Der Winterkönig. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges. Jörg Olbrich
dessen Fütterung mit Samt umnäht war.
»Wie gefällt Euch diese Reise nach Pressburg, mein junger Freund?«
Anton sah Klesl überrascht an. Er hat nicht damit gerechnet, dass der Kardinal, der dem Schreiber in den letzten Tagen keinerlei Beachtung geschenkt hatte, ihn ansprechen würde. »Ich erachte es für wichtig, dass das ungarische Reich einen König bekommen hat, der dem Kaiser treu ergeben ist«, sagte er vorsichtig.
»Ist er das denn?«
»Ich verstehe Euch nicht …«
Anton lief ein Schauer über den Rücken. Er hätte das Gespräch mit Klesl am liebsten sofort wieder beendet und wäre gegangen. Wollte ihn der Kardinal etwa über König Ferdinand ausfragen? Weil der Jesuit über große Macht im Kaiserhof verfügte, durfte ihn Anton nicht verärgern, wenn er seine Anstellung als kaiserlicher Sekretär nicht in Gefahr bringen wollte. Er hatte allerdings auch nicht das Bedürfnis, einen Pakt mit dem Mann zu schließen.
»Denkt Ihr, dass Ferdinand und Matthias auf einer Seite stehen?«
»Natürlich tun sie das«, antwortete Anton.
»Ich weiß, dass der König nur zu gerne gegen Prag in den Krieg ziehen würde.«
»Warum sollte er das tun?«, gab Anton zurück, dem die Situation immer unheimlicher wurde. »Schließlich ist er der König von Böhmen.«
»Was glaubt Ihr, wie lange das noch der Fall ist?«
Zu seiner Erleichterung ersparte eine Salve aus den Musketen der Landsknechte Anton zunächst die Antwort. Er fühlte sich mehr als unwohl in seiner Haut. Klesl schien ihm mit seinen starren Augen direkt hinter die Stirn schauen zu können und nur auf eine falsche Reaktion des Schreibers zu warten.
Unter dem Beifall der Zuschauer luden die Landsknechte ihre Musketen nach und richteten die Läufe ihrer Waffen in die Luft. Ein ungarischer Obrist gab das Zeichen, die zweite Salve zu Ehren des Königs abzufeuern. Dieses Mal war Anton auf den Lärm vorbereitet und erschreckte nicht. Neben ihm zuckte der Kardinal jedoch plötzlich zusammen und sprang auf.
»Was ist mit Euch?«, fragte Anton überrascht.
Klesl stand mit bleichem Gesicht vor seinem Stuhl und starrte entsetzt auf einen Riss in seinem Umhang. »Ich bin von einer Kugel gestreift worden«, schrie er voller Panik.
Anton sah mit weit aufgerissenen Augen zu den Landsknechten und schüttelte den Kopf. »Wie kann so etwas passieren?«
Klesl antwortete nicht. Der Kardinal musste sich am Stuhl abstützen. Anton konnte den Schock des Mannes verstehen. Hätte er zehn Zentimeter weiter links gesessen, hätte ihn die Kugel getötet.
Die Zuschauer schienen nichts davon mitbekommen zu haben, dass sich hinter ihnen beinahe ein tödlicher Unfall ereignet hatte. Lediglich König Ferdinand warf einen Blick zu den oberen Reihen. Der konnte auf die Entfernung aber unmöglich etwas gesehen haben. Die Gedanken rasten durch Antons Kopf. War es etwa die Absicht der Landsknechte gewesen, Kardinal Klesl zu ermorden? Sie zielten nach oben, da hätte es eigentlich keinen Treffer geben dürfen … Hatte der König am Ende sogar davon gewusst?
Erst jetzt wurde Anton klar, dass die Kugel auch genauso gut ihn hätte treffen können. Ihm wurde schwindelig und er hielt sich krampfhaft an seinem Stuhl fest. Auf Kardinal Klesl, der von zwei seiner Bediensteten ins Schloss begleitet wurde, achtete er jetzt nicht mehr.
Böhmen, 03. Juli 1618
»Was ist hier nur passiert?«, fragte Magdalena mit Tränen in den Augen und deutete auf die abgebrannten Häuser des kleinen Ortes. Alles lag in Trümmern. In den Gassen lagen kaputtgeschlagene Stühle, Töpfe und Werkzeuge. Selbst die Kirche war nicht verschont worden und bildete nun ohne Dach den traurigen Mittelpunkt des Dorfes. Wo aber waren die Bewohner?
