Nicht nur am Leben bleiben. Vera Wendt
im Nachbarhaus, hinter der sie Geräusche hörte. Eine alte Frau mit wirren Haaren öffnete die Tür einen Spalt breit.
„Was wollen Sie?“, fragte sie misstrauisch in schlesischem Dialekt.
„Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Bewohner des Nachbarhauses finde? Es scheint ja, dass alle leben.“
„Woher soll ich das wissen?“, entgegnete die Frau mürrisch. „Werden wohl zu Verwandten sein, wenn sie welche haben.“
„Vielleicht kannten Sie jemand aus dem Haus?“, insistierte Mathilde. Das war wohl eine Frage zu viel.
„Was geht Sie das an? Und überhaupt, was wollen Sie hier? Bestimmt klauen und alles verschieben, das tut doch jetzt jeder. Oder kommen Sie von der Behörde und wollen armen Menschen das Leben schwer machen?“ Die alte Frau schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
Mathilde konnte sich den Ärger der Frau nicht recht erklären. Sie hatte doch ganz höflich gefragt und im Allgemeinen half man sich gegenseitig bei der Suche nach Freunden und Verwandten. Schließlich suchten alle irgendjemand. Wahrscheinlich gehörte die Frau zu den aus Schlesien, Pommern oder Ostpreußen Vertriebenen, die alles aufgeben mussten, in langen Trecks gen Westen flüchteten und froh waren, wenn sie die Kinder und das eigene Leben retten konnten. Vielleicht hatte sie Schlimmes erlebt, war überall herumgestoßen worden und hatte schlechte Erfahrungen mit Fremden und Behörden gemacht. Mathilde hörte immer wieder schreckliche Geschichten, insbesondere von Frauen, die auf der Flucht von ihren Kindern getrennt worden waren. Für deren Verzweiflung hatte sie Verständnis.
Außer ihr war niemand auf der Straße. Es würde bald dunkel werden und sie hatte noch den Fußmarsch nach Hause vor sich. Deshalb suchte sie nicht weiter nach Gudrun. Die Freundin würde sie sicher bei ihren Eltern finden. Den Besuch in Reinickendorf verschob sie auf den nächsten Tag.
„Ein Glück, dass du kommst!“, rief ihre Mutter aus, als Mathilde todmüde um 19 Uhr die Tür aufschloss. „Es ist schon lange dunkel und ich habe mir Sorgen gemacht. Musste es denn so spät werden?“
„Es wird oft nicht anders gehen“, antwortete Mathilde leicht gereizt und betrat die Küche. „Wie soll ich es anders machen, wenn die Straßenbahn noch nicht wieder fährt und ich laufen muss?“
„Ich habe ja gleich gesagt, dass das ein Unsinn ist mit der Lauferei“, entgegnete Auguste, „viel zu gefährlich! Wer sich alles bei Dunkelheit auf der Straße rumtreibt – nicht auszudenken, was dir passieren könnte.“
„Also Mutter“, erwiderte Mathilde ärgerlich, „ich mache das nicht aus Jux und Dollerei, sondern weil ich ein Ziel habe. Um diese Jahreszeit wird es früh dunkel, aber das heißt nicht, dass die Straßen voller Krimineller sind. Allenfalls wird man von einer Militärstreife nach den Papieren gefragt, und die sind bei mir in Ordnung. Also mach‘ dir bitte keine Sorgen mehr und gewöhne dich daran, dass ich öfter spät kommen werde. Es geht nicht anders.“
„Auguste“, rief der Vater aus dem Wohnzimmer, „komm doch bitte mal her und hilf mir bei diesem Kreuzworträtsel.“
„Ich komme schon, Ernst“, brummte die Mutter und verließ grollend die Küche. Mathilde setzte sich auf einen Stuhl und holte sich ein Glas Wasser. Sie wusste, ihr Vater würde versuchen, die Mutter zu beruhigen. An ihrem festen Entschluss weiterzumachen würden die Einwände nichts ändern, aber es war so furchtbar anstrengend, auch noch zuhause kämpfen zu müssen.
Herrn Hartwig zu finden war schwierig, weil der gewaltige Trümmerberg des Vorderhauses den Zugang zu seinem Hof versperrte. Mathilde erkundigte sich bei den Trümmerfrauen, die in langer Reihe Steine zu einer Lore weiterreichten, und erreichte das Gelände über das Nachbargrundstück. Bei Herrn Hartwig sah es schon nach Werkstatt aus. Einige Männer bearbeiteten Motorteile, jedenfalls hielt Mathilde sie dafür. Sie besaß keinen Führerschein. Gustav hatte sein Auto, das er für das Geschäft dringend brauchte, immer selbst fahren wollen. Sie fragte einen der Arbeiter, der einen durchlöcherten Reifen mit Lederflicken zu reparieren versuchte, nach dem Büro und dieser zeigte auf eine Reihe demolierter Kleinlastwagen, die offenbar vom Bombenkrieg übrig geblieben waren.
