Theaterherz. Stefan Benz

Theaterherz - Stefan Benz


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dem zu tun, was er selbst sich vorgenommen hatte. Beck sah Ärger auf sich zukommen.

      Bevor er den Gedanken vertiefen konnte, tat es einen heftigen Knall, der von einem leiseren Rumpeln, einem erschreckten Schrei und einer Serie von Flüchen begleitet wurde. Aus Julianes Arbeitszimmer quoll eine graue Staubwolke, aus der Küche kam Paula mit Schürze und Kochlöffel in der Hand ins Wohnzimmer und rief: „Um Himmelswillen, was ist los?“

      „Alles gut, alles gut“, stöhnte Franz von nebenan, und es polterte dazu. Was hatte der Junge bloß angestellt? Beck stand schwerfällig auf, stopfte das an ihm herumflatternde Hemd in die ausgebeulte Hose, schleppte sich zum Arbeitszimmer und schaute Paula über die Schulter. Links, wo Franz die Bibliothek schon abgebaut hatte, stapelten sich Bücher und Bretter säuberlich an der Wand. Rechts lagen sie kreuz und quer – und mittendrin hockte sein junger Helfer. Eigentlich sah man nur seine halblangen blonden Haare, von denen eine Strähne mit einem gelben Gummi zusammengehalten war und auf dem Hinterkopf aufragte wie ein Blümchen mit hängendem Kopf. Paula griff planlos zu Büchern, die bis vor ihre Füße gerutscht waren: „Was ist denn passiert? Hast Du Dir wehgetan?“

      Franz kniff die Augen zusammen, sah Paula an, befühlte seine Stirn, auf der sich eine Schramme rötlich abzeichnete.

      „Blutest Du?“ Paula lief ins Badezimmer, kramte im Wandschrank und holte Verbandszeug.

      „Nix passiert“, rief Franz ihr nach und griff dann zu einem von mehreren weinroten Lederbänden. „Die sind auf einmal runtergekommen.“

      „Encyclopaedia Britannica“, murmelte Beck, der immer noch im Türrahmen stand. Er hatte die zwei Dutzend Bände mal einem Antiquar angeboten, aber der hatte abgewinkt, und sie wegzuschmeißen, das hatte Beck nicht hingekriegt. „Hat Juliane gehört.“ Es klang nachdenklich. „Hab ich noch nie reingeschaut, wenn ich ehrlich bin.“

      „Wie auch, die waren ja quasi unter die Zimmerdecke geklemmt. Hätte ich mir auch denken können, dass es kippen kann. Und dann hat mich der hier erwischt.“ Franz hielt einen grünen Band, groß und schwer wie ein Mauerstein, in der Hand.

      „Oh, Stanley Kubricks Napoleon-Projekt. Hab ich mal rezensiert. Kannst Du gerne haben.“

      „Den Film kenn ich nicht.“

      „Ist auch nie gedreht worden.“

      „Aha“, erwiderte Franz, wollte grinsen, was sich aber nicht mit Stanley Kubricks Beule an seinem Kopf zu vertragen schien. „Schwerer Stoff.“

      Bevor Beck dem Jungen weitere Bücher schmackhaft machen konnte, ging Paula mit Alkohol, Pflaster und Tupfer dazwischen.

      „So, Schluss jetzt. Komm mal her, Franz, ich versorg das jetzt.“ Sie kniete sich vor ihn hin, während sich Beck hinter ihrem Rücken zu einer Rechtfertigung genötigt sah: „Das ist alles nur die Schuld von dem grünen Napoleon.“

      „Was redest Du“, fauchte Paula.

      „Schon gut“, sagte Franz, der als Scheidungskind beim Vater aufgewachsen war und das Bemuttertwerden nicht gut abkonnte. „Meine Schuld. Ich hab ein paar Weinkisten vor dem Regal weggeschoben, und dann ist es eingestürzt. Dachte, es wäre oben in der Wand verankert wie auf der anderen Seite, war es aber nicht.“

      Tja, das hätte er dem Jungen sagen können. Die Weinkisten standen ja am Fuße des Regals, um die auf dieser Seite höchst wacklige Konstruktion zu stabilisieren. Weil er sich nicht mehr bücken wollte, hatte Beck die unteren Bretter freigeräumt und alles, was er von Julianes Nachschlagewerken noch brauchen konnte, ab Brusthöhe einsortiert. Wenn schon der Wein bei ihm in der Wohnung rumstand, weil im Laden kein Platz war, dann sollte er doch für irgendwas gut sein. Und die „Encyclopaedia Britannica“ hatte er schon vor Jahren ‒ mit damals noch mehr Kraft in den Armen ‒ als festgeklemmten Abschlussstein ganz oben in seine Bücherwand gestemmt. Er hatte das bislang für eine sehr gute Idee gehalten. War aber vielleicht doch nicht so geschickt gewesen, dachte sich Beck nun mit schlechtem Gewissen.