»Ich hatte so etwas befürchtet«, sagte Philipp und legte Magdalena tröstend den Arm um die Schultern. »Dieses Ausmaß der Zerstörung habe ich aber nicht erwartet.«
»Du hattest Recht, wir hätten nicht hierherkommen sollen. Meine Heimat existiert nicht mehr. Wer um Gottes Willen tut so etwas? Bisher habe ich geglaubt, dass sich der Krieg noch verhindern lässt. Hier sieht es aber so aus, als wäre er bereits in vollem Gange.«
»Es sind die Söldner auf dem Weg nach Prag. Leider unterscheiden sie nicht zwischen Freund und Feind.«
»Wenn das so ist, sind wir nirgendwo in diesem Reich mehr sicher.«
Philipp antwortete nicht. Er wollte Magdalena nicht das Gefühl geben, dass er es bereute, sie in ihre Heimat begleitet zu haben. Nach dem Abend, an dem sie ihm eröffnet hatte, Prag verlassen zu wollen, war Magdalena noch schweigsamer geworden als vorher. Philipp hatte schließlich vorgeschlagen, zum Gasthaus ihrer Eltern zu reiten und gehofft, dass Magdalena mit ihm nach Prag zurückkam, wenn sie sah, dass sie hier nichts mehr ausrichten konnte. Es tat ihm entsetzlich leid, dass er ihr diesen grauenvollen Anblick nicht hatte ersparen können.
Philipp hatte sich bei Polyxena von Lobkowitz zwei Pferde geliehen und sie gebeten, ihn für ein paar Tage aus dem Dienst zu entlassen. Zunächst war die Gräfin eher skeptisch gewesen, hatte aber schließlich zugestimmt, als Philipp ihr den Grund für seine Bitte erklärt hatte. Er und Magdalena waren am frühen Morgen losgeritten und hatten ihr Ziel gegen Nachmittag erreicht. Ohne Kutsche ließ sich der Weg bedeutend schneller bereisen.
Am Gasthaus von Magdalenas Eltern hatte sich nichts verändert. Zu Philipps Erleichterung hatte man allerdings die Leichen weggeschafft. Sie waren zum Dorf geritten, weil Magdalena herausfinden wollte, wo man die beiden beerdigt hatte. Als sie die ersten Ruinen sahen, waren sie von den Pferden gestiegen und hatten diese an einem Baum festgebunden.
»Es können aber doch nicht alle umgekommen sein«, sagte Magdalena mit trauriger Stimme.
»Stimmt. Irgendjemand muss die Toten bestattet haben.«
Philipp fing sich für diese Bemerkung einen bösen Blick ein und bereute sofort, dass er nicht sensibler reagiert hatte. Er litt mit Magdalena, aber es fiel ihm schwer, seine Gefühle zu zeigen.
»Lass uns durch den Ort gehen, vielleicht finden wir doch noch jemanden, der sich aus Angst davor versteckt hat, dass die Leute zurückkehren könnten, die dieses Unheil zu verantworten haben.«
»Ich hoffe wirklich, dass hier noch jemand ist.«
Die beiden gingen durch die einzige Straße, die mitten durch den kleinen Ort führte. Menschen sahen sie nicht. Zu Philipps erneuter Erleichterung aber auch immer noch keine Toten. Es musste schon eine Weile her sein, dass dieses Dorf verwüstet worden war. Nach der Hitze der letzten Tage hätten die Leichen keinen schönen Anblick geboten.
»Willst du die einzelnen Häuser durchsuchen?«, fragte Philipp Magdalena, als sie den Ort durchquert und noch immer nichts gefunden hatten.
»Es bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn hier noch jemand ist, müssen wir ihn finden. Aber wir bleiben zusammen.«
Sie nahmen sich Haus für Haus vor, fanden aber nichts, was ihnen weiterhalf. Räuber mussten das Dorf nach seiner Zerstörung geplündert und alles Brauchbare mitgenommen haben. In den leergeräumten Vorratskammern fanden sie noch nicht einmal mehr ein Stück Brot.
»Jetzt bleibt uns nur noch die Kirche«, sagte Philipp am Ende erschöpft. Magdalena folgte ihm durch den Eingang. Beide sahen entsetzt, dass selbst der Altar von den Räubern geschändet worden war. Der komplette Innenraum der Kirche war zerstört. Dort, wo einmal kostbare Verzierungen gehangen hatten, gab es jetzt nur noch kahle, verrußte Wände.
»Noch einen Schritt weiter und ihr seid tot.«
Philipp erschrak. Die Frauenstimme war aus dem hinteren Teil der Kirche gekommen, der in völliger Dunkelheit lag. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass die Unbekannte ihre Drohung wahrmachen würde. Was auch immer an diesem Ort geschehen war, wenn es Überlebende gab, mussten diese sehr vorsichtig auf Fremde reagieren.
»Ich bin es: Magdalena.«
»Lava?«