Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner

Ein Lied in der Nacht - Ingrid Zellner


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getreulich in Kenntnis zu setzen, und ergriff, was das nächtliche Auflauern eines Bergleoparden betraf, ganz klar Sameeras Partei. Dann ging er zur nächsten Mail über und stellte freudig überrascht fest, dass sie von Prem Ghanand kam. Sofort vertiefte er sich in die Zeilen des Mannes, der nach vier Jahren Gefängnis die Freiheit wiedererlangt hatte. Zeilen voller Freude, Hoffnung und Zuversicht, stellte er fest. Willkommen in der Freiheit, Prem. Und schön, dass du Menschen hast, die sich in dieser Situation um dich kümmern.

      Ein Schatten glitt über sein Gesicht. Wie anders war es damals bei ihm gewesen, als er nach fünfundzwanzig Jahren begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen worden war! Siebeneinhalb Jahre war das jetzt her. Aber in diesem Moment trug die Erinnerung ihn so unmittelbar zurück, als wäre es erst gestern passiert.

       »Mr Shivpuri Sir?«

       »Ah, Raja, komm rein, ich hab schon auf dich gewartet… setz dich, setz dich.«

       Nach all den Jahren, die er diesen Gefängniswärter jetzt schon kannte, zögerte er keine Sekunde, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Er wusste, dass Mohan Shivpuri keine falschen Spielchen spielte; ihm konnte er trauen.

       »Ich hab hier was für dich, Raja. Lies, und fall mir jetzt bloß nicht vom Stuhl.«

       Er nahm das amtlich aussehende Dokument von dem Mann hinter dem Schreibtisch entgegen und studierte es mit gerunzelten Augenbrauen. Schon nach wenigen Zeilen blickte er erschrocken auf.

       »Eine Begnadigung?«

       »So ist es.«

       »Aber… ich habe doch nie einen entsprechenden Antrag gestellt!«

       »Nein, aber ich. – Schau mich nicht so entsetzt an, Raja. Ein solcher Antrag war überfällig, schon lange, und wenn du einen brauchbaren Anwalt hättest, dann wärst du längst draußen. Ich hab sowieso nie verstanden, warum du den Antrag nie selbst eingereicht hast. Bei deiner Führung in den vergangenen Jahren hast du dir das redlich verdient.«

       »Gar nichts habe ich verdient!« Seine Stimme klang heftiger, als es ihm eigentlich zustand. »Ich bin ein Vergewaltiger und Mörder, verdammt noch mal. Ich hab da draußen nichts zu suchen.«

       »Willst du mir etwa erzählen, du würdest lieber hierbleiben?«

       Natürlich würde er das. Wo sollte er da draußen schon hin? Zu einem Bruder, der ihn voller Hass verstoßen hatte und dem er hatte versprechen müssen, sich von ihm fernzuhalten? Zu einer Ex-Verlobten, die inzwischen die Frau dieses Bruders geworden war? Zu den Freunden, die sich nach seiner Verhaftung nie wieder bei ihm gemeldet hatten? Hier im Knast hatte er wenigstens eine Aufgabe. Da draußen hatte er buchstäblich nichts.

       Aber wie sollte er das Shivpuri erklären?

       »Glaub bloß nicht, dass ich dich gerne gehen lasse, Raja. Du wirst mir fehlen, ganz ehrlich. Aber ich kann und will einfach nicht länger mit ansehen, wie hier ständig andere Männer begnadigt werden, die es weit weniger verdient haben als du. In zwei, drei Tagen sollten wir den notwendigen Papierkram erledigt haben – also fang schon mal an, dich zu verabschieden.«

      Dunkel starrte Raja vor sich hin. Erst sehr viel später hatte er Shivpuri erzählt, warum eine Freilassung damals für ihn so eine Horrorvorstellung gewesen war: Das Yerawada Central Jail war – ganz besonders in den letzten neun Jahren mit Shivpuri als Gefängniswärter – ein Teil von ihm geworden, geradezu eine Art Zuhause, und der Gedanke an eine Freiheit in einer fremden, kalten Welt, in der niemand auf ihn wartete und in der er keinen Platz mehr zu haben glaubte, hatte ihm Angstzustände bereitet.

