Tot am Ring. Wolfgang Wiesmann
Übermüdet
Bastian Lemper ließ sein Fahrrad in die Büsche gleiten, las an Halle I das Schild mit der Aufschrift: Informatik Halle II und begab sich an seinen Platz. Nach dem üblichen Protokoll wurden die Abiturfragen zum Fach Informatik ausgehändigt und auf ein Zeichen durfte der Umschlag geöffnet werden, um mit der Beantwortung zu beginnen.
Bastian Lemper war als Erster fertig. Er schaute sich um und stellte sich die Frage, ob er etwas Illegales getan hatte. Er hatte nicht betrogen, sondern getan, was von ihm verlangt wurde. Mistrauisch stimmte ihn allerdings, warum die anderen so lange brauchten. Ihnen war die Aufgabe also neu und er war der Priviligierte. Immerhin bestand nach wie vor das Risiko, dass seine Lösung falsch war. Sein Handy zeigte 12:14 Uhr. Langsam glitt sein Kopf auf seinen Unterarm. Nicht lange, und er war eingeschlafen.
9 Kastentheorie
Von Kühne erfuhren Fey und Mörris einen Abriss über Inge Beers Lebenslauf. Aufgrund der unklaren Todesumstände wollten sie die Fragen nicht vertiefen, sondern erst die Experten der KTU und der Rechtsmedizin urteilen lassen. Harry und sein Team waren in der Halle beschäftigt, als Fey und Mörris eintrafen. Inge Beers Leiche lag auf einer Folie auf dem Boden. Ein Kollege schabte einige Partikel unter den Fingernägeln der Leiche ab und versiegelte sie in einer Plastiktüte. Die Pathologin Dr. Degenhardt rauschte herbei, doch statt mit der Arbeit zu beginnen, fuhr sie Fey an.
„Ein Selbstmord und Sie rufen mich! Meine Zuständigkeit deckt das ganze Münsterland ab. Als hätte ich nichts anderes zu tun. Es wäre nun ratsam, mich davon zu überzeugen, dass ich hier gebraucht werde.“
Fey kannte Degenhardts aufbrausenden Charakter. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass sie ein herzensguter Mensch war, wäre ihr vielleicht auch der Kragen geplatzt.
„Die Umstände haben uns alarmiert. In Anbetracht der Korpulenz des Opfers sehen wir bei der Rekonstruktion des Tathergangs Probleme. Sollten Sie zu dem eindeutigen Ergebnis kommen, dass das Opfer hier starb und außer der Wunden von der Stragulation keine anderen körperlichen Merkmale auftauchen, wären wir ein Stück näher dran, den Selbstmord als erwiesen zu betrachten.“
„Dann wollen wir mal zur Tat schreiten.“
Degenhardt nahm dem Opfer den Strick vom Hals, entknotete und untersuchte ihn.
„Ein Springseil, wenn mich nicht alles täuscht. Gute Qualität. Hätte nicht gedacht, dass die so strapazierfähig sind. Außerdem trägt das Opfer eine Kette mit einem für meine Begriffe billigen Plastikanhänger.“
Sie untersuchte die Leiche an leicht zugänglichen Stellen und stellte die Kerntemperatur fest, während Harry und sein Team Fingerabdrücke sicherten, Blut entnahmen, den Tatort fotografierten und Inge Beers Auto, das vor der Halle stand, nach Auffälligkeiten überprüften. Degenhardt kam zu dem Schluss, dass ein Fremdverschulden auszuschließen sei. Keine Kampf-oder Abwehrspuren. Den Todeszeitpunkt legte sie auf 23:00 Uhr des Vortages fest.
„Frau Beer verlor ihr Leben durch den Strang. So sieht es aus. Aber ich gebe zu, dass mich die Umstände auch kritisch stimmen. Warum wählte sie ausgerechnet diesen Weg? Das Aufstellen der Böcke und das Abmessen der Seile ist ein aufwendiges Unterfangen. Aber wer weiß. Sie nahm sich Zeit und plante jeden Schritt einzeln durch. Sicherheitshalber möchte ich aber noch eruieren, ob sie unter Drogen stand. Es wäre auch nicht schlecht, ihren Hausarzt nach der Krankenakte zu fragen. Also packt die Leiche ein und ab zu mir ins Labor.“
Harry wartete, bis Degenhardt verschwunden war, und schlug eine gespielte Rekonstruktion des Tathergangs vor. Er rief Fey und Mörris zu sich.
„Kommt mal zu mir. Links steht der niedrige Kasten, rechts davon stößt er an den höheren. Die beiden Ringe hängen im Lot und sind etwa zwei Meter vom rechten Kasten entfernt. Frau Beer greift nach den Ringen.“
„Warum machst du nicht weiter?“, fragte Fey.
