Der Winterkönig. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges. Jörg Olbrich
Haaren und völlig verschmutzter Kleidung trat aus der Dunkelheit und blieb vor Magdalena stehen. »Du bist es tatsächlich«, sagte sie überrascht und senkte ihre Muskete.
»Das ist Karla«, sagte Magdalena, noch während sie auf die Frau zuging und sie in den Arm nahm. »Ich bin so froh, dass du lebst!«
»Wer ist der Kerl bei dir?« Das Misstrauen war deutlich aus Karlas Stimme herauszuhören.
»Sein Name ist Philipp Fabricius. Er hat als Sekretär für die Statthalter in der Prager Burg gearbeitet, bevor es zum Aufstand gekommen ist.«
»Deine Eltern haben davon erzählt, bevor das hier alles passiert ist. Sie sagten, dass du mit ihm nach Wien gereist bist.«
»Das ist richtig. Als wir zurückgekommen sind, lag unser Gasthaus schon in Trümmern. Was in Gottes Namen ist hier geschehen?«, fragte Magdalena um einen ruhigen Tonfall bemüht.
»Es begann im Kloster. Es wurde von einer Horde von fast fünfzig bewaffneten Männern überfallen. Sie kamen in der Morgendämmerung und trieben die Jesuiten aus ihren Betten. Einige der Mönche wurden sofort getötet. Die anderen flohen in Richtung Dorf.«
»Wo sie aber auch nicht in Sicherheit waren«, vermutete Philipp.
»Nein. Das waren sie nicht.« Karlas Stimme klang verbittert. Sie musste eine schreckliche Zeit hinter sich haben, wenn sie seit dem Überfall alleine im Dorf geblieben war.
»Die Horde hat unseren Ort überrannt. Die Männer unterschieden nicht mehr zwischen Bewohnern und Mönchen. Wer ihnen zu nahe kam, wurde gnadenlos erschlagen. Sie hatten Fackeln dabei und brannten alles nieder. Nicht einmal vor unserer Kirche haben sie haltgemacht.«
»Und vor dem Gasthaus meiner Eltern auch nicht«, sagte Magdalena traurig.
»Ich war dort …«, sagte Karla. »Doch leider kam jede Hilfe zu spät.«
»Wo sind die anderen Dorfbewohner?«, fragte Philipp, der sah, wie Magdalena mit den Tränen kämpfte und nicht sprechen konnte.
»Einige wurden ermordet«, antwortete Karla. »Nachdem die Horde verschwunden war, kamen Räuber, die schauen wollten, ob im Ort noch etwas zu holen ist. Es kam zu erbitterten Kämpfen, die viele der Bauern nicht überlebt haben. Die anderen sind weggegangen, nachdem wir die Toten beerdigt haben. Sie suchen in den anderen Orten nach einer Bleibe und Arbeit.«
»Dann bist nur noch du hier?«, Philipp war verwundert darüber, dass die junge Frau trotz der furchtbaren Ereignisse im Dorf geblieben war. Sie hatte großes Glück gehabt, dass sie den Plünderern nicht in die Hände gefallen war.
»Nein. Der Pater ist auch noch hier. Er ist verletzt und liegt im hinteren Teil der Kirche. Ich kümmere mich um ihn.«
»Können wir mit ihm sprechen?«, fragte Philipp.
»Er schläft und wird nur noch selten wach. Sie haben ihm eine Klinge in den Bauch gerammt. Ich habe ihn verbunden und ihm zu essen und zu trinken gegeben. Trotzdem wird er jeden Tag ein bisschen schwächer. Ich fürchte, dass er sterben wird. Ich habe versucht, ihn von hier wegzubringen, aber das konnte ich alleine nicht schaffen. Jetzt ist es zu spät dafür.«
»Wir werden dir helfen!«, sagte Magdalena. Sie schien ihre Fassung zurückerlangt zu haben und machte auf Philipp einen entschlossenen Eindruck.
»Ich sage doch, es ist zu spät«, sagte Karla traurig. »Kommt mit. Wir gehen zu ihm.«
Die junge Frau führte die beiden in den hinteren Teil der Kirche. Ein Nebenraum wurde von zwei Kerzen so weit beleuchtet, dass zumindest Umrisse schemenhaft zu erkennen waren. Der Pater lag in einer Ecke auf einem provisorischen Lager. Er bemerkte nicht, dass Karla nicht alleine zu ihm zurückkehrte, und rührte sich nicht. Als Philipp den leblosen Körper sah, kam ihm ein furchtbarer Verdacht. Langsam schritt er auf den Pater zu und ging neben ihm in die Hocke.
»Er ist tot«, stellte Philipp vorsichtig fest, nachdem er einen Blick in die gebrochenen Augen des Paters geworfen hatte.
