Die nächste Generation. Jule Beatsch
den Kiesweg entlangfuhr und aus dem Blickfeld der beiden Teenager verschwand.
Tarik nahm seine schwere Reisetasche auf die Schulter und fragte etwas ratlos:
„Und wo genau müssen wir jetzt hin?"
Clementine versuchte ebenfalls ihr Gepäck hochzuheben, das wesentlich mehr war als bei Tarik, doch scheiterte am Gewicht.
„Soll ich dir tragen helfen?", bot Tarik freundlich an und wollte sich schon hinknien, um ihr den Koffer abzunehmen, aber sie schnappte ihre Tasche energisch weg und sagte nur patzig: „Nein danke, ich komme auch sehr gut ALLEINE zurecht", und stolzierte auf eine große hölzerne Tür zu, die offenbar der Eingang war.
„Ich wollte ja nur helfen! …“
Die ist heute wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden, dachte der schwarzhaarige Junge und seufzte nur leise. Es half alles nichts. Dann richtete er seinen Blick nach vorne und folgte Clementine zu der großen Tür, vor der sie bereits stand und die kleinen Schilder las, die dort sorgfältig angebracht waren. Tarik beschloss, einen erneuten Versuch zu wagen, das Mädchen zum Sprechen zu bringen: „Hast du vielleicht eine Ahnung, wo wir hier sind? Ich habe nämlich nicht den leisteten Schimmer, um ehrlich zu sein."
Bevor er überhaupt richtig mit seinem Satz geendet hatte, fuhr sie schon zu ihm herum und meinte genervt: „Genau das versuche ich ja gerade irgendwie herauszufinden! Sehe ich etwa aus wie ein verdammtes Reisebüro? So wie du aussiehst, könnte man eher davon ausgehen, dass du alles weißt!", schleuderte sie ihm entgegen und widmete sich wieder ihrer Suche nach dem richtigen Schild an der Tür.
„Boah, tut mir ja leid, ich versuche ja nur nett zu sein", rief Tarik vorwurfsvoll, fuhr sich mit der linken Hand seufzend durch die tiefschwarzen Haare und sah sich auf dem Anwesen um. Es war von vielen Wiesen umgeben und lag gut versteckt hinter ein paar einzelnen Felsmassiven, die die glatte Landschaft wie Dolche durchstießen. Von außen würde man gar nicht vermuten, dass hier jemand wohnen würde. Allerdings war das auch nicht sonderlich wunderlich, denn nur eine alte, verwitterte, schmale Landstraße verband dieses versteckte, abgelegene Grundstück mit der nächsten Stadt, die locker über zwei Stunden Fahrt von hier entfernt liegen musste. Plötzlich ging dem Jungen ein Licht auf. Die Fenster waren auch von innen abgedunkelt gewesen! Mr. Mitchell wusste ganz genau, was er tat: Er wollte verhindern, dass er selbst oder Clem den Weg sähen und sich womöglich daran erinnern könnten. Aber er hatte ja mehrmals besonders betont, wie wichtig es war, dass dieser Standort geheim blieb. Ganz schön clever.
„Hey, du komischer Vogel, ich habe das richtige Schild gefunden. Bei der Verwaltung muss doch bestimmt jemand dabei sein, der uns hier weiterhelfen kann!", rief Clementine zu ihm herüber und klingelte dreimal hintereinander.
„Mach das doch nicht so aufdringlich", schimpfte Tarik, „sonst haben sie gar keinen Bock uns zu helfen".
„Das musst gerade du sagen, wie witzig", murmelte das blonde Mädchen, doch als Tarik etwas erwidern wollte, öffnete sich mit einem langgezogenen unheilvollen Knarzen die schwere Holztür und ein großer dunkler Schatten fiel auf die beiden.
Back in Black
(AC/DC, 1980)
Der dunkle Schatten war gigantisch groß. Tarik stockte für einen kurzen Moment der Atem, als die Gestalt sehr langsam die schwarze Kutte abnahm. Clementine stand bis aufs äußerste angespannt neben ihm und man merkte, dass sich vor Feindseligkeit alle Haare an ihr sträubten wie bei einer Raubkatze. Die Augen der beiden Teenager waren vor Schreck geweitet und auf die verhüllte Person vor ihnen gerichtet; keiner brachte auch nur ein einziges Wort hervor. Die Gestalt hielt kurz inne, dann hörte man ein erstauntes Aufatmen und Clementine und Tarik wurden am Handgelenk gepackt.
„Lass mich los, was fällt dir ein!", knurrte das blonde Mädchen und riss an ihrem Arm, doch der Griff der unbekannten Person war zu fest. Auch Tarik versuchte sich vergebens zu befreien, offenbar war es ein Mann, der vor ihnen stand. Sobald er die beiden ins Innere des Anwesens gezogen hatte, ließ er sie endlich los.
Clementine fauchte böse und schüttelte ihr Handgelenk:
„Man hätte das auch sanfter machen können!"