      Aber heute war nicht der Tag für Schuldeingeständnisse, heute wollte er sich keine Blöße geben, damit ihm nachher keiner in die Parade fahren konnte, wenn er seinen Plan vorstellte. Also versuchte er es mit einem verständnisvollen Vorwurf: „Ach, Paula, der Junge kann ja noch nicht alles wissen. Aber Franz, Du musst auch aufpassen, dass Du nicht alles kaputtmachst, wenn Du so kräftig anpackst.“

      Paula schaute ihn schief an: „Sei froh, dass er Dir hilft und ihm nichts passiert ist.“

      Die Türklingel verhinderte, dass Beck sich auf der Suche nach Ausflüchten noch verplappern konnte. Das mussten Bernd und Gitta sein. Der Polizeipräsident und seine Frau, beide Theater-Abonnenten und treue Kunden seines Weinladens, hatten sich zum Kaffee angekündigt. Er witterte eine Verschwörung. Seine Freunde wollten ihn in die Mangel nehmen, aber er war vorbereitet.

      „Ich mach auf“, sagte Beck und schlappte zur Wohnungstür, während Paula hinter ihm Franz aufhalf. Im Treppenhaus hörte er schon die Rudolfs, und als Gitta das letzte Stück Treppe emporkam, winkte sie bereits mit einem Gemüsekorb: „Hallo Justus, wie geht’s? Schau mal, was wir mitgebracht haben.“ Sah aus wie Balkonpflanzen, dachte Beck. Gitta jubelte: „Brokkoli, Artischocken, Lauch, Fenchel, Süßkartoffeln, Tomaten. Da kann Paula Dir Auflauf machen, Du musst ja jetzt ganz viel, ganz gesund essen, dass Du nicht vom Fleisch fällst. Früchtetee haben wir Dir auch mitgebracht.“ Gitta stand mittlerweile vor ihm, warf mit einer Umarmung den Gemüsekorb um ihn herum.

      „Lass uns doch erst Mal ankommen“, rief Bernd und zog mit seinen zwei Metern gewohnheitsmäßig den Kopf ein, als er über die Schwelle trat. Doch noch im Flur fing auch er an: „Hier, schau mal, drei Wanderführer. Lauter Touren, die Du mit Bus und Bahn erreichen kannst. Gitta meinte, Du sollst unbedingt Deine Ausdauer stärken.“

      „Ja! Oder Du fährst mal für ein paar Tage mit dem Zug weg. Natur-Genuss-Route durch die Lüneburger Heide.“ Gitta blätterte in einem der Bändchen. „Oder hier: Bodensee.“ Schon griff sie zum nächsten: „Hier, auch schön: Fischland und Darß.“

      Bei so viel Enthusiasmus wollte Bernd sich nicht lumpen lassen: „Man kann auch Paddeln und Radfahren kombinieren. Haben wir auch schon mal im Werratal gemacht.“

      „Schön, danke“, seufzte Beck. Das hatte er befürchtet. „Kommt doch erst mal rein. Franz hat gerade das Arbeitszimmer in Schutt und Asche gelegt.“

      Die Begrüßung der Anderen verlief herzlich. Gitta und Paula tauschten vegetarische Rezepte aus, Bernd und Franz fachsimpelten über Bohrmaschinen, Akkuscharuber, Dübelsysteme und alte Kriegsverletzungen im Hobbykeller. Bald schon war die Tafel für Fünf gedeckt und Paulas Obstkuchen ohne Sahne mit Früchtetee aufgetischt. Es gab auch Blümchenkaffee ohne Koffein. Bloß nichts, was den Blutdruck steigen ließ. Beck hatte sich sein drittbestes graues Jackett angezogen, das Paula schon hatte aussortieren wollen. Dazu legte er sich eine blaue Fliege um den Hals. Das tat er sonst nie, und er fing sich auch prompt einen belustigten Blick von Paula ein. Schnell erhob sich ein Gespräch über gesunde Ernährung, frische Luft und die schädliche Wirkung des Alkohols.

      Beck erkannte, was da auf ihn zukam. Seit er aus der Klinik zurück war, hatte Paula heimlich dafür gesorgt, dass keine Weinflaschen mehr in Becks Griffweite waren. Aber das hatte er durchschaut und ein Depot angelegt: vier Flaschen blauer Portugieser aus Rheinhessen unter seinen langen Unterhosen. Da würde Paula nicht rumkramen, jetzt, wo der Sommer vor der Tür stand. Und zur Sicherheit noch je zwei Literflaschen Dornfelder und Lemberger im Kleiderschrank unten, hinter den Stiefeln. Alles nur für den Ernstfall. Ein bisschen weniger musste er ja trinken, aber wegnehmen lassen wollte er sich auch nichts. Und dann ging’s los: Gitta fing an, über Kurkliniken zu referieren und einen Kollegen von Bernd, der dort nach einer Bandscheiben-OP doch wieder so schön auf die Füße gekommen war. Beck wusste, es war höchste Zeit, dazwischen zugehen, sonst würden sie ihn fürsorglich überrollen. Er räusperte sich, hob seine Tasse und klopfte mit dem Löffel dagegen.

      „Ihr Lieben, schön dass Ihr da seid. Ich weiß, Ihr macht Euch ganz viele Sorgen um meine Gesundheit. Und Paula, Du hast im Theater einen großen Schreck gekriegt. Aber keine Angst, Mir geht es schon wieder sehr gut,


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