Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner
noch mir was.«
Langsam zog er den Mantel an und fühlte sich paradoxerweise noch nackter als zuvor.
»Tja… dann ist jetzt wohl der Augenblick gekommen. Alles Gute, Raja.«
»Ihnen auch, Mr Shivpuri Sir. Danke.«
Ein freundlicher Händedruck, dann wurde die schwere Tür geöffnet. Sie schwang mit einem lauten Knarzen auf, und im nächsten Moment stand er im Türrahmen, hüllte sich dicht in den Mantel ein und blickte hinaus in den strömenden Regen.
Dann ergab er sich in sein Schicksal und trat über die Schwelle…
Raja merkte, dass er zuletzt unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Dieser Augenblick seines Übergangs aus der Sicherheit des Gefängnisses in eine in jeder Hinsicht unsichere Zukunft hatte sich ihm unauslöschlich eingebrannt; bei der Erinnerung daran verkrampfte sich sein Magen genauso schmerzhaft wie damals, und er konnte noch immer den Dauerregen auf seiner Haut spüren, ebenso wie seine bittere Einsamkeit und seine hilflose Angst vor dem, was vor ihm lag.
Er schüttelte sich leicht und stand auf, um sich einen Whiskey einzuschenken. Zum Glück ist dir dieser freie Fall ins Ungewisse erspart geblieben, Prem, dachte er. Du bist aufgefangen worden, von den besten Händen, die du dir wünschen konntest. Und nun finde wieder in das Leben zurück und lass dich nicht unterkriegen. Ich halte dir die Daumen.
Er schrieb eine schnelle kleine Antwortmail, in der er Prem zu der Freilassung gratulierte. Außerdem wünschte er ihm alles Gute für den Plan, eine eigene Praxis zu eröffnen, und versprach, ihn während seines nächsten Kashmir-Aufenthalts zu besuchen. Gerade als er die Mail abschickte, hörte er, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Gleich darauf betrat Sita das Wohnzimmer.
»Hallo, Raja«, sagte sie lächelnd. »Schläft Rani schon?«
»Scheint so.« Raja stand auf, legte die Arme um seine Frau und küsste sie. »Jedenfalls habe ich sie vorhin ins Bett gebracht, und seitdem hat sie nichts mehr von sich hören lassen.«
»Sehr schön.« Ihr Blick blieb an seinem Whiskeyglas hängen. »Spendierst du mir auch einen Schluck? Mir ist gerade nach einem kleinen Schlummertrunk.«
»Natürlich.«
Raja grinste breit, als er ein weiteres Glas aus dem Schrank holte. Lange Zeit war Sita alles andere als eine Whiskeytrinkerin gewesen und hatte regelmäßig den Kopf über Rajas, Vikrams und Vishals Affinität zu diesem »Lebenswasser« geschüttelt. Aber dann hatte sie einmal aus purer Neugierde von dem Bushmills ›Three Woods‹ probiert, der seit etwa anderthalb Jahren Rajas Lieblingsmarke war – und seitdem geschah es tatsächlich des Öfteren, dass sie ihrem Mann Gesellschaft leistete, wenn er sich ein Glas von dem sechzehn Jahre alten, nach Marzipan, Zitrusfrüchten und Eichenholz duftenden Edeltropfen genehmigte.
»Hast du denn drüben bei unseren Kindern nichts zu trinken bekommen?«, fragte er neckend, während er einschenkte.
»Doch, natürlich«, erwiderte sie und nahm ihr Glas entgegen. »Aber kein Lebenswasser. In diesem Punkt hast du offenbar herzlich wenig an deine Jungs vererbt.«
»Sie müssen mir ja auch nicht alles nachmachen«, schmunzelte Raja und erhob sein Glas. »Sláinte!«
»Sláinte!« Sie stieß mit ihm an und trank. »Wir könnten zumindest Soham eine Flasche zum Geburtstag schenken – wer weiß, vielleicht freut sich ja auch sein Ehrengast darüber.« Ihre Augen funkelten.
»Welcher Ehrengast…«, begann Raja, ohne nachzudenken; dann stutzte er plötzlich und richtete sich kerzengerade in seinem Sessel auf. »Nein! Sag bloß…«
»Ja«, bestätigte sie fröhlich und prostete ihm erneut zu. »Ylva Sandström hat ihren Besuch angekündigt. Soham ist vorhin zu uns runtergekommen, um es uns zu sagen; ich hab ihn noch nie so aufgeregt erlebt.«
»Kein Wunder, so wie’s den erwischt hat«, kommentierte Raja amüsiert. Soham war der beste Freund seines Sohnes Surya; die beiden betrachteten sich ebenso als Brüder wie Raja und Vikram, und Soham bewohnte ein kleines Appartement im obersten Stockwerk des Sharmivar. Im vergangenen Sommer hatte er im Rahmen einer Informationsreise der IT-Firma, für die er arbeitete, Tromsø besucht, die norwegische Partnerstadt von Pune – und sich dabei in eine junge Schwedin verliebt, die dort in einem Café jobbte. Seitdem wartete die gesamte Sharma-Familie voller Spannung darauf, dass dieses überaus exotische hellblonde und blauäugige Wesen, das sie bislang nur von den Bildern auf Sohams Handy kannten, eines schönen Tages die Heimat des Mannes besuchen würde, dem es so unerwartet wie gründlich den Kopf verdreht hatte. Jetzt war es offensichtlich so weit.