„Schhhh! Sie hätten euch sehen können! Sie sind einfach überall…", flüsterte der Fremde unter der schwarzen Kutte und legte bedeutsam seinen Zeigefinger auf den Mund. An der Stimme hatten die beiden sofort erkannt, dass es wirklich – wie vermutet – ein Mann sein musste.
„Wer bist du eigentlich?", wagte Tarik mutig zu fragen und sah den seltsamen Mann skeptisch von der Seite an. Aber er reagierte nicht darauf, sondern winkte die beiden zu sich und deutete ihnen an, ihm zu folgen.
„Wo bringst du uns hin? Wenigstens das könntest du uns doch verraten…?", nörgelte Clem sichtlich genervt, aber setzte sich dann doch hinter Tarik in Bewegung. Offenbar hatte sie eingesehen, dass es nichts bringen würde, sich zu beschweren. Zudem waren sie ja tatsächlich in Gefahr. Trotzdem merkwürdig, was der Fremde gesagt hatte. Mit großen, schnellen Schritten eilte der Verhüllte die geräumigen Gänge und Flure entlang. Tarik brachte es kaum fertig, sich die vielen verschiedenen Gemälde anzusehen, die an den steinigen Wänden verteilt hingen. Die meisten von ihnen waren Zeichnungen und Porträts von Leuten, die er noch nie gesehen hatte. Die Gänge, die sie entlangliefen, waren bogenförmig, das fiel ihm sofort auf. Mattes Licht erhellte die dunklen Korridore zumindest so, dass man ein paar Meter weit sehen konnte, ansonsten war es ziemlich finster.
„Glaubst du, er bringt uns unter die Erde?", wisperte Tarik in Clementines Richtung und bemerkte: „Es wird nämlich immer wärmer und die Luftfeuchte ist irgendwie angestiegen." Clem sah ihn nur kurz an: „Keine Ahnung, ich bin genauso lange hier wie du auch, wieso sollte ich mehr wissen?"
Tarik seufzte. Er hätte ja wissen können, dass man mit Clementine einfach kein richtiges Gespräch führen konnte. Das war eines der vielen Dinge, die ihm fehlen würden. Mit Alan hatte er immer über alles Mögliche reden können, er war immer für ihn da gewesen und nun hatte er ihn, ohne auch nur ein einziges Wort des Abschieds, vielleicht für immer verlassen. Tarik spürte, wie sein furchtbar schlechtes Gewissen an ihm nagte, aber er wusste, dass er das hier alles nur deshalb tat, weil es das einzig richtige war.
„Hier rein, los kommt schon, das hier ist kein Hotel!", befahl die Stimme, aber nicht herrisch, sondern eher freundlich, was Tarik nachdenklich werden ließ.
„Was ist das denn bitte hier?", fragte Clementine und sah sich neugierig um. Tarik folgte ihrem Blick und bemerkte, dass sie in einem sehr großen Raum mit relativ hoher Decke standen. Verrostete Kerzenleuchter, von denen weißes Wachs tropfte, warfen ein unheimliches Dämmerlicht an die Wände. Tarik entdeckte einige Vitrinen an der Wand, in denen Waffen aufbewahrt wurden. Auch in diesem Raum hingen Gemälde von großen Kriegern und heldenhaften Menschen.
„Wow, was ist das hier?", flüsterte Tarik begeistert, sein Blick war an den Waffen hängengeblieben. Sie waren nicht staubig, aber es fiel dem Jungen auf, dass eine verklebte Substanz die Griffe und Klingen zierte. Mit Schrecken musste er feststellen, dass es aussah wie Blut, und zwar nicht gerade wenig. Das hier musste echt etwas ganz Besonderes sein.
„Wer bist du eigentlich? Und warum entführst du uns gegen unseren Willen, na? Zeig dich, wir haben keine Angst!", forderte Clementine und verlieh ihrer ohnehin schon zynischen Stimme einen scharfen Unterton.
„Ganz ruhig, ich habe euch außerdem nicht entführt, da muss ich wohl was klarstellen: Ihr seid mir ja freiwillig hinterhergelaufen, ich habe euch nicht mit Gewalt hierher gezwungen. Ihr müsst auch keine Angst haben, zumindest nicht vor mir", erklärte der Fremde ruhig und sachlich.
„Wer bist du und warum versteckst du dich vor uns? Wir sind doch nun wirklich keine Gefahr für dich, oder?", fragte Tarik ernst und verschränkte die Arme erwartungsvoll.
„Oh stimmt, hätte ich ja beinahe vergessen", lachte der Mann und zog sich mit einer Handbewegung die Kutte vom Körper. Zum Vorschein kam ein muskelbepackter, am Arm und an der Brust tätowierter junger Mann mit dunklem Haar und leuchtend grünen Augen. Er hatte ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt an, wodurch man seine Muskeln besonders gut sehen