Die nächste Generation. Jule Beatsch

Die nächste Generation - Jule Beatsch


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wo sind denn die Pflaster? Haben wir eigentlich überhaupt noch welche?", fragte er sich selbst und wühlte in allen möglichen Schränken herum. „Ah, hier, mal schauen, ob… ähm was…?", rief Tarik verwirrt aus und starrte auf seine Hand. Der Schnitt war weg.

      „Hä?", sagte er verwundert und drehte seine Hand im Licht. Nichts. Da war nichts mehr zu sehen. Gar nichts. „Ich hätte schwören können, dass ich mir gerade in den Finger geschnitten habe", murmelte Tarik höchst verwundert, aber dann hatte er einen Geistesblitz. Er lief wieder zurück zu dem Stück Fleisch und dem Messer. Vorsichtig nahm er es in die Hand und hielt die Klinge so in das Licht, dass er kleine Blutstropfen darauf erkennen konnte. Er hatte sich also doch nicht getäuscht; er hatte sich tatsächlich geschnitten.

      „Mal sehen, ob…", flüsterte er und setzte das Messer vorsichtig noch einmal an seinen Handrücken. Er kniff die Augen zusammen und drückte kurz zu. Als er die Augen wieder öffnete und die Klinge anhob, quoll leuchtend rotes Blut aus der kleinen frischen Wunde. Aber dann sah Tarik etwas, was er sich nicht erklären konnte. Sekundenschnell begann die Wunde sich zu verschließen. Das Blut verschwand augenblicklich und es blieb nicht einmal eine klitzekleine Narbe zurück. Gar nichts dergleichen. Man konnte nichts mehr erkennen.

      „Wow, sowas habe ich ja noch nie gesehen", staunte Tarik und sah seine Hand an, als wäre sie das achte Weltwunder. Jake bellte wieder ungeduldig und trat Tarik mit seinen Pfoten ans Bein.

      „Cool, was?", grinste der Junge begeistert. „Ach ja, jetzt hätte ich es fast vergessen: Hier für dich!", fügte er noch hinzu und reichte seinem Husky das Fleischstück, das Jake gierig und in schnellen Bissen verschlang.

      „Tarik kannst du mir vielleicht kurz etwas abnehmen, bitte?", fragte eine Frauenstimme, die aus der Richtung der Haustür kam.

      „Ja Mum, ich bin sofort da!", rief Tarik aufgeregt und legte das Messer und das Schneidebrett schnell auf die Anrichte.

      Dann rannte er in einem Affentempo den Flur entlang und hätte fast eine Vase mitgerissen.

      „Tarik, was ist denn mit deinem Gesicht passiert?", fragte Ms. North besorgt und strich ihrem Sohn vorsichtig über die Wange. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und sagte ausweichend:

      „Bin nur blöd hingefallen, es ist nichts passiert, mir geht es gut!", versicherte er seiner Mutter und versuchte möglichst glaubhaft zu erscheinen, denn er wollte nicht, dass sie sich Sorgen um ihn machen musste. Denn auch so hatten sie schon genug Probleme. Schnell schnappte er sich eine der beiden Tüten und sagte:

      „Komm mal mit in die Küche, ich muss dir etwas zeigen!".

      Ms. North nickte nur müde und folgte ihrem Sohn zu Jake in die Küche; der Hund strich der blonden Frau freudig um die Beine und bettelte um Streicheleinheiten.

      „Sieh mal", rief Tarik begeistert, nahm sich das Messer aus der Spüle und setzte an.

      „Tarik, halt, was soll das den werden??", rief seine Mutter und wollte vorschnellen und ihm das Messer aus der Hand reißen. „Nein, warte Mum! Es ist einfach unglaublich, sieh doch selbst!

      Mir wird nichts passieren!", versicherte ihr der Junge und schnitt sich geschwind noch einmal in die Hand, genau wie beim ersten Mal auch. Es blutete, was ja auch nicht anders zu erwarten war.

      „Was sollte das denn Tarik!? Das war eine dumme Idee! Ich will das nie wieder von dir se – was…??", stotterte sie ungläubig, als sie mit eigenen Augen sah, wie sich die kleine Wunde binnen Sekunden wieder verschloss.

      „Cool, nicht wahr?", neckte Tarik zufrieden und sah Mrs. North stolz an. Diese sackte fassungslos auf ihren Stuhl zurück und war einfach nur sprachlos.

      „Wie…wie kann das nur möglich sein? So etwas habe ich noch nie gesehen!", murmelte sie und fixierte gedankenverloren irgendeinen Punkt in der Küche.

      „Weißt du, was das bedeutet?", fragte Tarik immer noch ganz aufgeregt. Seine Mutter schüttelte stumm den Kopf und seufzte, als könnte sie das alles, was sie hier sah, nicht glauben.

