Tot am Ring. Wolfgang Wiesmann
statuierte Bastian. „Was machen wir mit den Alten? Wir könnten plädieren, dass sie länger gesund bleiben oder länger arbeiten.“
„Was würdest du tun, wenn du alt bist?“
„Länger arbeiten fänd ich gut, aber zu anderen Bedingungen. Leichtere Arbeit, weniger Zeit. Angepasst ans Alter eben.“
„Und wenn du krank wirst, dement, Parkinson? Leute mit Alzheimer sind am Ende völlig Banane im Kopf, können aber noch lange leben.“
„Weiß nicht“, gab Bastian zu. „Schicksal. Andererseits wissen diejenigen, dass sie Alzheimer haben, wenn sie noch normal sind. Bei dem Krankheitsverlauf, der sie erwartet, könnten sie sich rechtzeitig vom Leben verabschieden. Ich meine bewusst aus dem Leben scheiden, so wie unheilbare Krebskranke es manchmal machen.“
„Würdet ihr einem Menschen helfen, aus dem Leben zu scheiden?“, fragte Ulla.
„Ich schon“, meinte Carsten. „Ich würde aber nicht körperlich eingreifen, also jemanden von der Klippe schubsen oder einen Föhn in die Badewanne werfen. Das grenzt an Mord. Da hätte ich Angst vor einer Verurteilung. Passiv, meine ich.“
Die Antwort reichte Ulla nicht. „Und du, Bastian, würdest du später die kleine weiße Pille nehmen?“
„Kommt drauf an. Mein Uropa ist geistig völlig auf der Höhe. Er wird 95. Da sehe ich keinen Grund. Ich würde in dem Alter leben wollen, weil ich noch teilnehmen kann am Familienleben. Und wenn der sich über Anne Will aufregt, weil die mal wieder bescheuert moderiert hat, dann spielt das Alter wirklich keine Rolle. Außerdem steckt er mir ab und an einen Hunderter zu.“
Ulla gab sich immer noch nicht zufrieden. „Wann würdest du die Pille nehmen?“
„Ich möchte nicht so tun, als würde ich es schaffen. Denn in jedem Fall bist du bei klarem Verstand, in dem Moment der Einnahme. Es schnürt sich gerade meine Brust zu und mein Herz möchte zerspringen, wenn ich daran denke. Es gehört verdammt viel Mut dazu. Aber wenn du älter bist, ist der Tod kein Schreckgespenst mehr. Mein Uropa sagt, dass er keine Angst vor dem Tod hat und er sich wünscht, eines morgens nicht mehr aufzuwachen.“
Ulla lächelte. „Basti, wann?“
„Ich würde die Pille nehmen, wenn ich ganz allein wäre, von allen verlassen und keine Hoffnung mehr hätte. Wenn ich wüsste, niemandem mehr etwas zu bedeuten. Wenn mein Ich auf einen unscheinbaren Punkt geschrumpft ist und das Leben so weh tut, dass der Tod zur einzigen Erlösung wird, zur Befreiung von meiner Depression.“
Bastian wandte sich ab, sodass er für Momente nicht zu sehen war.
„Entschuldigt, ich war kurz irritiert“, sagte er und kehrte lächelnd ins Bild zurück.
Ulla schaute bewegungslos auf ihr Handy und wartete. Als niemand etwas sagte, brach sie das Schweigen.
„Du bist depressiv?“
Bastians Versuche, seine Verlegenheit zu überspielen, waren offensichtlich. Sein Gesichtsausdruck passte nicht zu dem, was er sagte.
„Ja, weil ich wegen dem Brisinzki meine Informatikklausur vergeige.“
Anders als Ulla hatte Carsten die feinen Untertöne des Gesprächs nicht aufgeschnappt und schlug den Bogen wieder zum Ausgangsthema. Bastian brach das Gespräch ab und begründete das mit Lernen für die Klausur. Ulla und Carsten mussten auch lernen. F4F würde erst nach den Klausuren wieder aktiv werden. Ulla sicherte die Aufnahmen des Gesprächs auf ihrem Handy und verschob das Schreiben des Protokolls auf einen späteren Zeitpunkt.
5 Warten
Inge Beer hatte alles vorbereitet. Ihr Mann, Pastor Beer, war auf einem Seelsorger-Seminar und blieb über Nacht. Ihr Abschiedsbrief lag gefaltet in einem Couvert, das sie in ihre Jackentasche steckte. Den Schlüsselbund für die Turnhalle hatte sie tags zuvor aus dem Lehrerzimmer mitgenommen. Sie parkte seitlich an der Halle. Es war etwa 22 Uhr, als sie die Eingangstür aufschloss und weitere Türen aufstieß, bis sie die zur eigentlichen Halle öffnete.
