Nicht nur am Leben bleiben. Vera Wendt
jahrelang zuverlässig beliefert. Er kennt mich und kann mir vielleicht Hinweise geben. Gustav soll etwas vorfinden, wenn er wiederkommt“, erwiderte Mathilde gereizt.
Sie sah am Blick ihrer Mutter, dass diese Gustavs Rückkehr für sehr unwahrscheinlich hielt, zumindest daran zweifelte.
„Mach dich nicht kaputt, Kind. Du bist ohnehin nur noch ein Strich in der Landschaft und ich kann dir außer einem Stück Brot nichts zu essen mitgeben. Schreibe dem Mann doch lieber, das ist weniger aufwändig.“
„Dann warte ich wieder mindestens zwei Wochen, bis ich eine Antwort bekomme. In der Zeit muss ich nicht hier rumsitzen, sondern ich kann etwas voranbringen. Und persönliche Kontakte sind im Geschäftsleben nun mal besser.“
„Keiner hat etwas davon, wenn du dich für die Firma kaputt machst.“
Mathilde merkte, wie der Ärger in ihr hochstieg. Ihre Mutter hatte keine Ahnung vom Geschäftsleben und hielt ihr Vorhaben für Unsinn, das war klar. Aber davon würde sie sich nicht abhalten lassen.
„Gustavs Firma ist auch meine und es gibt für mich viel zu tun, damit sie wieder in Gang kommt. Ich gehe morgen früh um 8 Uhr los, ob dir das passt oder nicht“, sagte sie nur knapp, schloss die Tür etwas lauter als sonst und ging ins Wohnzimmer, wo sie jetzt auf der alten, durchgesessenen Couch schlief.
Sie hörte, wie ihr Vater zur Mutter sagte: „Lass sie doch, Auguste, sie tut das für Gustav, das ist doch in Ordnung. Und ich gehe mich morgen anstellen.“ Ihr Vater versuchte immer zu beschwichtigen und zu vermitteln.
Als Mathilde am nächsten Tag frühmorgens in die klare, kalte Herbstluft hinausging, fühlte sie sich freier. Endlich raus aus der Wohnung! Es tat ihr leid, dass sie so schroff zu ihrer Mutter gewesen war, die das nicht verdient hatte und sie in vielen Dingen unterstützte. Aber manchmal konnte sie diesen Ton nicht ertragen. Wie hatte sie das bloß früher ausgehalten? Schließlich war sie bis zur Heirat bei ihren Eltern geblieben. Danach mit Gustav hatte sie in einer 4-Zimmer-Wohnung in Tiergarten gewohnt, davon belegte das Geschäft zwar die zwei größten Räume, aber dennoch war ihr die Wohnsituation immer großzügig vorgekommen. Und erst die Bequemlichkeiten! Wie sehr vermisste sie die Zentralheizung und das Telefon, das Gustav altmodisch „Fernsprecher“ nannte. Die Öfen in der Wohnung ihrer Eltern funktionierten zwar noch, aber Kohlen bekamen sie nur über Beziehungen. Zum Glück hatte sie im Laufe der Jahre ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn in Mittendorf aufgebaut, die sich im Wald gut auskannten und wussten, wo man Holz fand.
Und sie musste froh sein, wenn Post und Verkehrsmittel einigermaßen funktionierten – oder eben laufen. Jetzt lag ein Fußmarsch von zwei bis drei Stunden vor ihr, je nachdem, wie viele Trümmer in den Straßen lagen.
Die kleine Fabrik befand sich auf einem Gewerbegelände am Mehringdamm, das auch andere Firmen beherbergte. Als Mathilde die Bombentrichter und die teilweise zerstörten Gebäude sah, vermutete sie, dass hier keine Geschäfte mehr gemacht wurden. Doch bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass an einzelnen Gebäuden schon Reparaturen vorgenommen worden waren, und sie hörte Hämmern und Sägen. Das Schild „Lehmann - Fabrikation von Lampen und Leuchtmitteln“ und darunter: „Inh: Alfred Krause“ hing noch am Eingang der kleinen Fabrik. Der frühere Haupteingang war verriegelt, aber sie wusste, wo der Hintereingang war. Vorsichtig klopfte sie an.
Herr Krause öffnete die Tür. Er war ein kleiner, grauhaariger Mann, der deutlich gebeugter ging als früher. Unter normalen Umständen hätte er seine Fabrik schon längst seinem Sohn übergeben, aber der war am Anfang des Krieges gefallen.
„Frau Kuhrt, wie schön Sie zu sehen, kommen Sie rein“, rief er erfreut und bat sie in sein kleines Büro.
„Wie geht es Ihrem Mann und der Kleinen?“
Mathilde erzählte ihm mit leiser Stimme von Gustav und dem Tod von Elsbeth. Der alte Mann wirkte ehrlich betrübt.