      „Das bedeutet, dass ich jetzt kein Tier-Freak mehr bin, sondern etwas Besonderes!", schlussfolgerte Tarik glücklich und lief um den Tisch herum zu seiner Mutter hinüber, die immer noch kein

      Wort gesagt hatte. „Mum, was ist denn?", wollte er mit gerunzelter Stirn wissen und sah ihr in die Augen. Ihr Blick sagte mehr als tausend Worte, man konnte ihr ansehen, dass ihr Tariks (wie sollte man das am besten nennen? Talent? Fähigkeit? Angewohnheit?) mehr Angst machte als Freude.

      „Ach Junge, auch so bist du etwas Besonderes, bloß… so etwas ist einfach nicht möglich, kein Mensch auf dieser Welt kann das. Es geht einfach nicht…", stammelte sie und man sah, wie krampfhaft sie überlegte, ob es vielleicht doch eine Lösung gab, sein Verhalten vernünftig zu erklären. Doch vergebens.

      „Vielleicht bin ich ja gar kein Mensch", sagte Tarik nur zum Spaß, hatte aber keine Ahnung, dass es eine Tatsache war.

      Highway to Hell

      (AC/DC, 1979)

      Clementine rannte, immer noch unwissend wie es jetzt weitergehen sollte, und mit einem ziemlich überfüllten Koffer in der Hand die Marmortreppe hinunter in die Eingangshalle, und erwartete dort wieder den Anblick ihres toten Freundes. Doch zu ihrem großen Erstaunen war er (oder das, was sie von ihm übrig gelassen hatte) weg.

      „Mum, was… wo… wo hast du ihn hin?", fragte sie mit piepsiger Stimme und drückte an ihrem Handgelenk herum, bis jegliche Farbe aus diesem wich, und ihre sowieso schon sehr blasse Haut weiß wurde. Ihre Mutter nickte ihr nur ernst zu und sagte:

      „Lass das mal meine Sorge sein, Schatz."

      Clementine senkte stumm den Kopf und alles begann sich zu drehen. Sie glaubte, Stimmen zu hören, die ihr sagten: „Du bist nicht schuld, es war ein Unfall.", aber auch: „Du bist ein furchtbares Wesen, keiner braucht dich. Scher dich sonst wo hin!"

      Angestrengt umklammerte das Mädchen den Griff ihres Koffers noch fester und atmete schnell, als sie zur Tür hinauslief. Ihre Mutter kam ein paar Augenblicke nach ihr aus dem Haus, aber blieb dann in der Eingangstür stehen. Sie sah auf Clementine herab wie ein König, der seinem Diener sagte, dass er sterben muss. Genauso kam es ihr vor.

      „Und was jetzt?", fragte Clementine nervös und zupfte an ihrem Armband, das sie einmal von Kai bekommen hatte. Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen und sie wischte sie mit dem Handrücken weg, bevor sie jemand sehen konnte.

      „Clem, ich kann leider nicht mit dir kommen. Jetzt beginnt für dich ein neues Leben. Du musst lernen, allein zurechtzukommen und du kannst das schaffen, das weiß ich sicher. Gleich wird vor unserem Haus ein schwarzer Jeep halten. Steige einfach ein. Der Fahrer ist ein Mann, er wird dich lehren und du bist dort, wo du jetzt hin gehst, auch nicht allein. Habe Vertrauen in dich, denn du bist stärker, als du glaubst. Ich hab dich lieb, Clem, viel Glück!", verabschiedete sich Mrs. Campbell von ihrer Tochter und machte ein paar Schritte zurück in die Villa.

      „Aber Mum, ich verstehe nicht…" Ein Hupen unterbrach Clementine und sie drehte sich um. In genau diesem Moment fiel hinter ihr die Tür ins Schloss und ihre Mutter war weg. Vielleicht für immer. Wiederholt ertönte ein nicht gerade leises Hupen und Clem reckte ihren Hals, um besser sehen zu können. Ihre Mutter hatte Recht gehabt. Ein dunkler, schwarzer Jeep parkte vor dem großen, luxuriösen Anwesen und schien nur darauf zu warten, dass Clementine einstieg. Wie ein schwarzer Panther auf der Lauer. Zögerlich schritt das 16-jährige Mädchen auf den Wagen zu und öffnete vorsichtig die Hintertür. Ein wahrscheinlich letztes Mal warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Viele Erinnerungen kamen in ihr hoch. Wie ihr Stiefvater ihr beibrachte, Fahrrad zu fahren, wie sie mit ihren Eltern hier eine große Party an ihrem 10. Geburtstag gefeiert hatte, wie sie mit ihrer Mutter einen Ausflug hinter die Kulissen Hollywoods gemacht hatte, und als sie mit ihren Eltern nach Miami geflogen war. Nun würde nichts mehr so sein wie vorher.

      „Ich habe nicht ewig Zeit, junge Dame!", ertönte eine ernste Stimme aus dem Jeep, wodurch Clementine sich wieder fasste und mit einem tiefen Atemzug einstieg.

      Das


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