Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner
– weil lautes Geschrei ihr wehtat, und niemand wollte Anjali ernsthaft wehtun.
»Wann kommt ihr wieder?«, wollte sie jetzt wissen.
»Wir sind nur etwas mehr als eine Woche weg«, versicherte Sameera, legte einen zusammengefalteten Dupatta ganz oben auf den Koffer und machte ihn zu. Anjali war dasjenige von ihren Pflegekindern, das es am schlechtesten aushielt, wenn sie und Vikram das Dar-as-Salam für mehr als ein, zwei Tage verließen – nicht nur Streit war ein schwieriges Thema, auch Verlustängste spielten immer noch eine gewichtige Rolle. Allerdings machte sich Sameera nichts vor: Ohne Rizwan Padar, der seinen Wachtdienst für das Dar-as-Salam so gründlich und zuverlässig absolvierte wie ein Uhrwerk und mit dem sämtliche Bewohner bestens zurechtkamen, hätte sie selbst sich ebenfalls schwergetan, Anjali und auch die anderen Kinder so lange allein zu lassen.
»Bei deiner Schulaufführung sind wir wieder zurück«, versprach sie. Anjalis Klasse hatte in den letzten Wochen ein Stück mit vielen Volksliedern aus Kashmir einstudiert, und Anjali hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen und sich um eine Rolle beworben; wenn sie sich tatsächlich einmal traute, vor Publikum den Mund aufzumachen, sang sie sehr hübsch, und jetzt durfte sie während der Aufführung bei drei Musiknummern mitmachen und hatte sogar ein Solo.
Anjali schaute auf ihre Hände hinunter. »Ich… ich find’s schade, dass Sita bei dem Stück nicht zuschauen kann«, sagte sie unvermittelt. »Es wäre toll gewesen, sie dabei zu haben, sie mag unsere Lieder doch so gern.«
Sameera setzte sich neben sie und zog sie an sich. »Weißt du was? Wir machen bei der Aufführung ein Video, und das schicken wir dann an Sita. Einverstanden?«
Anjali nickte; ihr Gesicht hellte sich auf. »Und du musst mir sagen, wie Sohams Freundin aussieht, das Mädchen aus Schweden«, sagte sie. »Ich bin schrecklich neugierig.«
Sameera lachte und küsste sie auf die Wange. »Das sind wir alle«, antwortete sie. »Deshalb hat Raja mich ja auch verständigt. Als er mir bei Zeenaths Hochzeit von Sohams Eroberung erzählt hat, da hab ich ihm gesagt, dass er mir unbedingt einen heißen Tipp geben soll, wenn sie mal nach Indien kommt. Ich verspreche dir, wir werden jede Menge Bilder machen.«
»Danke.« Anjali lehnte den Kopf an ihre Schulter. »Werdet ihr im Mitrata wohnen? Ich hab da voriges Jahr Tara helfen dürfen, den Namen über die Eingangstür zu malen.«
»Was denn, wirklich?« Sameera lächelte. »Dann bin ich jetzt doppelt gespannt auf dieses Gästehaus. Moussa war ja schon so begeistert davon.« Sie erinnerte sich an die Berichte ihres Pflegesohns, der im vorigen Sommer für ein paar weitere Wochen bei den Sharmas zu Gast gewesen war; er hatte einen Foto-Workshop in Pune besucht und dabei das kleine Gästehaus bewohnen dürfen, das Raja und seine Freunde vor gut einem Jahr im Garten von Vishals Haus gebaut hatten.
»Ich hab’s mir auch von innen anschauen dürfen«, erzählte Anjali eifrig. »Es hat ein großes Schlafzimmer, ein kleines Wohnzimmer mit einer Küchenzeile, und das Bad ist winzig, aber total schön. Raja hat gesagt, sie haben das Gästehaus Mitrata genannt, also Freundschaft – weil es ein Zuhause für alle seine Freunde werden soll, die ihn und Sita besuchen wollen.«
»Schöner Gedanke«, meinte Sameera. »Vielleicht sollten wir uns für unser Gästezimmer hier auch mal einen Namen ausdenken.«
Anjali kicherte. »Firouzé sagt seit Weihnachten immer, das ist das ›Rajita-Zimmer‹. Für ›Raja und Sita‹, verstehst du?«
»Klar.« Sameera schmunzelte. »Wir können uns das ja mal merken, bis uns eventuell noch was Besseres einfällt. Aber in erster Linie haben wir es ja tatsächlich für Raja und Sita gebaut.«
»Ich vermiss die beiden«, stellte Anjali fest. »Grüß sie von mir, ja? Und Tara und Kajri, und Soham und… ach, überhaupt alle!«
»Mach ich. Ich werde niemanden vergessen.«
Kapitel 8
Alte und neue Gesichter
Sameera schaute sich entzückt in der sonnendurchfluteten kleinen Wohnküche des Mitrata um. Hell gestrichene Wände, mehrere Grünpflanzen, zahlreiche gerahmte Fotografien mit Motiven aus Kashmir und Lonavala. Hinter ihr sagte Mohan, der auf Vikrams Arm saß, »Da!« und streckte die Hand nach dem Rüssel eines Ganesha aus, der in einem buntglitzernden kleinen Mandir thronte. Sein Vater trat bedachtsam einen Schritt zurück und brachte ihn damit außer Reichweite.
