Nicht nur am Leben bleiben. Vera Wendt
bereits völlig durchnässt und den Schuhen drohte das gleiche Schicksal. Verdammte Diebe, die alle Wintersachen gestohlen hatten! Sie musste den Heimweg antreten.
Mitte Dezember kam die Antwort von Herrn Kowalsky. Gustavs Einheit hatte wie vermutet kurz vor Kriegsende vor den Russen kapituliert. Wer noch laufen konnte, war in die Gefangenschaft gegangen. Gustav war unverletzt geblieben. Über seine Erkrankung konnte Herr Kowalsky nichts sagen, nur, dass Gustav wegen Fiebers auf der Krankenstation gelegen hatte. In russischen Lagern kannte man als Krankheiten nur Fieber und Durchfall, sonst mussten die Gefangenen weiterarbeiten. Seine Angaben über den Ort halfen Mathilde nicht weiter. Herr Kowalsky war mit Gustav in Litauen gewesen, doch sollte das Lager aufgelöst und die Insassen in die Ukraine geschickt werden. Deshalb war er entlassen worden.
Diese Informationen stimmten weitgehend mit dem überein, was Mathilde bisher erfahren hatte. Allerdings hielten es die meisten für unwahrscheinlich, dass Gefangene von Litauen in die Ukraine geschickt wurden. Mathilde hörte auch, dass die Männer in der Ukraine in den Sümpfen arbeiten mussten und viele das Klima und die harte Arbeit nicht aushielten. Die Männer, die auf Bauernhöfen arbeiteten, hatten es meist besser als die in den Lagern, zumindest was die Versorgung betraf. Dafür gab es dort keinerlei Möglichkeiten, Post zu bekommen oder zu versenden.
Das erste Friedensweihnachten war ein dunkles Fest. Vater hatte von einem alten Bekannten Kerzen besorgt und Mutter hatte aus Ersatz-Zutaten einen Kuchen gebacken. Sie saßen um den Tisch herum und sangen Weihnachtslieder, aber irgendwann fing Mathilde an zu weinen. Sie dachte an das letzte Christfest, an dem sie noch ein kleines Christkind in der Wiege zu liegen hatten. Ihre Eltern hatten wohl den gleichen Gedanken, denn sie weinten spontan mit. Schließlich sagte die Mutter:
„Wir dürfen uns nicht so hängen lassen. Alle Deutschen haben Opfer bringen müssen. Wir sind am Leben, Gustav wahrscheinlich auch. Und es kann nur besser werden. Wir dürfen unseren festen Glauben und unser Gottvertrauen nicht verlieren.“
Gegen Abend gingen sie in die überfüllte Kirche. Der Pfarrer dankte Gott für den Frieden, und betete für die Kriegsgefangenen. Mathilde war nicht die einzige, die immer wieder schluchzte. Das altbekannte „Stille Nacht“ tat ihrer Seele gut, aber die Erinnerung an Elsbeth überwältigte sie. Alle gingen still nach Hause und legten sich sofort schlafen.
Im Januar gab Mathilde eine Suchanzeige für Gustav bei der Inneren Mission am Bahnhof Zoo auf. Wenn er noch lebte – und daran glaubte sie fest - musste es doch möglich sein, eine Postadresse rauszukriegen. Die Sachbearbeiterin machte ihr nicht viel Hoffnung auf ein baldiges Ergebnis. Mit allen anderen Alliierten gab es inzwischen eine gute Kooperation, doch die sowjetischen Behörden arbeiteten sehr schwerfällig, wenn überhaupt.
Es gelang ihr, eine Ladung Lampen von der Fabrik zu Herrn Reuter transportieren zu lassen. Sie war sehr stolz auf das erste selbst organisierte Geschäft. Am gleichen Tag kam wie in alten Zeiten der Katalog der Samenhandlung „Säende Hand“ und sie bestellte von ihrem kleinen Verdienst Samen für Erbsen und anderes Gemüse. Auch ein paar Blumen waren dabei. Bohnensamen und Steckzwiebeln wurden nicht angeboten, die musste sie wohl gegen Zigaretten tauschen. Wie freute sie sich auf die Rückkehr in den Garten! Raus aus der kleinen Wohnung, nah an der Natur sein, nah am Grab von Elsbeth und auch nah an Gott, jedenfalls stellte sie es sich so vor.
