Tot am Ring. Wolfgang Wiesmann
Ingenieur von Beruf. Fachlich traute man ihm die Aufgabe zu, doch seine ersten Versuche, allein vor der Klasse zu unterrichten, waren kläglich gescheitert. Die Schüler hatten sehr schnell ihre Neugier befriedigt und schon in der ersten Stunde hatte der 10e-Mathe-EK zum Ende hin jegliche Anweisung ignoriert. Winter konnte sich nicht durchsetzen und Lesche hatte keine Lust, wegen der Misswirtschaft des Bildungsministeriums die heißen Kastanien aus dem Feuer zu holen. Der Lehrermangel ging auf dösige, dafür hochbezahlte Ministerialdirigenten der Landesregierung zurück. Die hatten gepennt, ausbaden mussten es die Schüler.
Lesche machte gerade seinem anvertrauten Laienkollegen klar, dass er ihn nicht länger an die Hand nehmen konnte. Winter stand mit dem Rücken zur Wand, denn nach seinem Studium hatte er zwei Jahre versucht bei Thyssen-Krupp Fuß zu fassen, war aber wegen schwacher Teamfähigkeit und mangels Input ins Abseits geraten.
Lesche war 55 Jahre alt und seit 25 Jahren an der Albert-Schweitzer-Gesamtschule, kurz ASGS genannt, tätig. Er hatte Inge Beers Einstand mitgefeiert und war seitdem immer loyal zu ihr gewesen. Zwar hatte er ihren Niedergang bemerkt, aber Inge für so stark gehalten, dass sie mit den Höhen und Tiefen des Lebens fertig würde. Paul Winter hielt er für eine ausgemachte Niete. Verglichen mit Inge war Winter ein didaktischer Bruchpilot. Er hatte bisher jede Stunde in den Sand gesetzt, sodass dem EK 10e der Anschluss zu verlieren drohte. Er musste unbedingt mit Kühne reden. So ging das nicht weiter.
Wenn man vom Teufel sprach, dachte Lesche, als Kühne das Lehrerzimmer betrat und händeklatschend um Aufmerksamkeit bat.
„Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte setzen Sie sich einen Moment. Wir haben einen schweren Verlust zu beklagen. Wie Sie bemerkt haben, ist der Platz von Frau Beer heute Mittag nicht besetzt. Ich bedauere sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere verehrte Kollegin unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Die Kriminalpolizei war im Hause, um den Fall zu untersuchen. Augenscheinlich handelt es sich um einen Selbstmord, aber man denkt bei der Kripo auch über einen Mord nach. In Kürze wird man mich über die neusten Ergebnisse der Ermittlungen informieren. Ich werde Sie umgehend davon in Kenntnis setzen. In dieser schweren Stunde möchte ich Sie bitten, den Schülern gegenüber zunächst Stillschweigen zu bewahren. Warten wir erst die polizeiliche Untersuchung ab. In der Zwischenzeit denken Sie bitte darüber nach, wie Sie in Ihren Klassen die Schüler mit der tragischen Nachricht vertraut machen wollen.“
11 Bedauern
Mord fanden die meisten Kollegen unvorstellbar. Wer sollte Inge Beer umbringen und warum? Sie war eher eine tragische Figur, die sich aus Verzweiflung oder Depression das Leben genommen hatte. Man war sich an den Lehrertischen schnell einig, dass es erkennbare Gründe gab, warum Inge mit dem Leben Schluss gemacht hatte. Chronische Schmerzen in den Knien, ständig Schmerzmittel nehmen und erst die Nebenwirkungen. Der Rollator war in den Augen vieler eine unerträgliche Demütigung gewesen, die sich die meisten nicht angetan hätten, lieber wären sie früher dienstunfähig in den Ruhestand getreten. Inge hatte es nicht leicht, darüber waren sich alle einig. Wahrscheinlich hatte sie auch Herzprobleme bei dem Übergewicht und dem Stress, und dass sie Wasser in den Beinen hatte, konnte man sehen. Jemand öffnete die Tür zu Inges Spint und warf einen Blick hinein. Ein Kollege rief, nichts anzurühren, bis die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen hatte. Plötzlich stand doch das Thema Mord im Raum. Außer Brisinzki wiegelten alle diese Möglichkeit mit skeptischen Gesichtern ab.
Jeder der Kollegen hatte Brisinzki näher kennengelernt, denn er verantwortete die Installation der neuen EDV-Anlage. Die Albert-Schweitzer-Gesamtschule war Teil eines Pilotprojektes des Bildungsministeriums. Auf lange Sicht sollte jeder Lehrer in NRW Zugang zu einem internen Programm haben, auf dem alle schulrelevanten Daten erfasst und verschickt werden konnten. Brisinzki war an der Entwicklung der Anlage beteiligt, die seit Tagen an der ASGS in Haltern erprobt wurde. Dazu wurde jeder Kollege von ihm persönlich in die Materie eingeführt. Er hatte aus diesem Grund gestern Nachmittag kurz mit Inge gesprochen. Brisinzki kannte keine Berührungsängste, duzte alle gern und war unter den Kollegen geschätzt, weil er ein starkes Charisma hatte, das auch bei den Schülern Respekt einforderte. Er bat um Gehör.