Es war plötzlich alles so schnell gegangen, dass sie nicht recht glauben wollte, jetzt schon am Ort ihres Todes angekommen zu sein. Ihr Plan hatte eine überraschende Wende erfahren, die sie nicht verstreichen lassen wollte. Der Zufall war ihr immer noch unheimlich, aber war er nicht auch als Weisung zu verstehen? Hatte Gott doch seine Hand im Spiel? Ihr Mann vertrat Gott auf Erden und vielleicht hatte der Herr einen Blick auf sie geworfen und Erbarmen walten lassen. Schöner hätte sie sich ihren Selbstmord nicht vorstellen können. Es war ihr gar eine Ehre, wie es nun geplant war.
Inge Beer stand in der Mitte der Halle, schaute hoch zu den hölzernen Ringen und suchte sich ein Paar aus. Sie verfolgte den Verlauf der Seile, die an der Wand festgeknotet waren. Es durchfuhr sie wie ein Schock, als sie realisierte, dass sie nicht an das Seil gedacht hatte, an dem sie hängen würde. Sie beruhigte sich. Das Problem würde sich lösen lassen, sagte sie sich gelassen und wartete.
Seltsame Gedanken kreuzten auf, als wären es nicht ihre eigenen. Ihre Knie schmerzten vom Stehen, doch der Schmerz war erhaben, tat nicht wirklich weh. Ihre Sinne wanderten wahllos durch ihr vergangenes Leben, das schon getrennt von ihr war, so fühlte es sich an.
Der Selbstmord geht am Rand der Existenz spazieren, als Begleiter in der Not, auf Abruf, verbündet mit dem Tod. Das Hintertürchen für alle Fälle, wenn das Ich sich weit draußen immer kleiner sieht, entfernt von Kindheit, Glauben, Trost, steht immer offen. Fragt sich nur, woher der Mut die Kraft gewinnt, das Leben auszulöschen. Der Plan setzt Mut voraus. Ihn umzusetzen ist kein Kinderspiel. Andererseits, in diesem Mut steckt Leben, das die Kraft zum Weitermachen kennt. Inge überlegte kurz, aber ihr Plan besaß brutale Entgültigkeit.
Wer hätte gedacht, dass sich ausgerechnet Inge Beer das Leben nehmen würde? Das Ich lebte von der Bedeutung für den anderen. Der Sinn des Lebens war der andere. Das Ich stirbt, wenn es alleine ist. Inge Beer, sie war allein inmitten all der Schüler und Kollegen, der Familie und des Mannes, der Gemeinde. Verlassen von Gott und allen Hoffnungen.
Seit Tagen trug Inge ein Abzeichen aus Plastik um ihren Hals. Das Anhängsel wurde zu ihrer Schulzeit jedem Schüler im Fach Sport verliehen, auch denen, die sehr schlecht waren. Sie war schlecht, weil sie zu dick war. Gerne wäre sie magersüchtig gewesen, aber leider hatte sie Adipositas und Schuld daran war niemand. Und Gott? Er war eben auch nicht perfekt. Er hatte das Universum geschaffen. Dessen Symmetrien und Strings funktionierten, aber nicht immer. Das sagte die Wahrscheinlichkeitstheorie. Mal Welle, mal Teilchen. Inge war Teilchen und sollte eigentliche eine Welle sein. Gott hatte nicht versagt, wenn das Schicksal grausam war. Gott hatte die Perfektion nicht zum Ziel, denn dann wäre die Welt fertig und alles würde stagnieren. Ein Leben, das stagnierte, war kein Leben. Was sollte Gott also machen? Er stellte Welle oder Teilchen zur Verfügung und Inge wurde als eines davon geboren. Eine Wahl hatte sie nicht. Ihr Vater aber verstand das nicht, denn er wollte, dass Inge kein Teilchen, sondern eine Welle war.
Der Dualismus war im eigentlichen Sinne die Krönung der Schöpfung, wurde aber nur wenig beachtet, denn dann wäre Gott auch dual, zum Beispiel im Sinne von Herrgott und Fraugott. Inge Beer hatte das Leben erkannt und beschritt einen Weg, der sie die Geheimnisse Gottes lehrte. Sie war ihm sozusagen auf die Schliche gekommen und fürchtete sich weder vor Gott noch vor dem Tod. Als sie zur Turnhalle I aufgebrochen war, hatte sie nichts im Gepäck als eine frohe Erwartung. Technisch gesehen war Inge ein Stümper. Umso erfreuter war sie nun, dass sie es geschafft hatte, eine Begleitung für ihren Selbstmord gefunden zu haben.
6 Überstunden
Um 23:41 Uhr erhielt Bastian Lemper eine Nachricht auf seinem Handy. Darin stand eine Aufgabe zum Thema Informatik. Der Absender blieb anonym. Bastian druckte die Nachricht aus, holte sich ein Glas Milch und begann mit der Lösung.
7 Der Fall
Hausmeister Klaus Uckermann wunderte sich, als er morgens um sechs Uhr die Turnhalle I aufschließen wollte, dass die Tür bereits offen war. Zwei Aushilfskräfte und er waren angetreten, um Tische und Stühle für die Informatik