Das Geheimnis des wahren Evangeliums - Band 1. Johanne T. G. Joan
was mein ist, ist dein. Aber man musste ‚doch jetzt‘ fröhlich sein und sich freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden und verloren und ist gefunden worden.“ (Lk 15,11-32)
Carlucci stellte fest, dass die Botschaften der beiden Versionen des Gleichnisses des „Verlorenen Sohns“ dem unvoreingenommenen Leser zunächst, wie auch ihm selbst, als gleich oder sehr ähnlich erscheinen. Lediglich die Kürze der Fassung des Lukas Gleichnisses fällt auf.
Carlucci aber kannte anhand der ersten Gegenüberstellung mit dem „Hohelied der Liebe“ mindestens zwei Motive, die für die Überarbeitung oder gar Fälschung der Essener Evangelien in Betracht kamen:
1. das Verschweigen der Lehre der Vollkommenheit zu Gunsten der Lehre der Gnade.
2. Die Unterschlagung der Existenz des Essener Täufers.
Deshalb machte sich der Geistliche daran, die Texte nach Abweichungen zu untersuchen, die möglicherweise die Annahme über die ersten Motive, die er in Betracht gezogen hatte, erhärten würden. Er wusste, wonach er suchte, deshalb dauerte es nicht lange, bis er die entsprechenden Stellen fand, die ebenfalls auf ein Verdrehen der Lehre der Vollkommenheit hinwiesen:
Carlucci verglich diesen Text mit dem Gleichnis des verlorenen Sohnes aus dem Lukas-Evangelium:
Während der reumütige Sohn aus dem Essener Friedensevangelium beteuert, dass er von nun an gehorsam sein und nicht mehr sündigen wird, ein Versprechen, das auf eine dauerhafte und bessere Lebensführung hinweist, die im Kontext das Erstreben nach Vollkommenheit symbolisiert…
Vater, glaube mir nur ein letztes Mal und vergebe mir all meine Beleidigungen gegen dich. Ich schwöre dir, dass ich nie wieder so liederlich leben will, und dass ich dein gehorsamer Sohn in allen Dingen sein werde.13
…bezeichnet sich der „Verlorene Sohn“ aus dem Lukas-Evangelium als unwürdig:
ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen! Mach mich wie einen deiner Tagelöhner! (Lk 15,19)
Was nichts anderes heißen soll, so schlussfolgerte Carlucci, als dass der Sohn nicht fähig ist, die Gebote zu halten. Eine Formulierung, die geschickt die Paulus-Gnade einführt und legitimiert.
Carlucci konnte es nicht fassen. Er hatte in der kurzen Zeit eine weitere Bestätigung seiner Vermutung aufgedeckt. Sein Ehrgeiz war nur geweckt und er fuhr fort, den restlichen Text unter die Lupe zu nehmen.
Während der Essener-Prophet in dem Gleichnis auch das Essen und Trinken als Grund für die Sünde angibt…
Ihr seid wie der verlorene Sohn, der viele Jahre lang aß und trank und seine Tage in Liederlichkeit und Wollust mit seinen Freunden verbrachte.15
…unterschlägt der Verfasser des Lukas Evangeliums in seiner Version die Wortelemente, die das Essen und Trinken als Sünde darstellen.
Er sprach aber: Ein gewisser Mensch hatte zwei Söhne; und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zufällt. Und er teilte ihnen die Habe. Und nach nicht vielen Tagen brachte der jüngere Sohn alles zusammen und reiste weg in ein fernes Land, und daselbst vergeudete er sein Vermögen, indem er ausschweifend lebte. (Lk 15,11-13)
Carlucci durchschaute die Absichten des Verfälschers: Ohne viele Worte zu machen, war es ihm gelungen, dass der Leser im Gegensatz zum Essener Gleichnis, die Sünde nicht darin sieht u.a. in Schwelgerei und Wollust zu leben, sondern in der Verschwendung.
