in seine Hosentasche steckte.

      „Sie wissen, dass ich Ihnen die Schlüssel nur im Vertrauen gebe. Sie sind erst neun Wochen bei uns, haben einen zeitlich befristeten Vertrag, laufen sozusagen noch auf Probe und haben nun Zugang zu allen relevanten Räumen und den dort befindlichen Daten. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass Sie sich im Rahmen der legalen Vorschriften zu bewegen haben. Überall im Lehrerzimmer finden Sie persönliche Daten von Schülern, die Sie nichts angehen. Also, ich gebe Ihnen die Schlüssel nur ausnahmsweise.“

      Brisinzki vermied einen Kommentar und trat näher an Kühne heran, als wollte er ihm ein Geheimnis verraten.

      „Sagen Sie, die Frau Beer gefällt mir gar nicht. Ich bin vorhin ins Lehrerzimmer gegangen und habe sie gegrüßt. Da kam nichts zurück, als wäre sie weggetreten. Ist ihre Art, oder?“

      „Frau Beer hat Last mit den Knien. Ich bin froh um jede Fachkraft, so kurz vorm Abi. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie hat seit Jahren Probleme mit dem Laufen. Das wird schon wieder.“

      „Im Grunde geht mich das nichts an. Ist eher Sache des Betriebsrats, aber meinen Sie nicht, dass sie ziemlich isoliert ist? An ihrem Tisch legen die Kollegen ihre Mäntel und Jacken ab, aber niemand setzt sich. Tut mir irgendwie leid, die Frau.“

      Kühne winkte ab und wandte sich der Kaffeemaschine zu. „Zäh wie Leder, unsere Frau Beer“, sagte er im Brustton der Überzeugung. „Ein Stückweit hat sie sich selbst ins Abseits buchsiert. Aber sie ist kein Opfer einer bewussten Ausgrenzung. Im Kollegium gibt es viele Anknüpfungspunkte. Frau Beer müsste lediglich einen Schritt auf die anderen zugehen.“

      „Ich könnte mit ihr reden.“

      „Das bleibt Ihnen überlassen.“

      4 F4F

      Der Club der toten Dichter hatte einen neuen Namen: F4F. Dahinter verbargen sich drei Schüler der Oberstufe, die einmal in der Woche miteinander diskutierten. Dazu trafen sie sich gelegentlich in der Schänke oder chatteten an Tagen mit viel Leistungsdruck von zu Hause aus. Bastian Lemper, Ulla Vollenbroich und Carsten Schröter standen kurz vorm Abitur. Bastian wollte später Informatik studieren und war sehr darüber verärgert, dass er mit den Aufgabenstellungen des neuen Aushilfslehrers Brisinzki Schwierigkeiten hatte. Nicht nur er beklagte sich, die meisten des Leistungskurses fanden die Übungen ‚over the top‘.

      Eigentlich standen alle Zeichen auf Lernen, aber es gab einen Ehrenkodex: Kein Verrat an der Zukunft. Die Sektion Fridays 4 Future aus Haltern bestand nur aus drei Sympathisanten, die sich von Greta Thunberg inspiriert fühlten und es nicht bei den Lippenbekenntnissen ihrer Mitschüler belassen wollten. Die Bewegung war noch jung und insofern suchten die drei nach Aktionen, um auf sich aufmerksam zu machen. Zu ihrem Leidwesen kam ihnen das Abitur in die Quere.

      An diesem Montagabend herrschte Katerstimmung, denn niemand wusste, wie es weitergehen sollte und der Ehrenkodex nicht zur Farce verkam. Ulla Vollenbroich hatte noch Zeit bis zum Termin ihrer Englisch-Klausur. Sie hatte sich bereit erklärt, das Gespräch, das heute über Videoanruf stattfinden würde, aufzuzeichnen, um später daraus ein Protokoll zu fertigen.

