Das Geheimnis des wahren Evangeliums - Band 1. Johanne T. G. Joan
Evangelium der Essener: „Fragmente aus dem Essener Evangelium des Johannes“, S. 126.
15. Kapitel
Während das Christentum die höhere Gerechtigkeit und die Rettung der Seele durch die symbolische Taufe Johannes des Täufers und durch den Glauben an das Opfer Jesu am Kreuz für die Sünde lehrt, konnte Gilberto nicht hinnehmen, dass ein Tyrann, ein Mörder oder ein Mensch, der im Laufe seines Leben das Leben vieler Menschen zerstört hatte, einfach so auf seinem Sterbebett die Vergebung seiner sämtlichen Untaten und die Rettung seiner Seele erfährt, wenn er vor dem letzten Atemzug seine Sünde bekennt, sich taufen lässt und das Zauberwort ausspricht: „Ich glaube an Jesus Christus“.
Das war für ihn keine Gerechtigkeit, denn auf dem Sterbebett kann nahezu jedermann zu diesem Entschluss bewegt werden. Er war vielmehr der Meinung, dass ein Mensch, ob er an Jesus Christus glaubt oder nicht, irgendwann, wie auch immer, sich vor einem höheren Gericht für seine Taten zu verantworten hat und das Leid, das er einem anderen angetan hat in irgendeiner Form selbst erleiden wird. Es gab viele Berichte von Menschen, die „gestorben“ waren und wieder reanimiert wurden, viele von ihnen berichteten von einem Licht, das sie als Gott identifizierten, das zu ihnen sprach und ihnen einer Art „Revue“ ihres Lebens vorführte. Sie sahen all die Dinge, die sie falsch und richtig getan hatten. Keine dieser Personen konnte das Offensichtliche über ihre Taten leugnen, denn die Bilder ihres Lebens liefen wie ein Film vor ihren Augen ab.
Mit dem Satz aus der Bibel: „Wenn man dich auf die rechte Wange schlägt, dann halte die Linke hin“, fordert Jesus aus dem Kanon seinen Anhänger auf, sich alles ohne Widerstand gefallen zu lassen. Gilberto war sich sicher, dass diese Worte, die Jesus laut des Neuen Testaments ausgesprochen haben soll, eine tiefe Erkenntnis darstellten, doch in dem Kontext der Bibel eingebettet, ging die Weisheit, die darin steckte, verloren. Ein Mensch, der nicht eine höhere Bewusstseinsstufe erreicht hat, kann nicht die linke Wange hinhalten, wenn man ihm auf die rechte Wange schlägt und da lag der Hund begraben. Tut er es dennoch, dann ist dieser vermeintliche Altruismus nichts anderes als eine aufgesetzte Maske, die nichts wert ist, denn am liebsten hätte das Opfer dem Angreifer auch eine verpasst. Desgleichen verhält es sich mit allen Geboten, die Jesus aus der Bibel seinen Anhänger auferlegt und die uns viel zu schwer erscheinen.
Ein höheres Bewusstsein sollte der Mensch erreichen und das schien uns die Bibel zu verschweigen – ein Bewusstsein, das ihm die Reife verleiht nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn zu besolden, sondern die Vergeltungskette zu unterbrechen, ein Verhalten, das auf der ungeheuchelten Liebe gründet und das den Schlüssel zum wahren Weltfrieden bedeutet.
Dies war Gilbertos fester Glaube.
16. Kapitel
Die Wochen und Monate vergingen, noch hatte Carlucci niemandem über seine Entdeckung gesprochen. Die Hinweise mit auf eine Verschwörung bereits im Frühchristentum wurden während dessen derart erdrückend, dass er eine Schutzmauer um sich errichtet hatte, um die Erkenntnisse, die er nach und nach tätigte und die stets zu dem gleichen Schluss führten, überhaupt verkraften und die Aufgabe, die sich ihm stellte, ausführen zu können. Zu seinem Schutz hatte es sich allmählich ein geistiges Vakuum erschaffen, das ihm erlaubte, sich selbst als sein eigener unbeteiligter Zuschauer zu betrachten. Er stellte mittlerweile nicht mehr die Frage nach Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Lüge – das alles bekümmerte ihn nicht mehr. Er suchte wie ein Wissenschaftler, der eine Formel sucht. Wertung und Urteil, Emotionen, Frustrationen hatte er verbannt, er funktionierte nur noch. Wie ein Roboter, der weder Schmerz noch Freude verspürt, gleich einer Maschine, die zur Lösung einer bestimmten Aufgabe programmiert ist und zur Kenntnis nimmt, abwägt, sortiert, ordnet, zusammenzählt, verwirft und neu rekonstruiert und sonst alle ihm erteilten Befehle ohne Wenn und Aber ausführt.
Mittlerweile war es ihm egal, wie die Wahrheit letztendlich aussehen würde; ob die Juden wirklich an allem die Schuld trugen, ob die Person Jesus wirklich der Sohn Gottes war, der für seine Sünde gestorben war; ob Paulus überhaupt existiert hatte. Ihn interessierte nur die Schlussformel, die sich aus der Rechenaufgabe mit einer Menge „Unbekannten“ ergeben und zur Lösung des Rätsels führen würde, allein das war von Belang.
