Nicht nur am Leben bleiben. Vera Wendt

Nicht nur am Leben bleiben - Vera Wendt


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Dahlien, Sonnenblumen und Astern musste Platz sein. Mathilde grübelte oft lange, nachts, wenn die Eltern schliefen. Sie beweinte die düsteren Zukunftsaussichten und ihr totes Kind. Manchmal konnte sie mit dem Weinen lange nicht aufhören. Doch der Kampf ums Überleben ging jeden Tag weiter.

      Mathilde erledigte nun viele Arbeiten, die vor dem Krieg Gustav und später ihr Vater gemacht hatten. Beim Umsetzen des Komposts dachte sie, dass sie es nicht schaffen würde. Aber sie wusste, ohne Komposterde würde es keinen Dünger für die Pflanzen geben, also musste sie weitermachen. An diesem Abend fiel sie erschöpft ins Bett und schlief sofort ein. Nachts musste sie an Gustav denken und konnte dann nicht schlafen. Ob er noch lebte? Die letzte Nachricht war vom April und er hatte sie in der Nähe von Danzig geschrieben.

      Im Laufe des Septembers wurde wieder eine Briefzustellung eingerichtet. Mathilde hatte nach Elsbeths Tod keine Anzeigen verschicken können, aber an einige wenige Verwandte geschrieben. Offenbar waren die Briefe bei ihren Adressaten angekommen, denn sie erhielt einige Beileidsschreiben. Zuerst machte sie den Brief von Erna auf, ihrer Schwiegermutter von der Ostsee. Sie schrieb teilnahmsvoll über den Tod von Elsbeth und voller Sorge um Gustav und ihren jüngsten Sohn Wilhelm, der an der Westfront in einem Lazarett gedient hatte. Es gab unbestätigte Nachrichten von ehemaligen Kameraden, dass er sich in französischer Gefangenschaft befand. Von Ernas sieben Geschwistern hatten sich auch noch nicht alle wieder gemeldet. Aber ihre größte Sorge galt Gustav. „Man trifft ab und zu schon Heimkehrer, die in der Nähe von Danzig waren“, schrieb sie, „die als Kranke in die Heimat zurückgeschickt worden sind. Aber die Gesunden haben die Russen doch weiter weg nach Sibirien gebracht, sodass sie kaum Nachricht geben können.“ Das klang nicht ermutigend.

      Bis 1943, als die häufigen Bombenangriffe begannen, war Mathildes Schwiegermutter regelmäßig in Berlin gewesen. Danach erschien Erna Reisen zu gefährlich, sie blieb lieber auf dem Lande, wo keine Bomben fielen.

      Seit dem plötzlichen Tod von Gustavs Vater im Jahre 1928 wohnte Erna in Bogenhagen, einem Dorf an der mecklenburgischen Küste, das jetzt zur sowjetisch besetzten Zone gehörte. Von dem kleinen Erbe hatte sie das frühere Sommerhaus winterfest gemacht, sodass sie dort mit der schmalen Witwenrente erträglich leben konnte. Zusätzlich betrieb sie eine kleine Nähstube, obwohl sie selber weder geschickt in Handarbeiten noch im Wirtschaften war. Für das Eine hatte sie Näherinnen aus dem Ort, für das Andere ihren Sohn Wilhelm. Sie „machte die Honneurs“, wie man früher sagte, holte Aufträge ran, redete mit den Leuten und hielt Kontakte. Die Kunden kamen gerne, denn sie war eine gute Unterhalterin und konnte sehr liebenswürdig sein. Als Wilhelm eingezogen wurde, musste sie sich selbst um Einkauf, Buchführung und Lohnzahlungen kümmern, was ihr sehr schwer fiel. Durch den Krieg und die folgenden Notzeiten kam das Geschäft zum Erliegen. Mühsam überlebte sie den Krieg. Mathilde hatte immer Briefkontakt mit ihr und dabei würde es wohl vorerst bleiben, denn an Reisen war nicht zu denken.

      Auch die meisten anderen Briefe waren Kondolenzschreiben. In wohl gewählten oder ungeschickten Worten drückten die Absender ihre ehrliche Anteilnahme am „Heimgang Eures über alles geliebten Schatzels“ aus und zeigten sich zuversichtlich, dass Gustav heimkehren würde. Für Mathilde gab es keinen Trost, aber sie war gerührt. Nur der Brief von Gustavs Tante Magdalena, die mit dem Pfarrer in Pommern verheiratet war, irritierte sie. Diese schrieb: „Wenn wir ganz uneigennützig in unserer Liebe wären, könnten wir uns ja freuen, dass solch ein liebes Seelchen sich nun entfalten darf, ohne die Rauheit der Sünde zu schmecken.“ Tante Magdalena hatte ursprünglich 12 Kinder haben wollen – lutherisches Pfarrhaus eben - doch es war bei dreien geblieben, die inzwischen erwachsen waren. Mathilde fragte sich, ob die Tante wohl auch so geschrieben hätte, wenn eines ihrer Kinder umgekommen wäre. Sie war gläubig, obwohl sie mit der demütigen Annahme von Gottes Willen im Moment ihre Probleme hatte, aber diese jenseits gerichtete Denkweise war ihr fremd. Ihr Gottvertrauen, das immer noch da war, richtete sich auf das Diesseits, da gab es genug zu tun.