„Das Opfer ist 166 cm groß und mit ausgestrecktem Arm …“
Harry ging zur Leiche, nahm den rechten Arm und legte ihn trotz einsetzender Leichenstarre seitlich nach oben und maß die maximale Greifhöhe. Er zeigte Fey das Maßband.
„198 cm.“
Er stellte die Höhe der Ringe fest und sagte laut: „234 cm.“
„Frau Beer konnte nicht ohne Hilfe die Ringe packen“, folgerte Mörris, überlegte einen Moment und nahm das Springseil, stellte sich unter die Ringe und warf ein Ende des Springseils durch den Ring. Es war nun ein Leichtes, eine Schlaufe zu binden und die Ringe rüber zu den Kästen zu ziehen. Er stieg hinauf, betont schwerfällig, wie Inge Beer es gemacht hätte, und stand auf dem hohen Kasten. Er band eine Schlinge, knotete das Seil an die Ringe und steckte den Kopf hindurch.
„Danke. Das reicht“, rief Fey. „Suicide possible.“
Harry nahm Feys Wertung zum Anlass, mit seinen Leuten die Sachen zu packen. Fey und Mörris standen dabei, als zwei Männer von der KTU die Leiche in einen tragbaren Aluminiumbehälter verfrachteten, nicht ohne dabei mächtig zu stöhnen.
„War’s das?“, fragte Fey. „Sag mir, dass wir etwas übersehen.“
„Wir übersehen etwas.“
„Das meine ich auch. Beer benutzte einen Rollator. Warum nicht in der Halle? Kühne sprach von chronischen Knieschmerzen. Wollte sie lieber in Würde ihren Tod vorbereiten?“
„Eitelkeit in letzter Minute? Das glaube ich nicht“, urteilte Mörris.
„Vielleicht hatte sie sich mit Schmerzmitteln vollgepumpt. Wir blasen ab. Von den Fingerabdrücken erhoffe ich mir keine Neuigkeiten. Wenn Degenhardt nichts weiter findet, wird sie Selbstmord auf den Totenschein schreiben. Kommst du?“
10 Der leere Stuhl
Kühne saß vor seinem Espresso und mochte ihn nicht anrühren. Das Lehrerzimmer würde sich zur großen Mittagspause gefüllt haben und ihm stand der schwere Gang zu seinen Kollegen bevor. Sollte er von Schuld sprechen? Es würde nachdenklich machen. Aber wäre das gut? Auch er würde Federn lassen müssen. Nachher war man immer schlauer, aber wer hätte das vorhersehen können? Beer war immer eine starke Persönlichkeit gewesen. Den Vorfall ein tragisches Schicksal zu nennen, würde den Nerv des Kollegiums am besten treffen. Es war ohnehin vorbei. Inge Beer war tot. Sie hatte ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Aber wie wandte er die Aufmerksamkeit weg von der Schule? Er durfte nicht den geringsten Zweifel an der Integrität des Kollegiums aufkommen lassen. ‚Inge Beer, eine kompetente Pädagogin, mit dem Herz am rechten Fleck, wurde aus der Mitte des Kollegiums gerissen.‘ So oder so ähnlich müsste er es darstellen. Er kannte niemanden, der Inge wirklich eine Träne nachweinen würde, aber das war eine Wahrheit, die nicht zu einer Trauerfeier passte. Schüler wie Eltern würden hören wollen, dass die Kollegin Beer eine echte Bereicherung für die Schule und die Kollegen war und ihre fachspezifischen Akzente die tadellose Außenwirkung der Schule nachhaltig mitgestaltet hatten.
Kühne erhob sich. Offensichtlich wusste er plötzlich, wie er die Situation zum Guten wenden würde. Erstens musste er Kontakt mit der Kommissarin Amber aufnehmen. Zweitens gab der Todesfall ihm die fantastische Gelegenheit, die Albert-Schweitzer-Gesamtschule in ein vorbildliches Licht zu rücken. Es war alles eine Frage der Rhetorik. Den Abiturienten würde er Möglichkeiten einräumen, damit sie ihre Gefühle und ihre Betroffenheit kanalisieren konnten und kein Lernstau aufkam.
Er trank seinen Espresso und rief Fey Amber an. Sie war nach Münster zurückgekehrt und befand sich gerade auf dem Weg in die Pathologie. Degenhardt würde nicht lange brauchen, um zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen und das hätte sie gerne gewusst. Sie vertröstete Kühne für eine oder zwei Stunden.
Im Lehrerzimmer herrschte aufgeregte Geschwätzigkeit. Jemand hatte den Abtransport der Bahre mit dem Aluminiumdeckel gesehen und nun suchte man nach Erklärungen. Zwei Personen waren allerdings in ein Zwiegespräch vertieft, das nichts mit dem allgemeinen Rätselraten zu tun hatte. Paul Winter war ebenfalls wie Jens Brisinzki aus der Wirtschaft abgeworben worden, um an der Schule Physik und