Von Lübeck bis Laboe. Karla Letterman
hoffe, dass ich richtig liege.« Peer seufzte. »Von den P-Linern gab es acht, alle waren auf Namen mit Anfangsbuchstaben P getauft. Die ›Passat‹ auf dem Priwall ist einer davon.«
»Na, dann ab auf die Autobahn!« Vorrath startete den Wagen. Unterwegs verständigte sie den Leiter der Travemünder Polizeistation, der versprach, umgehend auch die Wasserschutzpolizei zu informieren.
Peer überlegte. »Vielleicht sollten wir außerdem für alle Fälle die Kollegen in Hamburg alarmieren, wo die ›Peking‹ liegt. Wer weiß, was für ein perfides Spiel die hier treiben.«
»Sie haben Recht, rufen Sie dort an. Und geben Sie vorher noch unseren Kollegen eine Personenbeschreibung der Yachtbesitzer durch. Die sollen als erstes die Altstadt um den Koberg herum nach den Leuten abklappern, dann die Untertrave.«
Als sich auf der A 226 vor einer Baustelle ein Stau bildete und sie gefühlt nur noch im Schritttempo voranzockeln konnten, drehte sich Vorrath zu ihrem neuen Mitarbeiter. »Und Sie sind sicher, dass es sich um eine ernstzunehmende Drohung handelt?«
»Ich kenne den Text nicht, den die Familie erhalten hat, insofern ist es Spekulation«, erwiderte Peer. »Aber die Ehefrau war definitiv eingeschüchtert. Und die Tochter …«
»Explosion auf der Walli!«, schrie jemand über Funk. »Sind an der Untertrave, sehen Qualm. Dichte Rauchentwicklung in Höhe des Restaurants!«
Viola Vorrath stöhnte auf. »Genau da, wo die Yacht liegt. Und wir trödeln hier rum. Verflixt!« Sie zögerte kurz. »Wir fahren trotzdem auf den Priwall, sind ja schon fast da. Die Kollegen vor Ort schaffen das.« Sie erteilte einige Anweisungen über Funk, während sie, am Ende der Baustelle angelangt, wieder Gas geben konnte. »Und Sie halten bitte den Kontakt zum 1. Revier.«
An der Travemünder Lotsenstation angekommen, sahen sie, dass sie Glück hatten: Die Priwallfähre wartete am Anleger und hatte noch Platz für ihren Wagen. Sie setzten auf die andere Traveseite über.
Am Passathafen hatten sich bereits fünf Polizisten eingefunden. Vorrath hielt auf einen großen, schweren Mann mit rundem, gutmütigem Gesicht zu. »Sören, danke für die schnelle Unterstützung. Das hier ist übrigens unser neuer Kollege Leichtfuß.«
Sören. Peer überlegte schnell: Das musste Sören Schwarzkopf sein, der Leiter der Travemünder Dienststelle.
»Neuer Kollege – und auch neue Dienstkleidung, was?« Schwarzkopf griente.
Peer, der völlig vergessen hatte, dass er sein Jogging-Outfit trug, lachte verlegen. »Na ja, war eigentlich privat unterwegs.« Oje, sein Shirt! Ein guter Käpt’n wird man nicht in ruhigen Gewässern.
Schwarzkopf schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Das können Sie ja man gleich unter Beweis stellen.«
Peer betrat die majestätische Viermastbark. 39 Mal hatte sie das berüchtigte Kap Hoorn umrundet, das erste Mal gleich bei ihrer Jungfernfahrt 1911. Er wusste, dass die ›Passat‹, Frachtschiff und einer der legendär schnellen Flying-P-Liner, im Südamerika-Einsatz gewesen war, und dennoch hatte er sie bisher nie besichtigt. Die Schiffe der Hansezeit flößten ihm noch mehr Respekt ein. Koggen und Kraweelboote hatten 500 Jahre vor der ›Passat‹ Handelswege bis nach Russland zurückgelegt und Pelze und Bernstein nach Lübeck eingeführt. Peer atmete tief durch, als er an das geplante Spektakel des ›Hansevolks‹ am Abend dachte.
»Kollege Leichtfuß übernimmt das Brückendeck.« Die Worte seiner Vorgesetzten ließen ihn wieder in der Realität anlanden. Sofort begab er sich auf die Suche nach Nachrichten jeglicher Art. Doch so sehr er auch nach unauffällig angebrachten Graffitis suchte, nach in die Ecke geschobener Flaschenpost oder Lücken in der Beplankung, in denen eine weitere papierne Nachricht versteckt sein mochte – er fand nichts. Zwanzig Minuten später rief Viola Vorrath alle Suchenden zusammen. »Was gefunden?«, schnarrte sie, und ihr Gesichtsausdruck ließ erahnen, was sie zu erwarten schien. Tatsächlich antworteten alle mit ›nein‹.
Der Travemünder Dienststellenleiter nahm Vorrath zur Seite. Er ließ sich die Nachricht zeigen, die Leichtfuß an der ›Lisa von Lübeck‹ gefunden hatte. »Meine Güte!«, rief er, »ihr habt doch den Teil eines P-Liners in der Jakobikirche!«
Peer schlug die Hand gegen die Stirn. Natürlich, das Rettungsboot der ›Pamir‹!