Vor dem Krieg war Gustavs Organisationstalent oft bewundert worden und sie selbst hatte sich als helfende Stütze im Innendienst gesehen. Aber nun stellte sie fest, dass sie sehr wohl in der Lage war, Kontakte zu Kunden und Lieferanten wieder aufzubauen und mit ihnen Geschäftsbeziehungen zu pflegen. Es machte ihr sogar Spaß und bot die Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen und mit vielen Menschen zu reden.
Anfang März gingen die im Keller eingelagerten Kartoffeln zu Ende. Die Eltern hatten Verwandte in Anhalt, zu denen der Kontakt bisher nicht sehr eng gewesen war. Schließlich lebten sie schon seit Beginn des Jahrhunderts in Berlin. Aber jetzt schrieb der Vater an einen seiner vielen Brüder – sie waren 16 Geschwister gewesen, von denen acht das Erwachsenenalter erreicht hatten - und bat um die Vermittlung der Adresse eines Bauern, der Kartoffeln verkaufte. Sie hatten zwar kein Geld, aber ein paar Teile von dem Silberbesteck, das sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten, waren noch da. An einem Frühlingstag stiegen sie in einen übervollen Zug und kamen am Abend ohne Silber aber mit drei Rucksäcken voller Kartoffeln zurück.
Die stundenlange Fahrt auf den Trittbrettern des Zuges war allerdings so anstrengend, dass die Mutter hinterher eine Woche mit Fieber im Bett lag. Dabei konnten sie noch von Glück sagen, dass sie nicht von der Polizei erwischt worden waren, die ihnen mit Sicherheit das bisschen, was sie hatten ergattern und tragen können, abgenommen hätte. Und Mathilde würde nie das triumphierende Lachen des Bauern vergessen, der vor ihren Augen ein halbes Pfund Butter in die Pfanne geworfen hatte.
Die Strapazen dieser Hamsterfahrten erschienen ihnen so groß, dass sie beschlossen, in Zukunft noch weniger zu essen und dafür länger zu schlafen. Mathilde konnte das nicht immer so machen, denn ihre Geschäfte wurden langsam mehr. Der Verdienst war nicht groß, aber am Ende des Winters konnte sie damit an die Verlegung von Wasser und Strom im Garten denken. Sie schrieb eine Postkarte an Herrn Wolter im Nachbardorf, der vor dem Krieg solche Arbeiten erledigt hatte. Er antwortete mit „zeitgemäßer Verzögerung“, sagte grundsätzlich zu, wies aber auf die Schwierigkeiten hin, einen Zähler zu bekommen. Und dann schrieb er noch: „Leider schreiben Sie nur im Singular? Sollte das Schicksal auch in ihr Leben gegriffen haben?“ Mathilde war gerührt und die Tränen traten ihr in die Augen wie immer, wenn sie an Elsbeths Tod erinnert wurde. Ihr Vater, der auch am Wohnzimmertisch saß, legte ihr sanft eine Hand auf den Arm.
„Du darfst dich nicht so gehen lassen“, mahnte ihre Mutter, die gerade ins Wohnzimmer kam. „Versuche einfach, nicht mehr so viel daran zu denken. Wir müssen nach vorne sehen.“
„Jetzt lass sie doch mal in Ruhe. Sowas dauert eben“, sagte der Vater in einem für seine Verhältnisse energischen Ton. Auguste verschwand grummelnd in der Küche. Ernst nahm Mathilde in den Arm, sie weinte und weinte. Sie staunte selbst darüber, dass die Worte eines Fremden sie so berührt hatten. Ja, das Schicksal hatte in ihr Leben eingegriffen. Sie befand sich an einem Tiefpunkt, von dem aus sie wieder hochkommen musste. Und sie würde es schaffen, das wusste sie. Wenn sie nur fest daran glaubte, könnte der Herrgott es richten, dass Gustav zurückkehrte und sie vielleicht wieder eine kleine Elsbeth haben konnten.
Mathilde organisierte den Zähler, gab Herrn Wolter, dessen Tochter ihr erstes Kind erwartete, das Geld, das sie hatte, den Kinderwagen und das Wenige, was von Elsbeths Babyausstattung noch übrig war, und versprach ihm Obst und Gemüse aus dem Garten. So konnte sie die Gartensaison mit unerwartetem Luxus beginnen.
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