      F4F war mehr als ein loser Haufen von Idealisten. Sie nahmen ihre Sache ernst, fühlten sich berufen, der Gleichgültigkeit, dem Leugnen und dem Wachstumswahn den Hals umzudrehen. Politisch fühlten sie sich allein gelassen. Die Grünen waren ihnen viel zu harmlos, hohle Statisten ohne Mumm zur Entwicklung tragfähiger innovativer Konzepte. Links war nicht grün genug und Schwarz ging schleichend auf Schmusekurs mit der AfD. Die etablierten Parteien betrogen die Jugend um ihre Zukunft. Keiner sagte die Wahrheit, weil die unbequem war und ein Tempolimit einforderte, die dicken Autos von der Straße fegte und die Renten anders verteilte. Alle begingen Verrat an den Millionen junger Menschen, die auch von der Schule nicht aufgeklärt wurden, weil ein lahmarschiger Apparat von Ministerien eine zukunftsorientierte Lehre in der Schule sträflich verzögerte und die Verantwortlichen nicht an ihren eigenen Stühlen sägen würden.

      Heute fand die letzte Gesprächsrunde von F4F vor dem Abi statt. Ulla Vollenbroich hatte zu Bastian und Carsten Kontakt aufgenommen. Die Handyschaltung zwischen den dreien stand und Ulla machte den Anfang. „Jungs, ich sag euch jetzt mal was: Nach dem Abi machen wir die Transparente fertig und überzeugen die Jüngeren, freitags mit uns zum Rathausplatz zu gehen. Wir müssen Flagge zeigen und rausgehen. Ich will mir nicht vorwerfen, zu lange gewartet zu haben. Wer ist dabei?“

      „Lass uns damit warten“, meinte Carsten. „Ich bin dafür, das Thema vom letzten Mal erst zu Ende zu diskutieren. Grundsätzlich bin ich aber dabei.“

      „Seh ich wie du“, schaltete sich Bastian ein. „Ich muss jetzt erst mal Frust loswerden. Der Brisinzki raubt mir den letzten Nerv. Bevor der kam, war ich mir sicher, dass ich es schaffen würde. Der macht ’ne Informatik, die über meinen Kopf geht, statt hinein.“

      Ulla wollte zum Thema kommen, denn es war die letzte Diskussionsrunde vor dem Abi und wer wusste schon, was danach kam?

      „Okay. Stand der Dinge: In fünf Jahren stehen wir im Berufsstress und zwar nicht nur wegen des Klimawandels, sondern vor allem wegen der alten Leute, die wir durchbringen müssen. Die 2:1-Quote kommt. Zwei Verdiener – ein Rentner. Die Alten werden immer älter und wir immer weniger. Betriebe suchen heute schon händeringend nach Nachwuchskräften. Kommen die alle aus dem Ausland, kommt die AfD eines Tages an die Regierung. Dann ist die schleichende Revolution Richtung Braun kaum mehr zu bremsen.“

      „Haltet mich nicht für ein bizarres Arschloch“, meinte Carsten, „aber die Alten mit ihren Rollatoren machen mir Angst. Wenn ich mir vorstelle, dass immer mehr davon in den Straßen herumfahren und die immer älter werden, die Altersheime überfüllt sind und der Staat die Pflege nicht mehr bezahlen kann, dann wird mir schummrig. Ich meine, ich hab selbst ’ne Oma, aber die ist fit, hilft mit 86 bei der Tafel. Angst hab ich deswegen, weil ich keinen Bock habe, für die alten Leute zu schuften. Ich meine ein Recht auf ein Leben zu haben, das mich zwar der Familie gegenüber verpflichtet, aber nicht über Gebühr auch für andere Alte in Anspruch nimmt. Ich will studieren, arbeiten und eine Familie gründen. Dann zahl ich 20, 30 Jahre für meine eigenen Kinder und gleichzeitig für die Alten, bis ich selber alt bin. Wo bleibt da die Aussicht auf eine Lebensphase, in der ich mal nur für mich arbeite und mir etwas gönnen kann?“

      „Das hast du aber schön gesagt“, kommentierte Bastian. „Mir kommen die Tränen. Wenn du alt bist, benutzt du dann keinen Rollator, obwohl du einen brauchst?“

      „Klar, aber ich muss keine Rente von 4.000 € netto haben, weil ich 35 Jahre Beamter war und mir eh der Arsch von allen Seiten abgeputzt wurde. Ich seh die Rentner vor mir, die morgens Sekt schlürfen, acht Wochen Ibiza und vier Wochen Camarque mit Superwohnmobil, finanziert von Carsten Schröter, der Kinder in die Welt gesetzt hat, während Rentner


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