Das Geheimnis des wahren Evangeliums - Band 1. Johanne T. G. Joan
12. Kapitel
Die Affinität zu den Essener Schriften, die Carlucci in den Evangelien aus dem Neuen Testament und in den Paulusbriefen entdeckt hatte, zogen noch größere Kreise. Auf ähnliche Textverwandtschaften traf er nämlich außerdem auch in der Apostelgeschichte des Lukas, im Jakobusbrief, in den Petrusbriefen und überhaupt im ganzen Neuen Testament bis hin zur „Offenbarung des Johannes“. Parallelen im gleichen wundersamen Stil, die das Werk des Neuen Testaments insgesamt immer mehr als aus einer Quelle stammende Einheit erscheinen ließen.
Niedergeschlagen und regungslos saß Carlucci an seinem Schreibtisch und starrte mit zugekniffenen Augen in die Leere und versuchte Raum und Zeit durch zweitausend Jahre hindurch zu bezwingen, um eine auch noch so winzige „Lichtquelle“ einzufangen, die das noch dunkle und trübe Bild, das sich vor ihm auftat, erhellen würde – doch stattdessen verdichtete sich die Dunkelheit um ihn.
Die Frage, ob das Neue Testament aus einer Quelle stammen konnte, wurde immer realer.
„Kann das ganze Neue Testament von einer Person allein, einer Personengruppe bzw. aus einer Quelle stammen? Niemals“, beantwortete er sich selbst die Frage. Viele Historiker, die mit der Religion überhaupt nichts am Hut hatten, bestätigen das eine oder das andere, wie Flavius Josephus zum Beispiel.
Aber diese Essener-Schriften sagten ihm etwas anderes.
Eine große Unruhe ergriff ihn, er lief abermals in seinem Zimmer auf und ab und versuchte, wie so oft in dieser Angelegenheit, seine Gedanken zu ordnen. Schnell hatte er gemerkt, dass er die Komplexität und Undurchdringlichkeit seiner Gedanken am besten bündeln und sortieren konnte, wenn er sich selbst einen lauten Monolog hielt:
„Wenn die wahre Botschaft manipuliert wurde, dann konnte die Verschwörung nur von römischer Seite ausgegangen sein. Allein die Römer, die damals das ganze eroberte Volk unter der Fuchtel hatten, wären finanziell in der Lage gewesen, eine Aktion in dieser Größenordnung in die Wege zu leiten. An Helfern für dieses Mammutprojekt dürfte es ihnen nicht gemangelt haben. Der Verfälscher war nicht dumm, soviel stand fest und wenn jemand keinen Aufwand scheut, wie es den Anschein hat, die wahre Botschaft des Propheten in einem Riesenwerk wie dem Neuen Testament zu fälschen, dann würde er natürlich andere Schriften, die den Anschein nach keine religiösen Aspekte aufweisen, benutzen, um seiner Lüge einen festen Stand zu geben. Wenn der Verschwörer die Macht, das Geld und die Möglichkeit hatte, und das hatten die Römer gewiss, dann würde er Parallelschriften herausgeben, die seine Lüge unterstützen. Dafür hätte er aber vorher zu sorgen, dass keine Originalschriften mehr zu finden wären.
Wenn die Sache so ist, wie es aussieht, dann hat der Verfälscher ganze Arbeit geleistet, denn es ist ihm gelungen, das wahre Evangelium soweit zu vernichten, dass in den Geheimarchiven des Vatikans nur noch ein einziges Exemplar zu finden ist. So betrachtet ist es nicht abwegig anzunehmen, dass die Schriften, die von unvoreingenommenen Historikern geschrieben wurden, ebenfalls durch den Verschwörer manipuliert wurden, denn schließlich macht der Sieger die Geschichte. So gesehen konnte man keiner Schrift mehr Glauben schenken. Es war aber auch klar, dass das entsprechende Schriftgut, dass die Kollateral-Schriften, die als Beweise für die neuen Religionen dienen sollten, einen weit größeren Umfang aufweisen würden, als die religiösen Schriften selbst.“ Oftmals traute Carlucci seinen eigenen Gedanken nicht mehr und er erschrak angesichts der Konsequenzen, die aus seiner Vermutung resultieren.
„Kirchenväter gibt es genügend, die die Gnadenlehre unterstützen“, bedachte er, „also werde ich nicht darum herumkommen, all diese Schriften und sogar die Abhandlungen der Historiker unter die Lupe zu nehmen, um auf Anzeichen, die auf die Handschrift des Verfälschers des Evangeliums hinweisen, zu stoßen“, führte er seinen Monolog fort. Das Problem war, dass er noch keinen blassen Schimmer über das Motiv einer eventuellen Fälschung hatte, und außerdem überhaupt keine Ahnung, wie der vermeintliche Verfälscher wohl vorgegangen sein mag.
