Blick auf den Nil. Karim Lardi
vor ihrer Abreise. Alles ist eine lebensgefährliche Millimeterarbeit, doch es klappt irgendwie, wenn auch nicht immer. Die Ägypter beherrschen dieses Spielchen perfekt, Laura dagegen machte das schwindelig. Selbst Michael Schumacher würde es Schwindel erregen, dachte sie sich. „Wer die Fahrweise der Ägypter versteht, ist auf gutem Weg ihre Mentalität zu verstehen.“ Ein Tipp, den ihr Abd-Essabur lachend gab.
Sie verglich die lebhafte Geschäftigkeit Kairos mit der ländlichen idyllischen Atmosphäre Münsters. Seltsamerweise kamen ihr unvermittelt der kleine Ludgeri-Platz, wo die Kaninchen brüteten und hoppelten und die Münsteraner Fahrradfahrer mit ihrer Fahrradweg-Mentalität in den Sinn. Lächerlich! Wie sie sich ärgern, wenn man einen Hauch von den Normen abweicht, etwa wenn das Rücklicht nicht brennt, man keine leuchtenden Streifen an der Kleidung trug, wenn man sich nicht genug rechts hielt oder wenn man nicht rechtzeitig genug die Hand hebt um auf die einzuschlagende Richtung hinzuweisen. Wehe dem Fußgänger, der es wagte aus Versehen, die Fahrradspur ein klein bisschen in Anspruch zu nehmen. „Sind Sie lebensmüde oder von allen guten Geistern verlassen?“, bellten sie einem hinterher und tippten sich zänkisch an die Stirn.
Laura schaute gerade mit angehaltenem Atem wie eine vierköpfige Familie -Mann, Frau, Kind und ein Baby- ein Motorrad im Verkehrschaos Kairos als Transportmittel benutzte. Sie wunderte sich, dass so viele Leute auf einmal auf ein Motorrad gequetscht, ohne Helm oder dergleichen fuhren. Sie staunte, wie der Junge vorne auf dem Tank thronte, die Frau lässig hinter ihrem Mann saß, mit übereinandergeschlagenen Beinen und dem Baby auf dem Schoß, während dem Mann eine Zigarette im Mundwinkel klemmte. „So etwas bekommt man sonst im Zirkus zu sehen“, dachte sie sich. „Sie holen sich ganz gewiss den Tod!“
Laura hoffte inständig, dass das Baby unversehrt nach Hause kommt.
Das Taxi ruckelte und schaukelte, so dass ihr Magen sich jedes Mal hob und sank, wenn sie über ein tiefes Loch in der Straße hinweg schossen und sie mit dem Kopf gegen die Decke stieß. Der Benzingestank erhitzte die Luft und verursachte einen unangenehmen Ruck in ihrem Magen.
Der Taxifahrer, träumte immer noch schweigend vor sich hin, schüttelte eine Zigarette aus einer Schachtel und steckte sie sich hungrig an. Er nahm gierig einen Zug und blies den Rauch so grimmig aus, als wollte er damit sein Trübsal wegblasen. Er war ein leidenschaftlicher Raucher. Er rauchte die Zigaretten nicht, er rollte sie im Mund hin und her, nuckelte an ihr, kaute sie buchstäblich, man könnte meinen er möchte sie samt Papier und Tabak verschlingen. Es roch schwer nach Zündholz und Heu. Das gab Laura den Rest. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und war einer Ohnmacht nahe. Davon schien er nichts mitbekommen zu haben. Erst als Laura mit den Händen wedelte, um die beißende Rauchwolke zu zerstreuen, erst dann bat er um ihr Verständnis und blies entschuldigend den Rauch zu dem offenen Fenster hinaus.
Zum Glück mussten sie halten, denn der Kühler kochte über und ließ das Auto hopsen und schliddern wie ein wild gewordener Ackergaul.
Sie hatte eine kleine Pause gut gebraucht, um der Übelkeit erregenden Hitze im Taxi zu entkommen, und damit ihre Eingeweide wieder ihren Platz finden können. Von Luftschnappen war jedoch keine Rede. Kairo glich an diesem Tag einem stickigen Ofen. Draußen roch die Luft nach Verbranntem.
Für den alten Taxifahrer war es wieder eine Gelegenheit ein paar Zigaretten zu verschlingen, in seine Rauchschwaden einzutauchen und unablässig Dampf ablassen.
In einem lustigen Kauderwelsch aus Arabisch, Deutsch und Englisch mochte er ihr ein paar seiner Geheimnisse verraten, die ihm in der letzten Zeit aufs Gemüt drückten. Sein größter Traum wäre es nämlich, seine Blechkiste gegen einen Mercedes einzutauschen. Es müsse ja nicht unbedingt eine nagelneue Mercedeslimousine sein, Hauptsache vorne sitze der Stern. Mit dem Stern vorne fahre es sich besser und der Fahrkomfort erhöht sich, meinte er felsenfest überzeugt.
„Meine Blechkarre ist nämlich ein trotziger Esel geworden. Ich habe das Gefühl, dass wenn ich Gas gebe, sie förmlich nach hinten springt, und wenn ich den Rückwärtsgang einlege, hüpft sie nervös nach vorne“, sagte er und brach in Gelächter aus. Er schien sich nicht mehr halten zu können.