»Sie war sich lange nicht sicher, ob es klappen würde«, erläuterte Sita. »Es gab wohl Probleme mit ihrem Urlaub, deswegen konnte sie sich nicht früher anmelden. Aber jetzt ist alles geregelt, die Flugtickets sind gebucht, ihr Visum ist beantragt, und sie kommt.«
»Wann genau?«, erkundigte sich Raja.
»Am 10. Februar«, antwortete Sita. »Pünktlich zu Sohams Geburtstag, das perfekte Geschenk… und wen rufst du jetzt bitte an?«, fragte sie verwundert, als Raja sein iPhone hervorzog, ein paarmal auf das Display tippte und das Gerät dann an sein Ohr hielt.
»Glaubst du, Sameera würde mir jemals verzeihen, wenn ich ihr nicht auf der Stelle Bescheid sage?«, entgegnete er augenzwinkernd und lehnte sich voller Vorfreude im Sessel zurück, als sich am anderen Ende der Leitung die Stimme von Sameera Sandeep meldete.
***
»Du musst dünne Sachen einpacken, ammi.«
Anjali stand in der Tür zum Schlafzimmer im Dar-as-Salam und sah Sameera zu, die Kameezis und Shirts säuberlich in einen Koffer stapelte.
»Ich weiß, Schätzchen.« Sameera lächelte. »Ich hab dran gedacht. Das heißt immerhin, dass ich dieses Jahr im Februar zur Abwechslung nicht friere, sondern schwitze.«
»Als wir letztes Jahr in Shivapur gewesen sind, da war mir auch warm«, erklärte Anjali ernsthaft. »Wie hier im Sommer. Aber ich fand es schön, und Rajas Familie ist sehr lieb.«
»Natürlich.«
Sameera sah zu, wie Anjali hereinkam und sich neben dem Koffer auf der Bettkante niederließ. Noch ein paar Jahre, und sie würde so flügge sein wie Zeenath und Ameera; im Juni hatte sie ihren fünfzehnten Geburtstag vor sich. Anders als bei den anderen Kindern im Haus lebte ihre leibliche Mutter noch; die Beziehung der beiden war allerdings ziemlich kompliziert.
Anjalis Vater war vor elf Jahren bei einer Demonstration auf offener Straße erschossen worden, und man hatte den oder die Verantwortlichen nie zur Rechenschaft gezogen. Dieser furchtbare Schicksalsschlag hatte Anjalis Mutter zu wütender Bitterkeit aufgestachelt, und ihre Tochter musste immer häufiger als Blitzableiter für ihren Hass auf das Schicksal herhalten. In der zweiten Klasse der Grundschule fielen einer aufmerksamen Lehrerin die blauen Flecken und Kratzer an dem Mädchen auf, das sich immer so verschüchtert hinter seinem Pult zusammenkauerte und kaum sprach. Kurze Zeit später landete Anjali zum ersten Mal in einem Kinderheim, ein halbes Jahr später in dem nächsten. Und endlich kam sie im Dar-as-Salam an, als einer von Vikrams ersten Schützlingen.
Das war jetzt sieben Jahre her. Inzwischen hatte ihre Mutter wieder Kontakt zu ihr aufgenommen, und Anjali sah sie regelmäßig. Zu ihr zurückzukehren konnte sie sich nicht vorstellen (und niemand verlangte das ernsthaft von ihr), aber immerhin sprachen sie wieder miteinander.
Anjali malte ebenso gern wie Zooni und Maryam, allerdings nicht ganz so virtuos. Sie nähte genauso fleißig wie Zeenath, aber es kamen nicht solche Kunstwerke dabei heraus wie bei ihrer älteren Pflegeschwester. Allerdings verfügte sie über eine Gabe, die in einem »Haus des Friedens« voll von aufwachsenden Teenagern noch um einiges wertvoller war: Sie konnte Streit schlichten – manchmal sogar noch ehe er richtig ausbrach. Der Umgangston war normalerweise harmonisch, schon allein deswegen, weil die Kinder sehr froh waren, dort zu sein, wo sie waren; allerdings ließen sich