Colombia Es Pasión!. Matt Rendell
Es war eine erstaunliche Erfolgsgeschichte für einen Kleinbauern, sie gehörte aber in ihre Zeit: Nach der Öffnung der nationalen Wirtschaft wäre sie undenkbar gewesen. Sigifredo und seine Männer bauten Mais, Bohnen, Kartoffeln, Karotten und Kohl an, aber der Großteil der Einnahmen stammte aus Weizen und Gerste, die sie an eine Mälzerei in Ipiales nahe der Grenze zu Ecuador verkauften. Im Jahr 2000 jedoch schloss die Mälzerei – eine Katastrophe, auch für erfolgreiche Familien wie die Atapumas. Bereits 2006 stammten 75 Prozent des in Kolumbien kommerziell gehandelten Mais, 95 Prozent des Weizens und 100 Prozent der Gerste aus Importen.
In den 1980er Jahren begann der älteste Spross von Sigifredo und María, der 1966 geborene Alirio, Radrennen im Radio zu verfolgen. Während der Vuelta a España und der Tour de France lief ab zwei Uhr morgens das Radio und bevor die Etappe vorbei war, ließ sich Alirio nicht bei der Arbeit blicken. Auch der vier Jahre jüngere Remigio war bald infiziert.
Remigio erzählte mir: »Mein Vater ärgerte sich immer über uns. ›Radio hören, wozu soll das gut sein?‹ Aber wenn wir ihm sagten: ›Lucho Herrera hat heute gewonnen‹ oder ›Fabio Parra hat heute gewonnen‹, strahlte er übers ganze Gesicht.«
Drei Kilometer vom Haus der Atapumas entfernt, entlang der Hauptstraße nach Túquerres, gibt es einen schweren Anstieg. Damals bestand er aus nichts als Geröll und Sand. Alirio setzte sich auf sein Rad, forderte die anderen jungen Männer heraus, die für seinen Vater arbeiteten, und hängte sie in Lucho-Herrera-Manier auf dem Weg zum Gipfel ab. So lief es, bis Remigio seine Ersparnisse nahm, etwas Geld von seinem Vater dazulegte und ein Rennrad der Marke Standard mit Stahlrahmen und Gangschaltung kaufte. Von da an war er der beste Radfahrer der Familie.
Mit 12 oder 13 lernte Remigio eine Gruppe Radfahrer kennen, die ihn einluden, dem Radsportverein aus Túquerres beizutreten. Innerhalb eines Monats bestritt er Rennen auf nationaler Ebene. Er gewann mehrere Rennen im Juniorenbereich und schaffte es bei der Vuelta de la Juventud unter die ersten 30, bevor er mangels Unterstützung seine Karriere beendete, allerdings nicht, bevor er im Fahrrad ein Mittel zur Flucht erkannt hatte. Mit 19 verkaufte Remigio seine Pferde und heuerte ein Team Leiharbeiter an, um eine Ernte anzubauen, einzufahren und zu verkaufen, die sich als überaus reich erwies. Die Einnahmen erlaubten ihm, die Familienvereda zu verlassen, ein Radgeschäft zu eröffnen und seinen Schatz Aida zu heiraten.
Dann machte er sich daran, aus seinem jüngsten Bruder einen Radprofi zu machen.
Die Fensterfront blickt hinauf auf einen weiteren Vulkan. Pasto, die Hauptstadt der Provinz Nariño, liegt unterhalb des Galeras, dessen tagtägliche Bedrohung als Kolumbiens aktivster Vulkan das Leben der halben Million Einwohner der Stadt überschattet.
Darwin Atapuma verliebte sich als Achtjähriger in den Radsport, sagt er, als er Remigio bei einem seiner Rennen zusah: »Ich träumte davon, ihm nachzueifern und zu weit entfernten Orten wie Bogotá zu reisen, die ich nie gesehen hatte. Remigio gab mir mein erstes Rad, als ich acht oder neun war. Ich fuhr die ganze Zeit darauf herum, selbst nach Einbruch der Dunkelheit. Mein Vater wurde manchmal ärgerlich, denn ich war um zehn Uhr abends noch unterwegs.«
Als ein Bauernsohn, der sein Rad und das Land liebte, fand er das Leben in der Stadt, selbst in einer grünen Gemeinde mit 17.000 Einwohnern wie Túquerres, unerträglich. Darwins Bruder Alex erinnert sich: »Als er elf oder zwölf war, wurde er nach Túquerres geschickt, um die Mittelschule zu besuchen. Remigio bezahlte sogar die Schulgebühren, aber Darwin weigerte sich zu gehen.«
Remigios Frau Aida versuchte ihn zu überreden, zur Schule zu gehen, aber Darwin, der seine Mutter schrecklich vermisste, lief davon, zuerst nach Vereda Chambú und dann nach Vereda Guaisés, wo er sich bei seiner Großmutter mütterlicherseits verkroch.