„Hinter den LKWs ist eine Baracke, da finden Sie den Chef.“
Mathilde betrat das kleine Büro, das vom restlichen Teil der Baracke durch einen Vorhang abgeteilt wurde. Herr Hartwig begrüßte sie freundlich und zeigte sich gesprächig. „Ach, von Papa Krause kommen Sie. Wie geht`s ihm denn? Er ist ganz schön krumm geworden, seit der Sohn gefallen ist. Und meine Tochter wurde mit 21 Jahren Kriegerwitwe. Da werden wir wohl keine Enkel mehr erleben. Aber was rede ich da und beklage die schrecklichen Zeiten. Jetzt habe ich Sie noch gar nicht gefragt, was Sie zu mir führt.“
Mathilde erklärte ihm, dass sie eine Transportmöglichkeit suche, für den Fall, dass Herr Krause wieder die Produktion von Lampen aufnehmen könnte.
„Im Moment geht es nicht, aber wir versuchen, aus den noch verwertbaren Teilen unserer Fahrzeuge ein neues zusammenzusetzen. Doch das dauert und außerdem gibt es kein Benzin. Aus dem Grund hat ein Tüftler in Westdeutschland den Holzvergasermotor erfunden. Aber für den brauche ich sehr viel Holz und das System ist nicht besonders zuverlässig. Ich habe ja noch nicht mal Holz genug, um diese Baracke erträglich zu heizen. Wir hatten eine Wohnung im Vorderhaus und haben uns hier nach dem Bombenangriff notdürftig eingerichtet.“ Herr Hartwig zeigte auf den Vorhang. „Meine Frau und meine Tochter stehen gerade nach Brot an. Deshalb ist es hier so ruhig. Aber ich weiß nicht, wie wir in diesem kalten Loch den Winter überstehen sollen.“
„Können Sie mir Nachricht geben, wenn Sie wieder Transporte übernehmen?“, unterbrach Mathilde seinen Redefluss.
„Ich kann Ihnen gern eine Postkarte schreiben“, bot ihr Herr Hartwig an, „aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es vor Weihnachten mit dem Transport was wird. Vielleicht versuchen Sie es besser mit einem Pferdefuhrwerk von einem der Dörfer. Die brauchen weder Holz noch Benzin und das Futter ist auf dem Land leichter zu beschaffen.“
Mathilde verließ die Baracke. Ihr ging die Bemerkung mit den Enkeln nach. Die Kriegerwitwen hatten wenig Chancen, wieder zu heiraten, wie überhaupt alle Frauen im heiratsfähigen Alter. Eine ganze Generation von Männern war im Krieg gefallen, verwundet oder in Gefangenschaft geraten, deren Ende ungewiss war. Es würde viele Jahre lang nur wenige Kinder geben.
Und ihr eigenes Leben? Wenn Gustav nicht wiederkam, würde sie auf Dauer das armselige und einsame Dasein einer Kriegerwitwe führen und wäre nach dem Tod der Eltern allein auf dieser Welt. So wie Frau Winterstein und viele andere.
Nein, sie durfte nicht daran denken. Es war ihre feste Überzeugung, dass Gustav zurückkommen würde, egal in welchem Zustand, da vertraute sie voll auf die göttliche Fügung. Sie hatte die Verpflichtung, für eine Existenzgrundlage zu sorgen, und diese Aufgabe wollte sie annehmen. In den letzten beiden Tagen hatte sie damit angefangen und sie war entschlossen weiterzumachen.
4
Als sie am Spätnachmittag nach Hause kam, hungrig von der vielen Lauferei ohne Essen, lag ein Brief für sie im Flur. „Bestimmt von einem deiner Kunden“, vermutete ihre Mutter, die in der Küche Kartoffeln und Weißkohl zubereitete. „Wird ja auch Zeit, dass mal einer antwortet.“
Mathilde kannte den Absender nicht. Wieso schrieb ihr ein Herr Kowalsky aus Langensalza im Harz? Voller Spannung öffnete sie den Brief und las:
Werte Frau Kuhrt!
Im freundschaftlichen Auftrage von Ihrem Mann Gustav, der mit mir in russischer Kriegsgefangenschaft war, will ich Ihnen berichten: Ich bin am Sonnabend aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und zwar deshalb, weil ich Kriegsbeschädigter bin. Ihr Mann musste zwar noch dableiben, ich hoffe jedoch, dass auch er bald bei Ihnen sein wird. Durch mich nun nehmen Sie die allerherzlichsten Grüße von Ihrem Mann entgegen. Er war eine Zeitlang krank gewesen, als ich ihn verließ, war er jedoch auf dem Wege der Besserung. Seien Sie darum ohne Sorge, auch für Sie kommt einmal der Tag. Ich bin ein Ostpreuße und laufe nun mittellos in der Welt herum. Erlaube mir Sie auf’s freundschaftlichste zu grüßen und dass Sie Ihren Mann