Die laufende Bestätigung seiner Vermutungen war der Treibstoff, der die „Maschine“ anfeuerte. Immer wieder kam er an einen Punkt, an dem er erkennen musste, dass „der Sieger die Geschichte macht“. Wie oft hatte er diesen Satz im Zusammenhang mit seinen Entdeckungen gedacht?
Carlucci wusste, dass er die endgültige Antwort auf dieses Enigma nicht in den allgemeingültigen Schriften finden würde. Die Schriften, die der Allgemeinheit zugänglich sind, sind die Schriften, die keine Gefahr für die Kirche bedeuten. In den Geheimarchiven gab es eine Menge Evangelien, aber die meisten führten immer zu dem Jesus der kanonisierten Evangelien zurück. Deshalb würde er sich auf die Suche nach anderen Schriften machen, nach solchen, zu denen die Kirche weder Stellung bezieht, noch darüber ein Wort verliert, wie die der Essener Evangelien.
Er war an einem Punkt angelangt, wo für ihn kein Zweifel mehr daran bestand, dass die sogenannte Heilige Schrift das Produkt einer Verschwörung war. Nun war die Zeit reif, mit seinem Freund Gilberto ein Treffen zu vereinbaren, um ihn in die Angelegenheit einzuweihen. Am besten in seinem Arbeitszimmer, wo alle Dokumente zur näheren Erläuterung vorlagen.
17. Kapitel
Gibertos Glaube war so eine Sache. Im Gegensatz zu seinem Vater, der stets ein Bild Jesu in seiner Brieftasche trug, glaubte seine Mutter nicht an den Gott, den die Kirche lehrte. Immer wieder eckte sie mit Geistlichen jeglicher Konfessionen an, die sie, wenn sich die Gelegenheit bot, mit bestimmten Fragen, auf die sie keine Antwort kannten, in die Enge trieb. Für sie war Gott die Natur.
Dem Vater war es ersichtlich egal, ob seine Kinder eine religiöse Erziehung genossen oder nicht, er trug die Sorge der Familie und überließ seiner Frau die Religionsangelegenheiten, sodass Gilberto und seine Geschwister über ihren Glauben an Gott die vollkommene Entscheidungsfreiheit hatten.
Als in seiner näheren Verwandtschaft eine Cousine namens Claudine von einer Sekte in die andere geriet und sich berufen fühlte, die ganze Familie, Freunde und Bekannte zu bekehren, kam er zum ersten Mal mit der Heiligen Schrift in Berührung. Seine Cousine hatte ihr Wesen völlig verändert und verhielt sich wie in Trance, wie von einem Wahn-Virus infiziert. Sie zog los, der Welt um sich herum die „frohe Botschaft“ zu verkünden. An der Art aber, wie die Cousine vorging, konnte man erkennen, dass sie, seitdem sie zu „dem Glauben“ gefunden hatte, unter einer unterschwelligen Angst vor der ewigen Hölle litt und über die Zahl ihrer Bekehrten heraus die Hoffnung hegte, sich für das Jenseits Pluspunkte sammeln zu können, um dem Schwefelpfuhl zu entkommen.
Sie hantierte stets mit einer Bibel in der Hand und versuchte bei denen, die ihr Gehör schenkten, anhand von Bibelversen, die sie mittlerweile auswendig kannte, durch die Einsicht ihrer eigenen vergangenen Verstöße gegen den vermeintlichen Willen Gottes, andere für den christlichen Glauben zu gewinnen.
Sie selbst war geschieden und betitelte zum Beispiel diejenigen, die einen geschiedenen Partner geheiratet hatten, bibelgemäß als Ehebrecher. Um dem Ort der ewigen Verdammnis zu entkommen aber sollte der bereits Geschiedene zu dem ersten Ehepartner, der wiederum mit einem anderen Partner eine Familie gegründet hatte, zurückkehren. Sie richtete mit ihrer neuen Ordnung so viele Schäden an, dass sie sich viele Feinde machte und sie niemand mehr ins Haus hereinließ. Als sie in den Häusern nicht mehr Zutritt hatte, flatterten regelmäßig Briefe von ihr in die Briefkästen mit Bibelversen oder gar ganzen Kapiteln, die sie feinsäuberlich abschrieb, mit Ermahnungen zur Rückkehr und Warnungen mit furchtbaren und grausigen Schilderungen des Hades, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Die geplagte und über allen Maßen empörte Familie lebte in der Hoffnung, dass sich der Peiniger irgendwann die Finger wundgeschrieben hätte, das wäre das Ende der Belästigung gewesen. Doch die Rechnung ging nicht auf, denn als die Missionarin auf die Idee kam, ihre Urteilsverkündungen maschinell zu kopieren, wurde die Sache immer professioneller.
Die Läuterungsbriefe, die einerlei wann ungelesen im Papierkorb landeten oder dem Absender zurückgesandt wurden, häuften sich.