      Gustavs Bruder Walther aus Bayern schrieb, dass Wilhelm, der jüngste Bruder, sich wie vermutet in einem Gefangenenlager in Frankreich befand. Eine Nachbarin bekam eine Karte von ihrem Mann, der in England gelandet war, der Mann einer anderen arbeitete in den USA auf den Baumwollfeldern. Nur aus Russland hörte man gar nichts. Aus einer der ersten Zeitungen erfuhr Mathilde, dass das Rote Kreuz sich um die Gefangenen kümmern und außerdem einen Suchdienst aufbauen wollte, um die durch den Krieg auseinandergerissenen Familien wieder zusammen zu führen. Sie selbst hatte wenige Verwandte, aber Gustavs Familie war groß und die Kontaktpflege war ihm immer wichtig gewesen. Zum Glück hatte sie bisher noch keine Todesnachricht bekommen und sie wusste von vielen Verwandten, wo sie sich befanden. Gustav war der Einzige, dessen Schicksal ungeklärt war.

      Das Leben im Garten stärkte sie, obwohl es Tage und Nächte gab, in denen die Verzweiflung von ihr Besitz ergriff und sie sich in den Schlaf weinte. Körperlich ging es ihr erstaunlich gut. Natürlich hatte sie wie jeder durch die jahrelange Notzeit stark abgenommen. Ihre Kleider und Röcke aus der Vorkriegszeit – und andere hatte sie nicht - musste sie mit einem Gürtel zusammenhalten. Dennoch glaubte sie, dass sie nicht verhungert aussah. Nachprüfen konnte sie das nicht, denn ein Spiegel gehörte nicht zu den Einrichtungsgegenständen, die sie in der Laube für notwendig hielt. Um ihre feinen, halblangen Haare zu einem Dutt zu binden, brauchte sie ihn nicht. Unter dem Kopftuch war sowieso nichts zu sehen.

      Alle zwei Wochen fuhr sie nach Berlin, meistens auf dem Trittbrett des Vorortzuges. Sie versuchte, Freunde und Bekannte aus der Vorkriegszeit wiederzufinden, und sah nach der Wohnung der Eltern. Man konnte immer noch vom Hof aus in die Zimmer sehen. Das Mobiliar hatte sie vom Schutt befreit und so gut es ging in den Flur befördert, der noch erhalten war und Schutz gegen die Witterung bot. Diese Aktion war gefährlich, sie hatte von Leuten gehört, die dabei abgestürzt und von Trümmern erschlagen worden waren. Deshalb versuchte sie, nicht zu nahe an die Abbruchkante zu kommen. Den alten Ohrensessel ihres Vaters ließ sie lieber stehen, er hing mit einem Bein über der Kante und war durch Schutt und Regen ohnehin ramponiert.

      Als Mathilde den Eltern von ihrem Besuch berichtete, fragte ihre Mutter nach Einzelheiten. Mathilde reagierte unwirsch: „Ihr habt doch gesehen, dass die eine Wand weg war. Daran hat sich nichts geändert. Mehr als Sachen sichern kann ich auch nicht. Immerhin steht das Haus noch – im Gegensatz zu meiner Wohnung in der Potsdamer Straße. Vielleicht fällt es eines Tages zusammen wegen Schäden, die wir nicht sehen. Da möchte ich nicht dabei sein.“

      „Schon gut“, antwortete Auguste, ihre Mutter, „ich weiß ja, dass du alles Menschenmögliche tust. Wo sollen wir bloß hin, wenn der Winter kommt?“

      Leider musste Mathilde bei einem ihrer Besuche feststellen, dass jemand in die Wohnung eingebrochen war. Die Wintermäntel und alles feste Schuhwerk waren weg. Solche Dinge waren nicht zu ersetzen. Später erfuhr sie, dass auch in anderen Wohnungen Einbrecher am Werk gewesen waren. Es hieß, dass die sowjetische Besatzungsmacht hart gegen Plünderer vorging, wenn sie welche erwischte. Doch die Not war groß und damit die Versuchung, leichte Beute zu machen. Ihre Wintersachen waren vermutlich längst auf dem Schwarzmarkt gelandet, wo man alles bekam, nur zu astronomischen Preisen und gegen Zigaretten oder im Tauschhandel. Mathilde konnte nur hoffen, dass sie vor dem Winter im Verwandten- oder Freundeskreis Winterbekleidung bekommen könnte. Mit den Größen durfte man nicht pingelig sein.

      Im Auftrag der sowjetischen Besatzungsmacht begannen die deutschen Kommunisten, eine zivile Verwaltung aufzubauen. Früher hatte Mathilde diese politische Richtung immer abgelehnt, aber jetzt erschienen sie ihr sehr rührig. Sie organisierten Hausversammlungen, informierten zuverlässig und bauten tatsächlich die zerstörte Wand wieder auf. Allerdings war der Jargon nach wie vor nicht ihr Fall und das ständige Gerede von der „ruhmreichen Sowjetunion“ ging ihr auf die Nerven. Doch sie zogen alle drei im Oktober wieder in die alte Wohnung ihrer Eltern, darauf kam es erstmal an. Sie hatten schon befürchtet, endgültig obdachlos zu werden und in eines der Lager zu müssen, so wie die zahllosen Flüchtlinge aus den Ostteilen des einstigen Deutschen Reiches. Einquartierungen hatten sie bei eineinhalb Zimmern für drei Erwachsene nicht zu befürchten.

      Mathilde wollte gerne Frau Winterstein besuchen. Allerdings hatte sie bemerkt, dass an der Tür ein kleiner Zettel mit Buchstaben in der alten deutschen Sütterlin-Schrift angebracht war, die im Reich seit 1941 nicht mehr gelehrt worden war.


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