Von Lübeck bis Laboe. Karla Letterman
rechten Hand ab, bis der massige Körper nach links hin eine schiefe Ebene bildete. Dann ruckte er in ausgeklügeltem Rhythmus unter vollem Krafteinsatz des linken Oberschenkels so oft, bis der Schwung ausreichte, ihn zum Stehen zu bringen. Sofort verlagerte er sein Gewicht auf das steife rechte Bein, um das nun zitternde linke zu entlasten.
Die Haustürglocke schlug erneut an. »Jaja, ich komme doch.« Er verfluchte seine Angewohnheit, die Gehhilfe am Esstisch stehen zu lassen, wenn Gerda in der Nähe war. Dabei wusste er genau, dass er in die Bredouille kommen würde, sollte sie verhindert sein, ihm die Krücke zu bringen. Und nun war sie rausgegangen, und er sah alt aus. Ganz, ganz alt. Wenn er erst einen Moment auf den Beinen wäre, würde es wieder gehen. Doch bis er sich stabilisiert hatte, fühlte er sich jämmerlich. Im Vorüberhinken fasste er zornig nach dem Krückstock, ganz so, als wäre der für das Versäumnis verantwortlich.
Inzwischen pochte es gegen das Türblatt, fordernd, ungeduldig. »Ja doch, ja doch.« Widerwillen und Anstrengung hatte Waislings Wangen, Kinn und Stirn rot gefärbt; er spürte das Brennen der Gesichtshaut. Wer war bloß so unverschämt? Mit einem Ruck riss er die Haustür auf.
»Tut mir leid, Herr …« Die junge Streifenpolizistin warf einen schnellen Blick auf eine Ausweiskarte. »Herr Waisling.« Dann sah sie ihm geradewegs in die Augen. »Wir konnten Ihren Sohn nicht einfach hereinlassen – Sie verstehen sicher … es ist alles anders in dieser Krisensituation …«
»Aber – « Waisling entfuhr ein Schnaufen. Aufstehen und Gehen sowie der Ärger über die Störung machten ihn kurzatmig. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon die Frau sprach. Was hieß das mit seinem Sohn? Der war überhaupt nicht auf der Insel. Waisling konnte bloß hoffen, dass sie Gerda nicht beim Verletzten der Ausgangssperre geschnappt hatten. Jetzt durfte er sich nur nicht verplappern!
Die Polizistin stand auf der obersten Stufe der Eingangstreppe und starrte ihn erwartungsvoll an. Neben ihr ein Mann in Zivil, den er nicht kannte. Am Fuß der Treppe lehnte ein zweiter Uniformierter am Geländer.
Waisling setzte noch einmal an. »Aber das ist … das muss ja wohl …«
Der Typ neben der Beamtin, ein gedrungener Rotblonder mit Rauschebart – Waisling musste an nordische Krieger denken –, meldete sich eilig zu Wort. »Aber natürlich haben alle Verständnis für die Maßnahmen. Corona ist kein Kinderspiel. Das kann ich gar nicht oft genug sagen. Ist doch klar, dass jeder kontrolliert werden muss. Sonst bringt das alles ja nichts.« Er warf der Polizistin ein komplizenhaftes Lächeln zu.
Waisling stockte. »Ja, die Maßnahmen, jaja, natürlich …« Wo hatten sie bloß Gerda gelassen? Er reckte den Hals. Hatten sie sie im Auto festgesetzt, damit sie ihm keine Zeichen geben konnte, wann er den Mund halten sollte?
Ehe er sich’s versah, trat der junge Kerl über die Schwelle in sein Haus. Die Polizistin nickte knapp, drehte sich um und ging mit ihrem uniformierten Kollegen zum Wagen.
»Ich erklär’s Ihnen«, sagte der Eindringling, schob den verblüfften Waisling sanft zur Seite und schloss die Tür.
»Was fällt Ihnen ein?!« Endlich hatte Waisling die Sprache wiedergefunden. »Wer sind Sie? Wo ist meine Frau? Was macht mein Sohn?«
»Tja – à propos Ihr Sohn. Dem es übrigens prächtig geht … hat er Ihnen keine Nachricht geschickt?«
»Was denn für eine Nachricht?« Waisling fasste den Stock fester; womöglich würde er ihn noch brauchen. Wer konnte schon wissen, wie sich dieser Mensch noch aufführte?
»Sie haben doch ein Handy?« Der Wikinger machte Anstalten, das Wohnzimmer zu betreten.
Waisling tippte ihm von hinten mit dem Stock in die Kniekehle. »He. Halt! Was wollen Sie von uns?«
Der Typ drehte sich um, grinste. »Eigentlich nichts weiter. Was ich wollte, hab ich schon gekriegt. Aber wenn Sie so fragen: könnte ich vielleicht einen Kaffee haben? Für die zehn Minuten, die ich noch bleibe …?« Er hielt ein zerkratztes Smartphone in der Hand, auf dem er eben herumgewischt hatte.