Sie jagten zurück in die Stadt; diesmal nahm Vorrath die B 75 und hupte sich die linke Spur frei. Peer informierte den Küster, der alle Besucher der Seefahrerkirche höflich, aber schnell hinauskomplimentieren sollte. »Aber sagen Sie bloß nichts von einem Polizeieinsatz, sonst haben wir wieder eine Horde Schaulustiger, die uns den Weg versperren.«
Vorrath parkte auf dem Koberg, um kein Aufsehen zu erregen; sie liefen die 150 Meter und waren froh über ihre Zivilkleidung; auch Vorrath trug keine Uniform. Peer kam sich deplatziert vor – im Sportdress in die Kirche zu gehen erschien ihm wie ein Sakrileg, auch wenn sich vermutlich kein Beobachter etwas dabei denken würde. Für ihn jedoch war die Jakobikirche mit ihrer Gedenkstätte etwas ganz Besonderes, ihre Atmosphäre erfüllte ihn mit Ehrfurcht. Sein Großvater war zur See gefahren, sein Vater arbeitete als Lotse, und auch Peer fühlte sich als Lübecker mit der Schifffahrt verbunden.
Kaum hatten sie den Kirchenraum betreten, vibrierte Peers Mobiltelefon. Die Kollegen hatten den Auftrag erhalten, den Kontakt zu Vorrath über ihn aufzunehmen. Judith Grasland vom 1. Revier rief an, um ihn über die Situation auf der Wallhalbinsel zu informieren. Die Ursache der Explosion war inzwischen ermittelt: es handelte sich nicht wie befürchtet um einen Anschlag. Stattdessen hatte jemand versucht, den Fettbrand eines Gasgrills unsachgemäß zu löschen – nämlich mit Wasser –, was in einer Verpuffung geendet hatte. »Wahrscheinlich ein Azubi des Restaurants, der einen Brunch vorbereiten sollte«, erklärte Grasland. »Zum Glück hatten wir vorher die Willy-Brandt-Allee abgesperrt, sodass nicht viel los war.« Sie seufzte. »Das ist jetzt natürlich kaum noch machbar.« Peer konnte sich den Andrang der Schaulustigen lebhaft vorstellen.
Er folgte seiner Vorgesetzten in die Pamir-Kapelle. Vorrath war gerade dabei, einen roten Zettel unter der vorderen Sitzbank des Rettungsbootes hervorzuziehen. Sie schnaubte. »Ein Wunder, dass den noch niemand bemerkt hat.«
Peers Telefon vibrierte erneut – wieder Judith Grasland. »Jemand vom Hansevolk hat sich gemeldet. Er will dringend mit dir reden.« Peer notierte die Nummer und versprach einen baldigen Rückruf.
Vorrath hatte den roten Zettel auseinandergefaltet. Er war ebenso groß wie das Papier, das Peer am Bugspriet der ›Lisa‹ sichergestellt hatte. Vorrath zog die Augenbrauen zusammen. »Will uns jemand veräppeln? Oder verstehe ich hier was nicht?« Sie reichte Peer die Nachricht weiter. Auch dieser Text war aus Zeitungsbuchstaben zusammengeklebt: ›Und weiter geht’s: Wo Klosterräume zum Gefängnis wurden, da befreie die nächste Botschaft.‹
»Klingt nach Schnitzeljagd oder Rallye. Und das im Zusammenhang mit einer Drohung …« Peer schüttelte den Kopf. »Das Ganze erinnert mich irgendwie an diese Horrorclowns vor einiger Zeit. Gruselig.«
»Oder es ist ein ganz, ganz schlechter Scherz.« Vorrath sah auf ihre Armbanduhr. »Der Hinweis auf den Ort ist jedenfalls klar: die nächste Anweisung ist in einer der Gefängniszellen im Hansemusum versteckt. Laufen Sie hin; ich fahre jetzt zurück zur Walli.«
Peer trippelte ein paarmal auf der Stelle und machte vier Kniebeugen, bevor er die Kirche verließ und über den Jakobikirchhof auf die Königstraße lief. Oder es ist ein ganz, ganz schlechter Scherz. Konnte das sein? Womöglich wollte jemand der Felicitas-Familie nur einen gehörigen Schrecken einjagen. In diesem Fall konnte man kombinieren, wie die erste, die fehlende Botschaft lauten müsste. Er stoppte seine Schritte in Sichtweite des Museumseingangs und zückte das Smartphone. »Habt ihr inzwischen die Yachtbesitzer gefunden?«, wollte er von Judith Grasland wissen.
»Fragt sie, ob die Drohung einen Hinweis auf die Nachricht an der ›Lisa von Lübeck‹ enthielt.«
Peer betrat den ehemaligen Gefängnistrakt im ersten Stock, in dem jetzt Räume eines Jugendzentrums untergebracht waren. Zwei der Zellen waren jedoch erhalten und zur Besichtigung