Theaterherz. Stefan Benz
aber es sah aus wie ein Filmnegativ. Dann war auch noch der Ton weg. Seltsame Effekte dachte Beck und hatte das Gefühl, als würde er wachend schlafen, das Theater als Traum sehen. Verwirrt schaute er zur Seite, wo Paula saß, die er ja deshalb immer mitnahm ins Theater, weil sie ihn weckte, wenn er mal wieder schlummerte und – schlimmer – schnarchte. Doch sie hatte ihn nicht angestoßen. Oder doch? Paula schaute ihn mit großen Augen an, wischte mit ihren Händen vor seinem Gesicht und bewegte die Lippen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Was war nun wieder los?
Schon bei ihm daheim, als er fertig war, mit ihr zur Premiere zu gehen, hatte sie an ihm herumgenörgelt. Die Wohnung sehe schlimm, er sehe noch schlimmer aus, solle doch endlich Sport machen, gesünder essen, weniger trinken, zum Arzt gehen oder gleich daheim bleiben. Und alles möglichst sofort und gleichzeitig. Paula war zwar nur seine Haushälterin und dabei auch eine gute Freundin, aber das schon so lange, dass sie manchmal klang, als wäre sie seine Frau. Er nahm es ihr nicht krumm. Was wäre er ohne sie? Das Theater kriegte er ja noch hin, aber der Alltag war ihm längst zu viel. Normalerweise erwuchs ihm aus Paulas Klagen eine gereizte Laune, die ihm die Kraft gab, all ihre Einwände wegzuwischen. Das war heute anders gewesen. Sie hatte ihn aus seinem gar nicht so alten, aber mit Schuppen beflockten Hemd herausgeknöpft, ihm den Kamm durch die verklebten grauen Strähnen gezogen, dass es wehtat, Wasser ins Gesicht gespritzt, Deodorant über sein Unterhemd gestäubt und ihn in ein vermeintlich frischeres Hemd und ein Jackett gestülpt. Als wäre er ein kleines Kind. Ja, er kam sich da immer etwas entmündigt vor.
Wahrscheinlich war es dieses Gefühl, das ihm jetzt beim alten Lear so sehr aufstieß, dass er Magensäure in der Gurgel spürte. An Prosecco, Espresso und Schmerztabletten, die er sonst vor jeder Premiere nahm, konnte es nicht liegen, denn Paula hatte ihm, als sie endlich im Foyer angekommen waren, verboten, sein Theatermenü zu sich zu nehmen. Dabei hatte er mittags sogar noch Vitamin-Dragees geschluckt. Oder irgendwas anderes. Die Grünen und die Langen, Hauptsache gesund. Er musste die Schublade mit den herumfliegenden Tabletten mal wieder aufräumen. Und dann sollte er vor der Premiere auch noch einen Orangensaft trinken. Und ein Käsebaguette essen. Beck fand das übergriffig, hatte aber nicht die Kraft gefunden, sich einen Wein zu bestellen und verweigerte trotzig den Saft, den Paula ihm schließlich hinhielt. „Du benimmst Dich wie ein kleines Kind“, hatte sie gesagt. „Schlimmer: wie ein altes Kind. Meine Enkeltochter ist vernünftiger, und die ist jetzt zwei. Bist Du in der Trotzphase?“ Beck hatte nicht geantwortet, sondern nur die Arme verschränkt und grimmig unter sich geschaut. Er und in der Trotzphase. Das war ja wohl das Letzte. Er würde jetzt gar nichts mehr sagen. Stattdessen wollte er bis zur Pause ein ernstes Gesicht machen und strafend schweigen. So hatte er es auch bis jetzt gehalten, sich still über Paula und Lear, den Regisseur und irgendwie auch über sich selbst geärgert. Nun aber merkte er, dass etwas nicht stimmte. War es seine angestammte Dosis aus Alkohol, Koffein und Ibuprofen, die ihm fehlte? Aber dann hätte er doch eher müde werden müssen. Ihm hätte der Steiß und sein linkes Bein wehtun können. Doch er fühlte nichts. Und er hörte nichts. Warum war das Theater denn so still?
Beck merkte, dass er Mühe hatte, den Kopf gerade zu halten. Sein Blick heftete sich auf die Rückenlehne des Sitzes vor ihm. Warum schaute er nicht mehr auf die Bühne? War doch schon Pause? Oder war das Stück schon vorbei? Waren Regan und Goneril, Cordelia und Lear bereits tot? Hatte er doch geschlafen? Und wie sollte er jetzt über den Abend schreiben? Beck fühlte eine namenslose Sorge in sich aufsteigen. Da sah er, dass ihn eine Hand schüttelte. Sein Blick fiel zur Seite, und das Theater um ihn herum taumelte. Die Menschen vor ihm waren aufgestanden. Also war doch Pause? Mitten im dritten Akt? Vielleicht ein Feueralarm? Beck verstand das alles nicht, aber es war ihm auch seltsam egal. Es kam ihm vor, als würde alles in Zeitlupe ablaufen. Das konnte doch nicht das wirkliche Leben sein. Das musste Theater sein, Theater in seinem Kopf.