„Ihr solltet wissen, dass ich gestern mit Inge gesprochen habe. Sie wirkte die letzten Tage depressiv auf mich, war aber gestern guter Dinge. Erzählte mir von den Tagen, als es kaum Computer und Handys in der Schule gab. Ein Kopiergerät für alle Lehrer wäre damals als besondere Errungenschaft vorgestellt worden. Sie lächelte, als sie ihren Frust über die neuen Medien zum Ausdruck brachte. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass sie es zwar ernst meinte, aber in ihrem Ton eine unbekümmerte Gleichgültigkeit mitschwang. Wenn Inge mit ihrem Wägelchen über den Flur dackelte, habe ich sie bewundert. Eine Walküre auf dem Weg in die Schlacht. Jetzt denke ich anders über unser Gespräch von gestern. Sie war bereits entschlossen, sich das Leben zu nehmen und hatte einen konkreten Plan. Für mich bleibt die Frage, ob wir alle es hätten früher sehen und verhindern können.“
Betretenes Schweigen. Zum Glück betrat Kühne den Raum und brach die Totenstille.
„Die Kripo ist auf dem Weg zu uns. Es gab bei der pathologischen Untersuchung einen Befund, der darauf hinweist, dass es sich tatsächlich um einen Mord handeln könnte. Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir warten ab, bis ich mit den Kommissaren Amber und Mörris gesprochen habe. In Kürze wissen Sie, was offiziell als Todesursache verlautbar gemacht werden darf.“
Kühne verzog sich in sein Büro und die Kollegen im Lehrerzimmer atmeten kurz auf, denn Mord würde sie moralisch entlasten. Niemand wollte sich schuldig am Selbstmord von Inge Beer fühlen. Sie war doch am Ende die Moralinstanz gewesen und hatte alle damit genervt. Warum hatte sie sich nicht durchgesetzt? Offenbar hatte sie nicht die richtigen Argumente und vielleicht war auch ihr Äußeres einfach nicht von Vorteil. Sie hatte ihre Klassen nicht besser im Griff als andere, wusste aber besser, was andere tun sollten. ‚Zum Wohle des Kindes‘ hatte sie vorgeschoben, dabei hatte sie selbst keine Kinder. Ihre Ehe mit Pastor Beer färbte ab auf ihre moralischen Ansprüche: Korrekte Sprache, ordentliches Verhalten, saubere Kleidung, Erledigung der Hausaufgaben, Klassenzusammenhalt und so weiter wurden im Licht religiöser Grundsätze gedeutet, was keinen interessierte. Weder Kollegen noch Schüler hatten verstanden, dass Beer den moralischen Verfall der neuen Zeit aufhalten wollte, einen Verfall, den man entweder in Kauf nahm oder nicht bemerkte. Sich aktiv dagegen aufzulehnen tat niemand.
Brisinzki wäre auf Inges Seite gewesen, aber nun war sie tot. Man konnte ihm die Verärgerung über seine eigene Passivität anmerken. Kopfschüttelnd ging er zu seinem Tisch, wo die Verkabelungspläne lagen, faltete sie und steckte sie ein. Am Nebentisch hörte er, wie der Quereinsteiger Paul Winter im Gespräch mit Ralf Lesche war. Es ging um seine bevorstehende Physikstunde in der 7b. Winter jammerte über den Lärmpegel in seiner Klasse und dass am Ende kaum jemand sein Tafelbild ins Heft übertrug.
„Ralf, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich kriege die nicht ruhig. Nur ein Beispiel: Corinna quatscht mit Fotini. Ich sage: ‚Würdet ihr bitte aufhören, ich möchte gerne mit dem Unterrichtsstoff fortfahren.‘ Die beiden tun so, als hätten sie mich nicht gehört. Ich wiederhole mich und sehe, dass Lara und Benny sich zanken, weil Benny ihr das Heft weggenommen und es durch die Klasse geschmissen hat. Ich ermahne Benny und bitte Lara, sich das Heft wiederzuholen. Sie ist bockig und meckert mich an, dass Benny es ihr wiedergeben soll. Corinna und Fotini reden immer noch miteinander und andere quasseln auch. Ich fordere dann die ganze Klasse auf: ‚Bitte seid endlich ruhig. Wir kommen sonst mit dem Stoff nicht durch.‘ Keiner stört sich dran. Im Gegenteil, es wird lauter statt leiser.“
Ralf Lesche hatte diese Probleme nicht, dennoch lag es ihm fern, Winter zu helfen. „Das ist eine Sache der Persönlichkeit“, sagte er abwiegelnd, denn es verging fast keine Pause, in der Winter nicht seinen Müll über irgendeine Klasse vor ihm ausschüttete.
Für Brisinzki war Winter ein Jammerlappen, denn es war nicht das erste Mal, dass er sein Klagelied mitbekam. Es wurde Zeit, dass er sich einmischte.
„Warum sind die Wort ‚Ja‘ und ‚Nein‘ einsilbig?“
Winter schaute ihn entgeistert an. Wollte der Kollege ihn verarschen?
„Was soll das? Keine Ahnung.“
„Deutsch,