Karla stieß einen entsetzten Schrei aus und warf sich neben der Leiche auf den Boden. Philipp wollte ihr gerne helfen, wusste aber nicht, was er tun sollte. Endlich reagierte Magdalena. Sie setzte sich neben die Frau, die weinend auf dem Boden lag, und nahm sie in den Arm. Weil er das Gefühl hatte, die beiden zu stören, entschloss sich Philipp, nach draußen zu gehen und dort auf die jungen Frauen zu warten.
***
Philipp saß vor der Kirche auf der Treppe und hing trüben Gedanken nach. Der Ort war zu einem Geisterdorf geworden. Das Grauen hatte sich wie ein Teppich über die Ruinen gelegt. Der Sekretär schaute fröstelnd zur Kirchentür, als die beiden Frauen schließlich ins Freie traten.
»Wir müssen den Pater begraben«, sagte Magdalena leise.
»Das werden wir tun«, stimmte Philipp zu. Er wollte Magdalena den Arm um die Schulter lege, traute sich aber nicht so recht, sich ihr zu nähern. »Wo finden wir Werkzeug?«, fragte er stattdessen.
»Ich hole einen Spaten«, antwortete Karla und ging mit gesenktem Kopf an der Kirche vorbei zu einem kleinen Haus, dessen Dach ebenfalls vollständig verbrannt war.
Magdalena führte Philipp zum Friedhof. Der Sekretär konnte den Schmerz seiner Begleiterin fast körperlich spüren. Auch ihm selbst tat es unendlich weh zu sehen, was in diesem Ort geschehen war, obwohl er keinen der Menschen gekannt hatte, die hier gelebt hatten. Waren das die Vorboten eines unvermeidlichen Krieges? Mussten die Bauern im Reich nun für den Machtwechsel in Prag bezahlen?
»Wo liegen meine Eltern?«, fragte Magdalena, als Karla mit dem Spaten auf dem Friedhof ankam.
»Die Gräber sind im hinteren Teil.« Die junge Frau ging voran und sie erreichten den Bereich, an dem siebzehn neue Gräber zu sehen waren. Magdalena ging zu den Holzkreuzen, die ihr zeigten, wo ihre Eltern ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Mit gesenktem Kopf blieb sie vor den beiden Hügeln stehen.
Philipp und Karla blieben zurück und ließen Magdalena in Ruhe, während die sich in einem letzten Gebet von Vater und Mutter verabschiedete.
Karla wies Philipp am Ende der Reihe mit den frischen Erdhaufen eine Stelle, an der das neue Grab ausgehoben werden sollte. Er nahm ihr den Spaten ab, ging zu der Stelle und begann zu graben. Schnell spürte er die Schweißtropfen auf der Stirn. Er atmete schwer, wollte sich aber auf keinen Fall von einer der beiden Frauen ablösen lassen. In seinem bisherigen Leben hatte Philipp nur sehr selten körperliche Arbeit leisten müssen und stattdessen viel Zeit an seinem Schreibtisch verbracht. Die ungewohnte Tätigkeit forderte ihren Tribut, lenkte ihn aber wenigstens etwas ab. Gerne hätte sich Philipp seines Hemdes entledigt, wusste aber, dass er das an diesem Ort nicht durfte.
Endlich war das Grab tief genug und Philipp stieg aus dem Loch heraus. Dankbar nahm er Karla einen Becher mit Wasser ab und leerte ihn in einem Zug. Die beiden Frauen ließen ihn einen Moment verschnaufen, bevor alle gemeinsam zurück in die Kirche gingen, um den Leichnam zu holen.
»Hast du eine Decke?«, fragte Philipp, der den Geistlichen nicht einfach so in die Erde legen wollte. Wenn es schon keinen Sarg gab, wollte er den Körper des Toten wenigsten ein bisschen schützen. Er hätte es nicht geschafft, auch nur einen Spaten voll Erde auf die Leiche zu werfen, wenn das verzerrte Gesicht des Paters noch zu sehen gewesen wäre.
Als Karla mit einer Decke zurückkehrte, wickelten sie den Toten mit vereinten Kräften darin ein und trugen ihn auf den Friedhof. Wieder ergriff Philipp den Spaten und übernahm es, das Grab zuzuschaufeln. Als er mit seiner Arbeit fertig war, war er völlig verschwitzt und am Ende seiner Kräfte. Es war bereits spät am Abend, aber immer noch sehr warm.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte Magdalena, nachdem sie ein letztes Gebet für den Toten gesprochen hatten, und schaute Karla traurig an.
»Ich werde nicht hierbleiben. Meine Eltern sind weitergezogen. Ich habe versprochen, mit dem Pater nachzukommen, wenn es ihm besser geht. Jetzt ist er tot und es gibt nichts mehr, was ich hier noch ausrichten kann. Ich werde den Ort morgen verlassen. Wenn du willst, kannst du mit mir kommen.«