Beck blinzelte, denn er sah plötzlich seinen alten Feuilletonchef Buchmann neben sich, wie er eine Zigarre und ein Glas Rotwein in Händen hielt. Ja, so hatte er ihn gekannt, doch das war merkwürdig, denn Buchmann war schon vor vielen Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Was machte der denn jetzt im Theater? Beck wollte ihn fragen: „Mensch, Lutz, Du bist ja gar nicht tot! Wie geht’s Dir denn?“ Doch er konnte den Mund nicht bewegen. Dafür hörte er Buchmann: „Vorwärts Bursch, wie geht’s, mein Junge? Frierst Du, ich frier auch.“ Beck verstand nicht. Das sagt doch Lear, und nun redete Buchmann, als wäre er eine Shakespearefigur. Becks Blick fiel am Körper seines alten Kollegen herab. Er war nackt, grau und eingefallen, die Haut fleckig, Rippen und Hüftknochen schauten heraus, nur der Bauch wölbte sich kugelrund über einer Windel mit gelben Flecken. Kein Zweifel, Buchmann spielte Theater. Er beugte sich zu Beck herunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Kein, kein Leben! Du wirst nun nie mehr wiederkommen, nie. Oh, nie, nie, nie! Ich bitt euch macht den Knopf auf. Oh, seht ihr das? Seht an? Seht doch seht…“
Beck lief der kalte Schweiß vom Hals ins Hemd. Dieser Geist, der aussah wie Buchmann und sprach wie Lear, würgte ihn, dass es in der Gurgel brannte und im linken Arm zog. Endlich löste sich Buchmann von seinem Hals. Beck sah ihn erst nur als verschwommenen Schatten. Dann schaute er direkt in Paulas Gesicht. Sie hielt ihn an der Schulter, hatte Tränen in den Augen und sprach offenbar mit zwei Männern, die Beck noch nie gesehen hatte. Sein Kopf klappte nun zur anderen Seite, und er wunderte sich, dass das ganze Theater um neunzig Grad gedreht war. Wieso fielen die Schauspieler da vorne auf der Bühne denn nicht um, wenn sie so schief standen, fragte er sich noch. Und wieso spielten sie nicht mehr? Langsam, aber mächtig senkte sich eine unsichtbare Macht auf seine Brust. Beck wollte atmen, aber es ging nicht. Da erst sah er die Panik kommen. Und im nächsten Moment hatte sie ihn schon erfasst, würgte und schüttelte ihn, während irgendjemand im Theater den Ton langsam wieder nach oben geregelt haben musste. Beck erkannte Paulas Stimme, und er hörte sich selbst. Aber es war kein Satz, es war ein scheußliches blubberndes Würgegeräusch. Ein Mann rief von weit, weit weg: „Wo bleibt denn der Theaterarzt?“ Da schloss sich der Vorhang, und es wurde ganz dunkel und totenstill.
2Der schwarze Tod hatte seine Schwingen ausgebreitet und stieß von oben herab auf sein geschwächtes Opfer. Beck hatte es kommen sehen, doch er konnte nichts machen, lag nur da und ließ den Horror über sich ergehen. Immer und immer wieder hackten sie auf das wehrlose Bündel ein. Noch zuckte es unter ihren Hieben, doch bald rührte sich nichts mehr. Überall lagen Blut und Federn. Die drei Krähen begutachteten ihr Werk, wendeten die Köpfe und flatterten davon. Beck war schon auf sie aufmerksam geworden, als sie den Vogel in einen Baum getrieben hatten, dass die Äste wackelten. Dann hatte sich der Todeskampf auf ein Flachdach verlagert, das er von seinem Bett aus sehen konnte. Und jetzt, da die Angreifer verschwunden waren, erkannte er auch, dass dort eine Elster lag – oder das, was noch von ihr übrig war.
Sowas konnte er jetzt ja gerade noch gebrauchen. Horror mit spitzem Schnabel wie bei Hitchcock. Sein Gemüt war schon ramponiert genug. Den Sonntag über hatte er in der Intensivstation des Klinikums am EKG verbracht. Verdacht auf Herzinfarkt. Aber gesprochen hatte noch niemand mit ihm. Kein Personal in Sicht. Nur überall Kabel und ein Apparat, der neben ihm blinkte. Die Stadt wollte das Krankenhaus längst loswerden, der Verkauf an eine Klinik-Kette zog sich hin, Schwestern und Ärzte protestierten, und langsam blätterte der Putz ab. An diesem Morgen hatten sie ihn in ein Vier-Bett-Zimmer geschoben. Fast schon Luxus, es gab auch noch Sechs-Bett-Zimmer, wo es immer zuging wie im Landschulheim. Ruhe war aber auch in der kleineren Gemeinschaftsunterkunft nicht zu finden. Es sei denn, man war der dicke Herr Schabacker, der direkt an der Tür lag, die ganze Zeit schlief und dabei leise blubbernd röchelte. Daneben befand sich die Außenstelle von Kasimpasa-Kebab. Herr Özbak, der mit seinem Schnäuzer aussah wie der untersetzte Zwilling von PKK-Chef Öcalan, aber treu-türkisch einen Wimpel mit Halbmond und Stern auf seinem Beistelltischchen gehisst hatte, hielt zwei Mobiltelefone in den Händen, in die er abwechselnd hineinsprach, mit einem offenbar die Geschäfte seiner Dönerbude regelte, über das andere Fußballergebnisse diskutierte. Es klang für Beck zumindest so, denn Özbak sprach Türkisch mit deutschen Spurenelementen. Eine Delegation seiner Sippe umlagerte sein Bett. Eine ältere Frau mit Kopftuch redete auf zwei jüngere ein, die nichts sagten, aber die Gesichter einander zuwandten, so dass ihre langen schwarzen Haare einen Vorhang vor der meckernden Alten bildeten. Zwei Buben, die gerade mal bis zur Matratze reichten, lieferten sich darauf mit weißen und roten Spielzeugautos ein Rennen, bis Özbak sie anblaffte, weil ein junger Kerl mit einem Stapel Joghurtdrinks reinkam