Theaterherz. Stefan Benz

Theaterherz - Stefan Benz


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Hypochonder, die stark genug sind, ihre Kuren zu überleben. Deshalb hat er den Eingebildet Kranken nicht nur geschrieben, sondern auch gespielt, als er selbst schon schwer krank war. Das war seine beste Pointe.“

      Ellenbruch und Darrmann schrieben eifrig mit. Reinheimer suchte noch nach seiner Fassung: „Was machen Sie noch mal beruflich?“

      „Ich bin der Theaterkritiker der Neuen Post.“

      Der Arzt blätterte in Becks Krankenakte. „Sehe schon. Sie sind ja auch direkt aus dem Theater zu uns gekommen. Das erklärt einiges.“

      „Auch da halte ich es mit Molière. Bis zur vierten Vorstellung hat er die Hauptrolle im Eingebildet Kranken gespielt. Am Ende des dritten Aktes soll der Kranke selbst zum Doktor promoviert werden, weil ihn das endgültig heilen wird. Sein Bruder ermuntert ihn: Man muss nur in Robe und Barett reden, dann wird alles Geschwätz zu Weisheit und jede Dummheit zu Vernunft.“ Beck war ein bisschen stolz drauf, dass er das auswendig wusste.

      Reinheimer hatte für diese erstaunliche Gedächtnisleistung aber so gar keinen Sinn: „Sie wollen mich nicht zufällig gerade beleidigen?“

      „Aber nein, Herr Doktor, ich rede nicht von Ihnen, ich rede von mir – und von Molière. In der vierten Vorstellung des Stücks, kurz vor dem Schluss, genau an der Stelle hat er einen schlimmen Schwächeanfall gekriegt, aber er hat es so hinbekommen, als würde es zur Rolle gehören. Dann haben sie ihn nach Hause geschafft, ihm ein Hopfenkissen unter den Kopf gelegt, er hat noch einmal Blut gespuckt und war tot. Verstehen Sie diese Ironie: Ein Todkranker macht sich über die Ärzteschaft lustig, ein Sterbender spielt einen kerngesunden Kranken.“

      Während dieses Exkurses hatte Reinheimer endlich bemerkt, dass Becks theatermedizinische Ausführungen in seinem Rücken eifrig notiert wurden. Mit einem unwirschen Schlag durch die Luft und einem blitzenden Blick bereitete Reinheimer diesem Treiben ein jähes Ende. Seine solariengegerbte Gesichtshaut sah mit einem Mal fahl und grünlich aus. Beck konnte sich gerade noch den Vorschlag verkneifen, der Arzt solle doch mal seinen Blutdruck messen, weil er blass sei. Doch er musste in sich hinein schmunzeln, und Reinheimer sah das.

      „Ich weiß immer noch nicht, was Sie mir sagen wollen, und ich muss jetzt auch wirklich weiter. Aber soviel ist klar: Ihr Molière hatte Tuberkulose, Sie hatten einen Infarkt, und für Symptome der Theaterpest sind wir hier nicht zuständig. Eine Schwester wird Ihnen Unterlagen für die weitere Behandlung geben. Auf Wiedersehen.“

      Das klang ziemlich eisig. Reinheimer, dessen Gesichtsfarbe während seiner kurzen Rede von grünweißlich zu gelbrötlich gewechselt hatte, drehte sich um. Ellenbruch und Darrmann schauten irritiert auf ihren Chef, Struwwelköpfchen spickte noch einmal kurz auf ihre verbotenen Molière-Notizen, Fusselbart hingegen hatte sein Klemmbrett sinken lassen, eilte sich beim Rausgehen, spähte in der Tür aber doch noch mal verstohlen zurück zu Becks Bett. Ob Darrmann jetzt wohl vorhatte, demnächst Molière im Theater den Puls zu fühlen? Wohl nicht. Wahrscheinlich dachte er eher, dieser renitente Herzpatient sei ein Fall für die psychiatrische Abteilung.

      Gut so. Die war er los. Beck fixierte die geschlossene Zimmertür und atmete tief durch. Schabacker lag jetzt auf der Seite, sein Atem blubberte. Özbak hatte wieder beide Telefone in der Hand und sprach abwechselnd in sie hinein. Justin hatte keine Kopfhörer mehr im Ohr, dafür war er jetzt versunken in ein Videospiel auf seinem Computerbrettchen. Offenbar hatte keiner davon Notiz genommen, wie Beck das Trio in Weiß in die Flucht geschlagen hatte. Besser so. Er wendete den Kopf zum Fenster. Am vorhin noch blauen Himmel war eine dicke blauschwarze Wolke aufgezogen. Wind zauste die Äste gegenüber, fegte auch über das Flachdach, das er von seinem Platz aus sehen konnte. Eine Böe ergriff den Kadaver, der dort noch immer lag. Die eben noch schlappe Schwinge der Elster hob sich leicht, flatterte, als wollte ihm der tote Vogel zuwinken. Beck spürte, wie Molières komödiantische Kraftreserve, die er für die kleine Kontroverse mobilisiert hatte, aus seinem Körper entwich. Er fühlte sich wieder sehr schwach, schob die rechte Hand unter der Decke hervor, hob die Finger, winkte der Elster zurück. Dann schloss Beck seine Augen.