      Aber nun war es nicht mehr zu ändern. Die Begnadigung war amtlich. Und so kam schließlich jener Tag im August 2009, an dem er seinen Lohn für fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit ausgezahlt bekam und mit Mohan Shivpuri in einen Raum ging, den er noch nie gesehen hatte. Heftiger Monsunregen rauschte draußen nieder, als ein Beamter mit ausdruckslosem Gesicht ein Bündel Kleidungsstücke auf den Schreibtisch pfefferte.

       »Dein Zeug. Hier unterschreiben.«

       Er warf einen Blick auf das Bündel. Jeans, ein schwarzes Trägershirt, ein rotes Stirnband, schwarze Schuhe. Die Sachen, die er in jener Diwali-Nacht vor fünfundzwanzig Jahren getragen hatte. Nur die Lederjacke, die damals sein ganzer Stolz gewesen war, lag nicht dabei. Hatte er sie denn überhaupt mitgenommen, als er nach jenem Drogeneinwurf das Lokal verließ? Er hätte es nicht sagen können. Verdammter Filmriss.

       Aber da fehlte noch etwas…

       »Wo ist der Ring?«

       »Was für ein Ring?«

       »Mein Verlobungsring. Ich hab ihn an dem Abend getragen. Wo ist er?«

       »Hier ist kein Ring. Unterschreib jetzt endlich.«

       Zum ersten Mal las er das Dokument genau. Eine Jeans, ein Shirt, ein Tuch, ein Paar Schuhe. Keine Lederjacke – wahrscheinlich war sie tatsächlich im Lokal zurückgeblieben, und einer seiner zugedröhnten Kumpels hatte sie sich unter den Nagel gerissen. Sei’s drum… aber da, ganz am Ende der Auflistung, stand ganz deutlich auch noch: ein Ring.

       »Er muss hier sein. Er wurde mit den anderen Sachen abgegeben und eingelagert.«

       »Siehst du hier irgendwo einen Ring? Nein. Setz jetzt endlich deinen Namen da drunter, sonst stehen wir morgen immer noch hier.«

       Er unterschrieb. Was hatte es für einen Sinn? Der Ring hatte mit Sicherheit einen Abnehmer gefunden. Die Verlobung war ohnehin gelöst, und wahrscheinlich würde er weder Sita je wiedersehen noch Anil, der ihm den Ring damals spendiert hatte.

       Dann betrachtete er mit zweifelndem Blick den muffig riechenden Kleiderhaufen.

       »Keine Sorge, Raja, ich hab vorgesorgt. Komm mit.«

       Er folgte Shivpuri in den Umkleideraum nebenan, wo der Gefängniswärter ihm die Tüte in die Hand drückte, die er bei sich trug.

       »Ich hoffe, die Sachen passen. Zieh dich um, ich warte vor der Tür auf dich.«

       Eine schwarze Kurta mit Churidars. Vorsichtig schlüpfte er hinein. Nach Jahrzehnten in Gefängnisuniform fühlte sich der dünne, glatte Stoff seltsam an auf seiner Haut. Er kam sich nackt vor. Nackt und zutiefst verunsichert.

       Schließlich streifte er noch die Sandalen über und ging wieder hinaus zu Shivpuri.

       »Na wunderbar – passt ja alles. Die Schuhe auch?«

       »Ja. Danke, Mr Shivpuri Sir, das war… ich weiß nicht…«

       »Sag nichts, Mann, das ist ja wohl das Mindeste, was ich tun konnte dafür, dass du mir in den vergangenen Jahren so eine unschätzbare Hilfe warst. Lass gelegentlich mal was von dir hören, ja?«

       Er nickte wortlos und folgte dem Gefängniswärter durch die Korridore zum Ausgang. Das Rauschen des strömenden Regens wurde immer lauter.

       »Mistwetter. Tut mir echt leid, Raja, ich hätte dir für deine Rückkehr in die Freiheit wirklich was Besseres gewünscht.«

       Er wollte etwas antworten, aber er konnte nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt.

       »Aber warte mal… Einen Moment, Raja, bin gleich wieder da.«

       Shivpuri verschwand und kehrte wenige Minuten später mit einem dunkelgrauen Mantel zurück.

       »Damit du nicht völlig schutzlos in den Regen hinausmusst. Hier, nimm!«

      


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