Etwa zu dieser Zeit ging Darwins Vater eines Tages auf den Markt im nahe gelegenen Dorf Piedrancha und kam mit einem kleinen Papagei wieder heim. Don Sigifredo versuchte, das Tier zu domestizieren und ihm das Sprechen beizubringen, aber, unfähig sich an das Leben im Haus zu gewöhnen, ging der Papagei ein. Alex erinnert sich mit einem zärtlichen Lächeln: »Darwin sagte, er fühle sich so traurig in Túquerres, dass er Angst habe, so zu enden wie der Papagei. Er hasste die Schule und verlor ein ganzes Schuljahr.«
Die Familie entschied, dass es das Beste wäre, ihn in Chambú wohnen zu lassen. Darwin verbrachte ein weiteres Jahr dort und kam nur in die Stadt, um an den Rennen für Kinder teilzunehmen, die Remigio organisierte. Für seinen Bruder Alex war Darwins Verstocktheit normal: »Auf dem Land bist du ab einem Alter von zehn oder elf für dich selbst verantwortlich. Darwin schnallte sich einfach eine Tasche auf den Rücken und fuhr in die Stadt, um ein Rennen zu bestreiten, oder er sagte: ›Ich fahre raus, um meine Mutter zu besuchen. Nicht nötig, dass mich einer begleitet‹, und wir hörten nichts mehr von ihm.«
In Vereda Chambú verbrachten Darwin und seine Brüder viele Stunden mit ihrer Schwester Carmen und deren Sohn Jesús, der sie gern mit ausführlichen Zusammenfassungen der Neuigkeiten der Woche unterhielt. Jesús war Darwins Neffe, aber nur neun Monate jünger als er.
»Sie waren eher wie Brüder«, erinnert sich Alex. »Darwin stellte Dinge aus Holz her: Hocker, Stühle, Spielzeugautos. Jesús half ihm. Einmal stahlen sie Bettlatten, um etwas daraus zu bauen. Sie flogen auf, als jemand durch die Lücke fiel. Sie wussten, dass sie Ärger kriegen würden, aber sie wussten auch, dass man ihnen verzeihen würde.«
Als Darwin nach Túquerres gezogen war, fuhren Jesús und seine Freunde regelmäßig auf ihren Rädern in die Stadt, um ihn zu besuchen. An einem Freitag wurden sie von der Dämmerung überrascht. Alex, der mit seinem Motorrad unterwegs war, sagte zu ihnen: »Fahrt voraus und ich leuchte euch von hinten den Weg.«
»Als wir die Abfahrt erreichten, sprinteten sie voraus. Ein Auto kam ihnen auf der falschen Straßenseite entgegen. Es hatte nur einen Scheinwerfer, deswegen dachten sie, es wäre ein Motorrad. Meinen Neffen [Jesús] hatte es am schlimmsten erwischt. Ich legte meine Hand vorsichtig auf seine Schulter. Das Gefühl hat mich nie mehr losgelassen. Es fühlte sich an wie eine Tasche voller Scherben.«
Darwin erzählte mir: »Er lag drei Tage auf der Intensivstation, wachte aber nicht mehr auf. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen verlor, der mir nahestand. Die Vereda war ohne ihn nicht mehr dieselbe. Unsere Besuche wurden immer seltener. Remigio wurde wie ein Vater für mich und Aida wie eine Mutter. Ihre Kinder, Jennifer, Johana und Duván, waren wie Brüder und Schwestern.«
Darwin willigte ein, zur Abendschule zu gehen, die an sich nicht für Zwölfjährige gedacht war, sondern für Arbeiter, die als Kinder nicht die Möglichkeit gehabt hatten, zur Schule zu gehen, und nun ihren Abschluss nachholen wollten: »Ich stand um halb sieben auf, um zu trainieren. Gegen Mittag kam ich nach Hause, aß etwas, dann begab ich mich in das Radgeschäft meines Bruders, um ihm zu helfen bis um fünf. Abends dann lernte ich von sechs bis viertel nach zehn.«
Alex sagt: »Endlich gewöhnte er sich an das Leben im Dorf.«
Darwins Leidenschaft für das Radfahren steckte schließlich auch Alex an. Ebenso wie Darwin von Remigio betreut, wurde er 1999 Siebter bei der Vuelta del Futuro in Fusagasugá, dem Heimatort von Lucho Herrera, und 2000 Dritter bei der Vuelta del Futuro in Yarumal in Antioquia, bei der Robinson Chalapud, einer seiner Teamkameraden aus der Mannschaft von Nariño, den Sieg davontrug.
Bei allem Potenzial war die Provinz Nariño nicht Boyacá. Es gab keine kleinen Unternehmen, die junge Radsportler unterstützten. Was für Nariño sprach, war die Nähe zu Ecuador. Wie Alex erklärt: »Ecuadors Radsportszene spielt sich weitgehend nahe der Grenze, nördlich von Quito, ab. Für uns ist es leichter, ins Nachbarland zu gelangen als ins Landesinnere von Kolumbien, daher fuhren wir Rennen in Ecuador und sie wiederum kamen herüber, um in Nariño zu fahren.«
Bis 2004 war die Vuelta al Ecuador offen für Elite-Fahrer, U23-Fahrer und Junioren. Die Junioren warteten an ihrem eigenen Startpunkt auf das Peloton, schlossen sich ihm an und fuhren dann mit um Bergpunkte, Zwischensprints und Etappensiege.
»Das widersprach internationalen Regularien«, fährt Alex fort, »deswegen beschwerten sich die älteren