Waisling kam nicht mit. Irgendetwas sagte ihm, dass der Eindringling, wenn er könnte, einen weiten Bogen um die Polizei machen würde, und dass er ein gewiefter Hund sei. Aber was hatte er mit seiner Familie zu schaffen? Kannte er vielleicht Fabian aus der Schule?
»Sie sind nicht von hier? Von Fehmarn. Oder?«
»Nicht direkt. Meine Tante lebt in Klausdorf. Ich wollte sie heute besuchen, aber sie scheint nicht da zu sein.«
»In Klausdorf, aha. Wie heißt sie denn?«
»Sie kennen sie bestimmt nicht. Sie wohnt erst seit letztem Jahr hier.«
Waisling vergewisserte sich, dass er genug Abstand zu dem ungebetenen Gast hielt, um den Krückstock im Falle eines Falles mit Wucht hochreißen und ihm über die Rübe ziehen zu können. Der hielt ihn offenbar für blöd, zu blöde, um zu merken, dass niemand mit der Story von einer Tante jetzt noch auf die abgeschottete Insel kommen würde. Der Ausdruck Fisimatenten schoss ihm durch den Kopf, der angeblich von der Ausrede ›visiter ma tante‹ stammte. Französische Besatzungssoldaten sollen seinerzeit versucht haben, sich damit Freigang für Damenbesuche zu ergaunern.
Vielleicht ganz gut, dass dieser zwielichtige Kerl ihn unterschätzte. Er würde ihn in seinem Glauben lassen – als reine Vorsichtsmaßnahme. Jetzt musste er umgehend herausbekommen, ob der Typ irgendeine Verbindung zu Gerda hatte.
Waisling glättete seine Stirn und hob die Stimme. »Ach, jetzt weiß ich’s! Ihre Tante ist bestimmt die Neue in diesem komischen … wie heißt das noch …? Sie wissen schon, in diesem Handarbeitszirkel? Da, wo meine Frau immer ihre Anleitungen herkriegt. Topflappen und Eierwärmer und so Sachen …«
»Ja, kann sein, Tantchen strickt auch, was das Zeug hält.«
Mist, so schnell ließ der sich nicht aufs Glatteis führen. Waisling musste nachlegen. »Na hören Sie mal, das hat sie Ihnen garantiert erzählt! Die haben doch eine Auszeichnung gekriegt von … äh ja, von wem noch gleich?« Er wackelte so trottelig wie möglich mit dem Kopf.
»Ach ja, jetzt wo Sie’s sagen … da war was. Aber ich habe die Details vergessen. Eine Ministerin, oder? Für Nachbarschaftshilfe oder so …?«
In dem Moment, als Waisling innerlich triumphierte – der Mensch hatte sich verraten, es gab auf ganz Fehmarn keinen in dieser Form geehrten Handarbeitskreis –, kratzte es an der Tür. Das war unverkennbar Gerda! Sie stocherte immer mit mindestens drei falschen Schlüsseln um das Schloss herum, bevor sie den richtigen fand. Statt die endlich mal zu kennzeichnen! Nun sah er auch ihren unscharfen Schatten durch die Glasbausteine.
Er atmete auf. Sie war also weder in Arrest genommen noch von Möchtegern-Wikingern entführt worden. Sie war außer Gefahr. »Hinnerk!«, rief es durch die geschlossene Tür. »Mach mal auf. Ich seh dich doch!«
Es war eine Frage von Sekundenbruchteilen, dass ein Plan von Hinnerk Waisling Besitz ergriff.
»Gerda! Wie gut, dass du kommst.« Er öffnete ihr die Tür und schnaufte theatralisch. »Ich wollte eben unserem Gast hier etwas anbieten, aber – du kennst mich ja … die Küche ist nicht mein Revier. Ich weiß gar nicht, ob wir noch Kekse haben.«
Gerda sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Waisling drehte dem Eindringling den Rücken zu und tat so, als müsse er sich an der Nase kratzen. Dabei legte er Zeige- und Mittelfinger aneinandergepresst über die Lippen, eine knappe Geste nur, doch Gerda schaltete sofort. Nach 43 Jahren Ehe waren ihre Rituale, ihre Zeichen und ihr siebter Sinn für die Befindlichkeiten des anderen ausgereift.
»Herein in die gute Stube!« Waisling hielt beiden die Küchentür auf, wobei er sich schwerfällig nach links krümmte, dann mehrmals über sein rechtes Bein strich und ächzte. »Ich … ich suche mal eben mein Handy, weil … weil unser Gast hier sagt, dass da eine Nachricht von Fabian sein müsste. Ich … bin gleich wieder da.« Er hatte eine Extraportion Wehleidigkeit in die Stimme gelegt, damit der Fremde annahm, er müsse noch sein versehrtes Bein behandeln, sei aber zu eitel, um das zuzugeben.
»Sind Sie