Sein zweiter Traum wäre gewesen, soviel glaubte Laura verstanden zu haben, seine Frauen gegen Mertel auszutauschen.
Er schwieg ganz kurz, machte ein paar tiefe Züge, sah etwas träumerisch, wie sich die Rauchkringel von seiner Zigarette nach oben ausbreiteten. Er liebte Ankila Mertel (so sprach er den Namen aus), über alles, sagte er während der Zigarettenrauch aus seinen Nasenlöschern strömte. Er habe in seinem Leben vielen Frauen den Kopf verdreht und etliche kämpften um ihn und sind bis heute unglücklich in ihn verliebt, sagte er halb im Ernst, halb im Spaß und zwirbelte mit seinen dicken Fingern seinen buschigen Schnurrbart; ein großer Rosenkavalier und Herzensbrecher, schauspielernd, während ein breites selbstgefälliges Lächeln auf seinem Gesicht erschien.
Er schwieg eine Weile in Erinnerungen versunken, dann schwor er beim Leben des Propheten und allem, was ihm heilig war, alle Frauen der Welt wegzustoßen, just wenn die deutsche eiserne Lady mit dem schönsten Blick und der sanftesten Stimme der Welt, ihn einmal einladen würde. Seine Bewunderung für sie sei nämlich grenzenlos. Von ihrem eisernen Willen und politischem Geschick können sich viele arabische Staatsmänner eine fette Scheibe abschneiden.
„Schade, dass du keine Araberin bist, Miss Mertel!“, bedauerte er, während er den letzten Zug von seiner Zigarette nahm, kurz bevor der Filter glühte, und auf das Dach seiner „Blechkiste“ schlug. Diese Frau hat den Verstand von zehn Männern. Davon schien er überzeugt.
„Ich glaube, sie liebt die Araber!“, offenbarte er.
Laura wedelte sich den Rauch aus dem Gesicht und konnte sich dabei ein Grinsen nur schwer verkneifen, als ihr das reizende Bild von Abu Huyam Abd-Essabur el-Harankesch und „Miss Mertel“ in den Sinn kam, händchenhaltend durch das Brandenburger Tor spazierend. Sie würden ein hübsches Paar abgeben. „Welche Frau der Welt könnte dieser Anmut und diesem Charme widerstehen“, rang sie sich ein dünnes Lächeln ab.
Nach einer Weile der Träumerei ging die Raserei von neuem weiter.
„Ma tiqlaqiiiisch! Keine Sorge! Bald müssten wir in Sichtweise von Zamalek sein“, sagte der Taxifahrer beruhigend als er ihre Müdigkeit und langsam wachsende Unruhe bemerkte.
Weit in der Ferne erschien das Zentrum unter einer düsteren Smoghülle, die wie eine schwere Glocke über der ganzen Stadt lag, als ziehe gerade ein heftiger Sandsturm über sie hinweg. Schweigend saß Laura erstarrt im Taxi, das rumpelnd und mit heulendem Motor dahin brauste. Durch das unklare Seitenfenster betrachtete sie die Stadt, die wie im Zeitraffer hinwegflog. Es war das pure Hinübergleiten in ein anderes Universum. Sie fuhren an vielen kleinen, grün beleuchteten Moscheen vorbei und über viele Autobahnbrücken, bevor sich der Nil endlich zeigte. Sie fühlte sich desorientiert und spürte nichts von dem Frohlocken, das sie erwartet hatte.
„Das ist der Nil!“, deutete der Taxifahrer mit einer ruckartigen Kinnbewegung, ohne das Lenkrad loszulassen. Sie sah fast nichts durch die schmutzigen Fensterscheiben. Für einen Moment dachte sie in einem Gruselfilm zu sein. Ein trüber dichter Dunst lag wie ein Tuch über dem Nil und verhüllte die ganze Stadt, die abwechselnd hervortrat und wieder verschwand, wie eine geisterhafte Erscheinung, die auf einer trübgrauen Leinwand flackerte. Mühsam kurbelte sie das Fenster runter und spähte durch die Nebelwolke hinaus, die sich intensiver über dem Fluss bildete. Ihre Augen weiteten sich langsam. Wie gebannt schaute sie hin und geriet allmählich in einen Schockzustand. Die Bewunderung, die sie früher empfunden hatte, fiel auf einmal von ihr ab und war wie im Nu verflogen. Es ist einfach alles so viel anders, als erwartet. Kairo, wovon sie ihr ganzes Leben geschwärmt hatte und das sie aus den vielen Filmen, Vorlesungen kannte und aus den Büchern, die sie schon als Kind voll Sehnsucht und Verlangen durchblätterte, war prächtig, unvergleichlich schön, einfach magisch-orientalisch.
„Nein! Das darf nicht wahr sein! Das ist nicht mein Nil und das ist nicht mein Kairo!“, sagte sie sich in tadelndem Tonfall und mit wehmütigem Beiklang.
Die Stadt, die sie in jenem Moment wahrnahm, hatte eine gewaltige Ausdehnung erreicht. Sie erschien in den Frühstunden dieses Tages trist und farblos