Carlucci überlegte weiter: „Raffiniert und fast unmerklich für diejenigen, die die wahre Botschaft nicht kennen, schmuggelt der Verfälscher im nächsten Beispiel die eine oder andere scheinbar belanglose Information in das Gleichnis ein, die im Gegensatz zu der wahren Botschaft steht. So hebt er das Gebot der Gleichheit aller Menschen durch das Halten von Sklaven und das Gebot des Vegetarismus,
durch das Schlachten eines Kalbes, clever auf.“
Der Vater aber sprach zu seinen Knechten: Bringet das beste Kleid her und ziehet es ihm an und tut einen Ring an seine Hand und Sandalen an seine Füße; und bringet das gemästete Kalb her und schlachtet es, und lasset uns essen und fröhlich sein. (Lk 15, 22-23)
Carlucci stellte außerdem fest, dass der Vater vom „Verlorenen Sohn“ aus dem Lukas-Evangelium zwei Söhne hatte. Einen Sohn, der reumütig zurückkommt und einen anderen, der neidisch ist und von dem man nicht weiß, was eigentlich aus ihm geworden ist. Der Vater aus dem Essener Evangelium besaß nur einen Sohn. Diese Besonderheit konnte er sich zunächst nicht erklären und sie schien auch nicht von Belang zu sein. Doch nach näherer Betrachtung konnte er auch in dieser Abweichung eine geniale und ausgeklügelte Botschaft an den Leser enthüllen:
Der verlorene Sohn aus dem Lukas-Evangelium, der reumütig nach Hause kommt, deutet auf die Nation, wie das Neue Testament den Sünder, der die Gnade annimmt darstellt, und die Absolution durch sein Sündenbekenntnis – die Beichte – erfährt (Die Paulusklientel). Der andere ärgerliche und neidische Bruder deutet auf die Juden, auf deren Schicksalsverlauf der Verfasser nicht näher eingeht, und das braucht er auch nicht, denn der Stellenwert der Juden im Neuen Testament ist wohl jedem bekannt.
Ihr seid wie der verlorene Sohn, der viele Jahre lang aß und trank und seine Tage in Liederlichkeit und Wollust mit seinen Freunden verbrachte. Und jede Woche machte er neue Schulden, ohne das Wissen seines Vaters und verschwendete alles in ein paar Tagen. Und die Geldleiher liehen ihm immer wieder etwas, weil sein Vater große Reichtümer besaß und immer geduldig die Schulden seines Sohnes bezahlte.
Und vergebens ermahnte er mit guten Worten seinen Sohn; doch der hörte nie auf die Ermahnungen seines Vaters, der ihn vergebens anflehte, seine endlosen Ausschweifungen aufzugeben, und in seinen Felder zu gehen, um über die Arbeit seiner Diener zu wachen.16
Er sprach aber: Ein gewisser Mensch hatte zwei Söhne; und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Vater, gib mir den Teil des Vermögens, der mir zufällt. Und er teilte ihnen die Habe. Und nach nicht vielen Tagen brachte der jüngere Sohn alles zusammen und reiste weg in ein fernes Land, und daselbst vergeudete er sein Vermögen, indem er ausschweifend lebte. (Lk 15,11)
Nach und nach kristallisierten sich immer mehr Motive heraus, die vermutlich zur Umgestaltung des wahren Evangeliums geführt hatten.
1. die Gnade anstatt der Vollkommenheit
2. Unterschlagung der Existenz des Essener Täufers
3. die Judenschuld
4.der Erhalt der Sklaverei
5.der Mensch darf Fleisch essen
6.der Mensch darf Alkohol trinken
Da Carlucci die Evangelien gut kannte, fielen ihm aus dem Kapitel „Der unbarmherzige Knecht “ aus dem Matthäus-Evangelium weitere Elemente des Essener „Verlorenen Sohns“ auf. Auffällig war, dass der Verfälscher, aus Gründen, die er noch nicht kannte, keinen Satz aus
dem Original-Evangelium auslassen wollte und sie irgendwie in seinem Lügenwerk unterzubringen versuchte, so oder so.
Warum der Betrüger diese unterschlagenen Elemente aus der Essener Version des Gleichnisses vom „Verlorenen Sohn“ in das Matthäus- und nicht in das Lukas-Evangelium eingeflochten hatte, lag auf der Hand. Hätte er das Gleichnis des „Unbarmherzigen Knechts“ im Lukas-Evangelium untergebracht, das uns einen Teil des „Essener – Verlorenen Sohns“ offenbart, dann wären im Lukas-Evangelium zu viele verräterische Elemente aus dem „Essener – Verlorenen Sohn“ enthalten gewesen. Die hätten bei einem Vergleich beider Schriften unter Umständen zur Rekonstruktion des wahren „Essener – Verlorenen Sohns“ führen können. Dieses Risiko wollte der Verschwörer nicht eingehen, denn er wusste nicht, ob die wahren Evangelien wirklich voll und ganz von der Bildfläche verschwunden waren.
Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht
Dann trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der wider mich sündigt, vergeben?
{W. wie oft soll