      3„Kommst Du?“ Sie spritzte Wasser aus ihrer Sprudelflasche in seine Richtung, und er suchte Schutz unter seiner Zeitung. „Nun mach schon!“ Beck freute sich über ihr Kleid: weiß mit roten Punkten. Es stand ihr so gut, gerade jetzt, da der Frühsommer ihre Beine leicht gebräunt hatte. So sah er sie am liebsten. Und wie jung sie war! Juliane sprang auf: „Komm, wir gehen Eis essen.“ Ja, dachte er, Eis essen, wie damals. Sein Blick schweifte über den See. Er war menschenleer, und auch am Ufer zeigte sich außer einem Entenpaar und ihnen niemand, obwohl die Sonne so schön schien.

      Aus der Ferne drang ein Geräusch. Klang wie ein leiser Bohrer. Und dann wehte ein Duft heran, der so vertraut roch. Das war doch … Kaffee? Ja, ganz intensiv, aber auf ihrer Picknickdecke lagen Würstchen und ein Baguette, eine Salami und die Flasche Wasser, die Juliane abgestellt hatte. Und dann dieses Sirren, der einzige Ton, der überhaupt zu hören war, obwohl auch die Enten direkt vor ihnen ihre Schnäbel bewegten. Während das seltsame Geräusch über dem See lauter wurde, wunderte Beck sich, wie es überhaupt sein konnte, dass er hier mit ihr war. Sie war doch tot, lange schon tot.

      Ein Schreck durchfuhr ihn, er öffnete die Augen und erkannte, wo er war: eingeschlafen auf dem Sofa, nebenan werkelte Franz, in der Küche machte sich Paula zu schaffen. Und am Ende des Sofas saß eine Frau im weißen Kleid mit roten Punkten und drehte ihm den Rücken zu, als würde sie schmollen. Beck nahm die Hände vor die Augen. Er fühlte sich benommen, war noch schwach, konnte das Trugbild nicht wegdrücken. Wieder schaute er hoch, rieb sich die Augen, immer noch saß Juliane da. Wie er sie von den alten Fotos aus den Siebzigern kannte, für immer die Studentin, in die er sich verliebt hatte. Er hatte die gelbrotstichigen Aufnahmen so oft angesehen, dass die Bilder der kranken Juliane vor seinem inneren Auge bis zur Unkenntlichkeit verblasst waren. Jung und gesund, so hatte er sie in Erinnerung behalten wollen, und das war ihm auch gelungen. Nichts mehr da von der ausgezehrten Erscheinung, von den eingefallen Wangen, den Knochen, die sich aus der fahlen Haut drückten. Er hatte sich Juliane erhalten, ewig Anfang zwanzig, und sie war ihm geblieben, erschien ihm immer mal wieder in Tagträumen. Konnte sein, dass sie sich monatelang nicht blicken ließ, und dann saß sie wieder jeden Abend bei ihm, begrüßte ihn morgens im Bad, sah ihm zu, wenn er an seinen Artikeln schrieb.

      Beck hatte nie jemandem etwas davon erzählt. Er galt ohnehin schon als schrullig. Paula kannte fast alle seine Zipperlein und Macken, da musste er ihr nicht noch mit dem guten Geist seiner vor über zwölf Jahren gestorbenen Frau kommen. Doch jetzt sollte sich etwas ändern. Das hatte Beck beschlossen, als er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Der Infarkt war ein Zeichen gewesen. Es ging so nicht weiter, dass er allein mit seinen Erinnerungen lebte. Also hatte er Franz gebeten, Julianes Zimmer auszuräumen. Vor all ihren Schulbüchern stapelten sich Weinkisten, die er in seinem Kontor im Erdgeschoss nicht lagern konnte. Der Laden ging schlecht, sein Franchise-Vertrag, der ihm einmal gnadenhalber verlängert worden war, lief aus. Für die Kette i.vive war der Verkaufsraum ohnehin viel zu klein, im Grunde betrieb er vor allem eine Abholstation für Pakete, die im Internet bestellt worden waren und nicht direkt zugestellt werden konnten. Das passte längst nicht mehr ins Kontorkonzept, und es funktionierte auch nicht mehr, seit auch noch die Discounter Vinotheken sein wollten. I.vive stand für „In vino veritas“, und die Wahrheit des Weines war: Es ging nicht mehr. Schluss mit dem Laden, Schluss auch mit dem Andachtsraum für seine Frau. Beck hielt den Kopf gesenkt, er hörte aus dem Nebenraum, wie Franz mit dem Akkuschrauber hantierte, in der Küche bollerte die Kaffeemaschine, und als er wieder aufblickte, war die Erscheinung im weißen Kleid mit den roten Punkten verschwunden.

      Beck zog die Decke von den Füßen und schob mühsam den Oberkörper empor. Mal schauen, wie weit Franz war. Guter Junge. Er hatte ihn vor einigen Jahren als Praktikant der „Neuen Post“ kennen gelernt, und der Kontakt war auch nicht abgerissen, als Franz ein Biologiestudium begonnen hatte. Schon mehrfach hatte er den Weinladen auf Vordermann gebracht, wenn Beck Buch- und Lagerhaltung entglitten, was immer häufiger der Fall war. Deshalb hatte er schon immer gesagt, Franz würde einen guten Logistiker abgeben. Und da dieser gerade sein Studium geschmissen hatte, weil ihm die Freundin weggelaufen war – oder war es umgekehrt? – hegte Beck nun die Hoffnung, Franz könne seinen Laden bis zur Geschäftsaufgabe führen. Er hatte sich schon so seine


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