4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018. Christoph-Maria Liegener
der Hand. Es stürmte immer noch. Genf versank in einem weißen Chaos. Wir haben ganz leise gesprochen, als ob uns jemand hören könnte. Teilweise war das Heulen des Sturmes lauter als unsere Worte. Die Weinflasche war schnell leer. Aber das machte nichts, denn wir hatten uns durch die „Unannehmlichkeiten“ einen All-Inklusive-Aufenthalt in einem der besten Hotels der Stadt verdient. Wir hatten beide einen harten Tag und konnten kaum mehr stehen. Also schoben wir die Couch direkt vor das Fenster. Wir setzten uns hin und schauten weiter in die weiße Leere. Er lachte und war guter Laune. Ich auch. Allein schon wegen der Tatsache, dass ich nicht mehr einsam war. Er schien wohl ganz vergessen zu haben, dass er auf einen Anruf der Rezeption wartete. Und ich habe vergessen zu erwähnen, dass der Anruf nicht kommen würde. Ich habe unten bereits Bescheid gegeben, dass es sich mit dem Zimmer in einem anderen Hotel erledigt hatte.
Maren Sauer
Ein Frühjahr im Konjunktiv
Eben jenen frisch aufgeschütteten Kiesweg wäre er mit mir gegangen und hätte die Osterglocken am Rande blühen sehen. Der schleierlose blaue Himmel beginnt gerade an Leuchtkraft zu gewinnen. – Siehst du, wie die vermaledeiten Stadttauben, die unsereins am Boden plagen, sich dort oben so elegant bewegen? Mit konzentriertem Krafteinsatz, aber so sensibel in die Schräge schießen und sich schließlich fallen lassen? – So würde er mit dem ihm eigenen wissenschaftlichen Ernst sagen, der, hier herrlich unpassend, mich zum Schmunzeln brächte: Tja, die haben echt Flügelspitzengefühl. Übrigens ist „Fingerspitzengefühl“ ein Wort, das in den meisten Sprachen keine Entsprechung hat. Hast du das gewusst? Dabei ist es ein ganz wunderbar bildhaftes Wort. – Wirklich? Ja, da hast du wohl Recht.
Bald werden wieder wilde Kornblumen blühen, wie Jahr für Jahr, wenn der Sommer hereinbricht; blau, ihre gezackten Blütenblätter der Weite entgegen. Er würde sie auf den Balkon gestellt haben, seine Lieblingsblumen, die zu jedem Geburtstag im Juni gehören, seit er denken kann. Im grüngepolsterten Biedermeier-Sessel würde er sitzen und sich an ihnen erfreuen. Die hohen Lehnen umrahmten seinen im Alter geschrumpften und von der Krankheit knochig gewordenen Körper. Im grünen Sessel, in meinem grüner Sessel nun, der fehl am Platz wirkt; der hier bei mir nicht stehen dürfte. Eigentlich.
Habe ich dir schon erzählt, dass ich jetzt endlich Effi Briest lese? Das hatte ich mir schon so lange vorgenommen und es gefällt mir. Aber ich kann nicht recht nachvollziehen, warum du mich einmal mit einer Figur Fontanes verglichen hast. Oder hat es mit der Art der Schilderung zu tun? Mit der Konturgebung seiner Persönlichkeiten? Er charakterisiert irgendwie zugleich bemutternd wie wertschätzend. – Ich dächte einen Moment nach, bevor ich den nächsten Satz schriebe: Entspringt solch ein Vergleich nicht doch deinem Blick durch die rosarote Brille? – Er würde es mir näher erklären müssen.
Einen leuchtend gelben Briefumschlag würde ich vielleicht wählen, sicher einen ausgeschlagenen, um seinem Inhalt mehr Schutz und Bedeutung zu geben. Zuneigung durch Gesten. Mehr davon hätte es geben sollen-? Erfreut würde er ihn entdecken, den Umschlag, nachdem er sich in der Hoffnung auf Nachricht noch mit Rückenschmerzen auf den Weg durchs Treppenhaus gemacht hätte. Seinen Atem höre ich innerlich, der mit jeder Stufe schnaufender würde und sich erst zur Pause auf dem nächsten Absatz wieder beruhigte. Immer noch läse er Briefe stets dreimal; mindestens. Sie blieben auf dem Nachttisch liegen und mit der Zeit bildeten sich um die mehr oder weniger säuberliche Schrift des jeweiligen Verfassers Wortketten und hieroglyphische Kürzel im dezenten Bleistiftgrau – Fragen, die er stellen würde. So täte er es mit jedem Brief und antwortete getreulich. Doch Post an mich wäre etwas ganz Besonderes, das ist sicher. Bei jeder Gelegenheit überraschte sie mit ein paar beigelegten Briefmarken. Ausführungen der neuesten Serie: ob Tiere, Pflanzen, Jubiläen. Geschmäcker sind verschieden… und gewiss würde ich nie wieder, nicht einmal innerlich, lachen, wenn seine Wahl auf Amöben- und Moosbilder fiele! – erkläre sie mir, die Moorwelt, Opa; erzähl mir einen Teil deines Lebens. – Denn ich würde ihn gekannt haben wollen. Nein, ich will ihn gekannt haben; ich habe ihn auch gekannt, werde ihn immer irgendwie kennen und sein Bild vor Augen haben.