Der Geistliche fasste sich am Kopf, hielt sich die Schläfen mit beiden Händen fest, als ob er verhindern wollte, dass ihm der Kopf zersprang. Der imaginäre Berg, vor dem er stand, gewann an Höhe und warf einen riesigen Schatten, der die Dunkelheit um ihn noch dichter werden ließ. Lange verweilte er in dieser Stellung. Irgendwann überlegte er, ob er nicht den Verstand verloren hätte. Er schüttelte heftig den Kopf, als ob es ihm dadurch gelänge die ganzen Schlussfolgerungen, die er versponnen hatte, von sich zu schleudern. Wie beleidigt von seinen eigenen Gedanken, klappte er seine Unterlagen zu, verstaute sie in einer Schublade und ließ sich mit einem lauten Seufzer gegen die Rücklehne seines Stuhles fallen. Erneut nahm er sich vor, Abstand von der Sache, die ihm eine kleine Nummer zu groß war, zu nehmen. Warum sollte er sein angenehmes und sorgloses Dasein überhaupt für einen Kampf gegen Windmühlen aufgeben?
Die folgenden Tage hatte er sich eigentlich etwas anders ausgemalt. Die Vorstellung, dass die Evangelien aus einer einzigen Quelle stammen könnten, und alles deutete schließlich darauf hin, hatte ihn wie ein Virus infiziert, der nicht mehr von ihm weichen wollte, in einer unsichtbaren Gestalt, die sich verselbstständigte und ihn verfolgte bis in den Schlaf hinein. Pures Entsetzen hatte ihn vereinnahmt. Am liebsten hätte er die angestaute Wut aus sich herausgebrüllt und alles um sich herum kurz und klein geschlagen.
Erneut an seinem Arbeitstisch sitzend, ballte er die Hände zu Fäusten, sprang von seinem Stuhl hoch und fetzte mit einem Armschlag sämtliche Unterlagen, die auf seinem Schreibtisch lagen, zu Boden. Außer sich vor Verwirrung verließ er sein Arbeitszimmer.
Carlucci war in der Regel nicht klein zu kriegen, er war ein Kämpfer und ein Stratege, doch angesichts der abscheulichen und abgründigen Vermutungen, die ihn betreffend der Heiligen Schriften überkamen und in Anbetracht der Hochflut von Fragen, die zunahm, je mehr er sich mit der Sache beschäftigte, fühlte er sich hin- und hergerissen und wusste sich keinen Rat mehr. Sollte er doch bald mit Gilberto sprechen?
Die folgenden Nächte schlief er sehr unruhig. Seine Träume kreisten stets um das ungelöste Rätsel. Er hatte die Büchse der Pandora geöffnet und der Kämpfer in ihm war nun entschlossen, die Sache unerschrocken durchzuziehen.
Viele Tage und Nächte wehrte sich Carlucci gegen den Unruhestifter und Meuterer in ihm. Der feige und bequeme Carlucci versteckte sich hinter der Gnade und dem Blut Christi und streckte fanatisch im Geist das Kreuz Jesu gegen seinen Herausforderer, wie einer, der sich vor einem Vampir schützen will.
Dazu kam, dass seine Verbindung zur Bibel neue Züge angenommen hatte, denn jedes Mal, wenn er das Heilige Buch aufschlug, um zu beten, verwandelte sich die Schrift in einen Kampfplatz, auf dem er allein stand und mit den Erkenntnissen der vergangenen Wochen torpediert wurde. Die Querverweise betrachtend, bedrängte ihn immer wieder die Frage: Deuten die vielen Querverweise, die die Bibel zu einer Einheit machen und die dazugehörigen Texte, die teilweise dem Heiligen Geist zugesprochen werden vielleicht doch daraufhin, dass diese Schriften aus einer Quelle stammen könnten? War der Heilige Geist, wie die Bibel ihn darstellt, nur ein Manöver, eine Hilfsfigur, ein Joker, der einsprang, um den vermeintlichen göttlichen Einfluss, unter dem die Evangelisten und Briefschreiber standen, zu unterstreichen und um die auffällige Eintracht der Evangelien und Briefe untereinander zu rechtfertigen?
Hatte man die Existenz des Heiligen Geistes missbraucht und wie eine gute Karte in das Verschwörungsspiel eingeschoben, um aus konfusen Situationen zu entfliehen und um der Heiligen Schrift über die Tugend „Glaube“ Wahrhaftigkeit zu verleihen?
Waren die vielen Querverweise, auch ohne seine Entdeckung, nicht der Beweis schlechthin, dass alles passend zueinander geschrieben worden war? Trotz Widersprüche? Aber was war das Motiv?
Seitdem er nach der Entdeckung der Essener Schriften an der Wahrhaftigkeit des Neuen Testaments zu zweifeln begonnen hatte, hatte er dennoch in seinen Gebeten mehrmals den Versuch unternommen, wie früher Christus für sein Opfer am Kreuz für seine Sünde zu danken, aber es gelang ihm nicht mehr. Jedes Mal drängte sich ihm die Frage auf, ob es überhaupt eine Kreuzigung des heiligen Mannes gegeben hatte.
Die immer wiederkehrenden Überlegungen, die um eine Verschwörung kreisten, glichen einem Verfolgungswahn. Denn egal, wie er die Sache anpackte, immer kam er zu dem gleichen Schluss, dass das Neue Testament das Werk