„Was für ein Jammer! Aber ich bin überzeugt, Ihr Mann wird wiederkommen. Ich habe ihn wirklich gerngehabt, nicht nur weil er ein solider Geschäftsmann war.“
„Ich hoffe, er kehrt gesund heim“, antwortete Mathilde. „Jetzt habe ich vor, das Geschäft selbst provisorisch zu betreiben, damit er etwas vorfindet, wenn er zurückkommt. Natürlich kann ich seinen technischen Sachverstand nicht ersetzen, aber die kaufmännischen Dinge habe ich ja früher auch gemacht.“
„Im Moment kommt es auf das Technische nicht so an. Viel wichtiger ist Organisationstalent, aber das haben Sie ja. Ich habe Ihnen schon geschrieben, dass ich im Moment nichts produzieren kann. Wir kriegen zwar das Fabrikgebäude wieder einigermaßen hin, aber ich habe kein Material. Zum Glück ist im Keller ein Posten Lampenfassungen von den Bomben verschont geblieben, wenn ich Kabel hätte, könnte ich provisorische Lampen herstellen. Von meinen Arbeitern sind nicht viele übrig, entweder sie sind gefallen oder in Gefangenschaft. Die Älteren waren zum Schluss noch beim Volkssturm, da sind auch welche umgekommen. Ach, es ist schrecklich, sie waren alle lange bei mir und wir sind zusammengewachsen. Manche von den wenigen übrig Gebliebenen würden gerne zurückkommen. Es wird sicher irgendwann wieder weitergehen, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wann. Die Tommys – wir sind hier im englischen Sektor – werden mir keine Steine in den Weg legen, die verstehen was von Wirtschaft.“
„Das ist immerhin ein Hoffnungsschimmer“, kommentierte Mathilde. „Bitte schreiben Sie mir, wenn sie anfangen.“
„Sie sind eine der ersten, die ich benachrichtige. Und dann bleibt noch das Problem des Transports. Ein Teil unseres Fuhrparks wurde zerstört, die zwei noch funktionierenden Kastenwagen haben die Russen mitgenommen. Ich kann mir vorstellen, dass der Schwiegervater meines Sohnes da inzwischen weiter ist. Er hatte ein Fuhrgeschäft und ist ein begabter Bastler. Ich weiß, dass er den Krieg überlebt hat, aber er wohnt im französischen Sektor in Reinickendorf und ich schaffe es nicht mehr zu Fuß dahin. Dazu bin ich einfach zu alt und ich habe Angst, dass ich nicht mehr bei Helligkeit zurückkomme.“
Mathilde horchte auf.
„Wenn Sie mir die Adresse geben, kann ich das vielleicht erkunden“, schlug sie vor.
„Aber das ist doch viel zu viel für Sie.“ Herr Krause war entsetzt.
„Ich bin ja auch bis zu Ihnen gekommen“, antwortete Mathilde.
„Na ja, ich gebe Ihnen mal die Adresse, das kann ja nicht schaden. Er heißt Hartwig. Und seien Sie vorsichtig, das Vorderhaus ist zerstört.“
Mathilde fiel ein, dass sie sich noch gar nicht nach der Familie erkundigt hatte.
„Wie geht es Ihrer lieben Frau?“, fragte sie.
„Ich habe sie zu ihrer Schwester aufs Land nach Thüringen geschickt. Da waren zuerst die Amerikaner und alle waren froh. Aber die sind abgezogen und nach Berlin gekommen, weil alle Alliierten ein Stück von der alten Hauptstadt haben wollten. Jetzt sind die Russen da. Immerhin haben sie auf dem Land mehr zu essen, hoffe ich jedenfalls. Da soll sie erstmal bleiben, bis es hier besser wird und die Wohnung einigermaßen wieder hergestellt ist.“
Krauses hatten über der Fabrik gewohnt, jetzt hatte Herr Krause sich in einem ehemaligen Lagerraum eingerichtet.
Wie einsam er lebte, allein ohne Familie. Mathilde kam sich schäbig vor, dass sie mit ihrer Mutter in letzter Zeit öfter Streit hatte und ihren Vater wenig beachtete. Wie gut, dass sie einander noch hatten, da sollte sie dankbar sein.
Sie verabschiedete sich von Herrn Krause und versuchte, ihre Freundin Gudrun ausfindig zu machen, die früher in Mitte nicht weit vom Bahnhof Börse zuhause gewesen war. Mathilde hatte sie immer beneidet, weil sie zu den Opern und Theatern laufen konnte und das Geld für die Straßenbahn sparte. Vor dem Krieg hatten sie öfter zusammen Aufführungen besucht. Sie dachte wehmütig an die Zeiten, in denen die Stehplätze auch für sie erschwinglich gewesen waren und sie das Musik- und Kulturangebot der Stadt gern genutzt hatte. Ob es so etwas wohl wieder geben würde?
In diesem Teil Berlins gab es noch ein paar Straßen mit niedrigen Häusern aus alten Zeiten. Einige von ihnen waren stehen geblieben. Das Haus, in dem Gudrun mit ihrer Mutter gewohnt hatte, war eine Ruine, die offensichtlich