Seit dem Tod erzählt sich mein Leben im Konjunktiv. Bis zu dem Punkt, an dem diese lose schwebende Zeit ihre Notwendigkeit verliert. Bis Vergangenheit und Gegenwart wieder nahtlos aneinander anschließen und die Aussicht auf eine erinnernde Zukunft plausibel erscheinen lassen werden. Trauer.
Jerusha Präpst
Onii-chan
Ein langer gequälter Atemzug, ein Keuchen, Stille. Ich schließe zufrieden meine Augen und drehe mich zur Wand. Endlich Ruhe. Ich bin müde. Langsam beginne ich wegzudämmern. Ein rasselnder Husten. Meine Augen klappen auf und der Blick, der von mir ausgeht, ermordet die Steinwand vor mir. Wieder ein Keuchen, wieder ein gequälter Husten. Dann eine zarte, ganz schwache Stimme: „Onii-chan?“ Genervt drehe ich mich wieder um und blicke das kleine Mädchen bitterböse an. „Was ist?“ Meine Stimme ist hart, meine Worte lieblos. „Sei endlich still. Ich will schlafen. Ich kann auch nichts machen, genauso wie Mama, also sei endlich still. Ich will schlafen!“ Ich, ich, ich. Aber das ist jetzt egal, ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir und brauche meinen Schlaf. Außerdem kann ich ja sowieso nichts für sie tun. Stille. Dann höre ich Papier rascheln. Was ist denn jetzt schon wieder? Ein Stift kratzt über das Blatt, dann herrscht Stille. Ich schließe wieder meine Augen und dämmere vor mich hin. Wieder ein qualvolles Husten, krachender Husten. „Sakura.“ Zurechtweisend. Genervt und kalt. Stille. Gleichmäßiges Atmen. Ich schließe abermals meine Augen, doch ich kann nicht schlafen. Es ist ruhig. Zu ruhig. „Sakura-chan?“ Keine Antwort. Ich halte die Luft an. Vollkommene Stille. Hastig klettere ich aus meinem Bett und tapse zu ihrem. Sie liegt ruhig da, die Augen geschlossen, ihre Brust liegt still. „Sakura-chan.“ Das Blatt. Ich greife danach. Acht Worte. „Onii-chan. Du bist das Wichtigste für mich.“ Ich schreie. Plötzlich fahre ich auf, mein Herz pocht laut in der Stille. Mein Blick gleitet durch meine Wohnung. Leer. Absolute Ruhe. Nur das Blut rauscht in meinen Ohren und mein hämmernder Herzschlag ist betäubend laut. Mein Schrei gellt in meinem Kopf, wieder und wieder. Langsam versuche ich zur Ruhe zu kommen, ich fahre mir über den grauen Bart. Endlich atme ich wieder normal. Ich drehe mich zur Wand, ich kann besser schlafen, wenn ich ihr entgegenblicke. Keine Ahnung warum. Mit geschlossenen Augen warte ich auf den Schlaf. Keuchen. Ein rasselnder Husten. Ich reiße die Augen auf und setze mich aufrecht hin, mein Blick gleitet panisch umher. Das Zimmer liegt totenstill da, mir gegenüber ein leeres Bett. Unbenutzt. Weiß und rein. Um mich herum ist nur Stille. Ich schließe die Augen und versuche zu schlafen, der Morgen graut schon. Ein rasselnder Husten. Ich halte mir die Ohren zu, presse die Augen zusammen, doch es hilft nichts. Ich kann nicht schlafen. Das Husten und Keuchen klingt laut in der ungestörten Stille.
Onii-chan: japanisch für „großer Bruder“
Sakura-chan: -chan ist eine japanische Verniedlichungsform
Kommentar: Teilweise schwer zu entschlüsseln. Ergreifend trotzdem die Kernbotschaft: Wie schrecklich, wenn man zu spät erkennt, dass man eine große Liebe nicht gebührend erwidert hat.
Jens Pfennig
Emanzipation
Es waren einst mal drei Emanzen,
die wollten anderes als tanzen.
Sie wollten wie die Männer sein,
mit Rechten, Pflichten, ganz gemein.
Sie buchten dann für ganz viel Geld
eine Schifffahrt in die neue Welt.
Unsinkbar soll's gewesen sein,
das Kreuzfahrtschiff der Extraklasse,
doch fährt es in n'en Eisberg rein,
und abwärts geht es mit der Masse.
Nur die Kinder und die Frauen,
fanden Platz im Rettungsboot,
allen and‘ren blieb das Grauen,
sie fanden einen kalten Tod.
Und als unsre drei Emanzen,
dann