Sie drehte sich zu Raja um, der gespannt neben der Tür wartete.
»Das ist wunderschön, mera chenaar«, sagte sie. »Kein Wunder, dass Moussa sich hier so wohlgefühlt hat. Habt ihr das wirklich alles selbst gebaut?«
»Größtenteils«, antwortete Raja. »Und fast alle Taxifahrer, mit denen Vishal, Surya und ich gefahren sind, haben dabei mitgeholfen. Falls ihr in den nächsten Tagen mal auf eigene Faust irgendwo hinwollt, müsst ihr nur Bescheid sagen – wir haben das organisiert, einer von ihnen steht immer Gewehr bei Fuß.«
Sameera lächelte. »Langsam… wir sind doch erst seit einer halben Stunde hier! Und wann kommt Ylva jetzt genau?«
»Morgen Vormittag, mit der Maschine aus Delhi«, sagte Raja gut gelaunt. »Soham schiebt seit Wochen Überstunden an seinem Computer, damit er die nächsten Tage überhaupt nicht in die Firma muss; deswegen ist er jetzt auch nicht hier. Er ist so aufgeregt wie ein verliebter Teenager.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Sameera ließ sich mit einem erleichterten Seufzer auf dem Sofa nieder. Nach gleich zwei Flügen zwischen Srinagar und Pune war es eine Wohltat, die Beine ausstrecken zu können. Vikram trat neben sie und reichte ihr Mohan, der sich in ihre Arme kuschelte und gähnend die Wange gegen ihre Schulter sinken ließ.
»Ich glaube, der kleine Löwe braucht ein bisschen Sendepause«, sagte sie. »Der Flug war sehr aufregend für ihn.«
»Vielleicht möchte er ja etwas essen«, meinte Raja. »Verhungern muss bei uns im Moment niemand; wir alle bereiten seit Tagen Fingerfood, Currys und Süßigkeiten für Sohams Geburtstagsparty vor. Soll ich Mohan schnell was holen?«
»Das Letzte, was unser Junior braucht, ist noch mehr Futter«, versetzte Vikram. »Wenn wir ihm alles gegeben hätten, was die Stewardessen ihm zustecken wollten, hätte er sich bestimmt längst übergeben.«
»Ich zieh ihn um und leg ihn schlafen«, beschloss Sameera und stemmte sich wieder aus ihrer bequemen Sitzposition hoch. »Und dann leg ich mich gleich daneben, glaube ich. Bei dem schönen Wetter können wir ja vielleicht heute Abend im Garten zusammensitzen. Dabei wäre ich gern ein bisschen munterer, als ich es im Moment bin.«
Raja grinste. »Dann nehm ich deinen Mann mit rüber zu uns; ich bin sicher, Vishal wird sich freuen, ihn zu sehen.«
Sameera drückte ihren Sohn an sich; ihre Mundwinkel zuckten belustigt.
»Das glaub ich dir sofort. Aber vielleicht solltet ihr die Bushmills-Flasche vorerst noch stehen lassen, sonst sind nachher nur noch Sita, Pooja und ich munter. Und außerdem«, sie küsste Mohan zärtlich auf die Nase, »möchte ich endlich auch mal wieder einen Schluck Bushmills trinken. Ich habe seit dem Ende des vorletzten Jahres keinen Tropfen Whiskey mehr angerührt.«
»Hat hier jemand ›Whiskey‹ gesagt?« Die Haustür des Mitrata öffnete sich, und Vishal steckte den Kopf herein. Beim Anblick der Besucher leuchteten seine Augen auf; er betrat den Raum, warf Sameera einen Handkuss zu und schloss Vikram herzlich in die Arme. »Willkommen, Kommandant! Na, alles klar?«
»Ich bin zufrieden.« Vikram erwiderte die Umarmung. »Und bhai – wenn es dir nichts ausmacht, dann leg ich mich auch eine Runde hin.« Er zwinkerte Raja zu. »Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste.«
»Schon verstanden.« Raja zog eine komisch gekränkte Grimasse. »Was sind ein Bruder, ein Kampfgefährte und eine Flasche Lebenswasser gegen eine Frau, nicht wahr?«
»Gegen meine Frau«, korrigierte Vikram trocken. »Und gegen eine kleine Mütze voll Schlaf. Ihr zwei