Colombia Es Pasión!. Matt Rendell
Stadt saugt die Träume aus dir heraus«, sagte Jairo Chaves zu mir. Doch er gab den seinen nie auf. Er führte seine beide Söhne an den Radsport heran, wo immer sich die Gelegenheit bot, ob es Fernsehübertragungen von Olympischen und Panamerikanischen Spielen waren oder Veranstaltungen im Park El Salitre im Herzen von Bogotá, dem Mittelpunkt ihrer Aktivitäten in der Kindheit. Jeden Sonntag gab es dort Cyclocross-Rennen: Esteban bestritt sein erstes, als er sechs war. Er machte noch fünf- oder sechsmal mit, bis er eines Tages auf die Nase fiel.
»Statt mir aufzuhelfen, sagte mein Vater: ›Steh auf, du schaffst das. Sei tapfer.‹ Ich sagte: ›Wenn du einen Champion in der Familie haben willst, steig doch selbst aufs Rad.‹ Und ich ging nie wieder hin.«
Ein paar hundert Meter entfernt von der Cyclocross-Strecke lag das Schwimmbad des Roten Kreuzes, wo Esteban das Schwimmen lernte. Zur gleichen Zeit begann er, sich in der Leichtathletik zu versuchen. Als er zwölf war, nahm sein Vater ihn mit zu einem Triathlon am Tominé-Stausee nördlich von Bogotá. Inzwischen fuhr Esteban auch jeden Samstag zur Radrennbahn Primero de Mayo, wo er seine ersten ernsthaften Trainingseinheiten absolvierte.
Zu dieser hatte Jairo noch selbst Ambitionen, sich als Radsportler unter den besten Senioren des Landes zu etablieren. »Ich wurde nicht besser, also suchte ich mir einen Trainer, der mir riet, mir eine Pulsuhr zu kaufen. Meine Resultate wurden sofort besser. Als aber dann Esteban anfing, sagte ich: ›Lass es uns von Anfang an richtig machen‹, und ich überließ ihm meine Pulsuhr, meine Radschuhe – alles, was er brauchte.«
Damals unterhielt Cundinamarca, die Provinz rings um die Hauptstadt Bogotá, ein großes Radsportprojekt, dessen Architekt der ehemalige Rennfahrer Oliverio Cárdenas war, fünffacher Sieger der Punktewertung der Vuelta a Colombia in den 1980er Jahren.
Cárdenas erzählte mir: »Von den 166 Bezirken in der Provinz verfügten 60 über Radsportschulen. Lucho Herrera stand dem Projekt vor, Condorito [der ehemalige Radprofi Edgar Corredor, Fünfter der Vuelta a España 1984] war der Mountainbike-Trainer und ich war für die Straße zuständig.«
Das Bezirksinstitut für Freizeit und Sport (IDRD) in Bogotá hatte derweil eine Schule mit dem Titel »Zentrum für Spitzensport« eröffnet, mit einem kubanischen Trainer namens Jorge Pérez. Cárdenas bat Pérez, mit Esteban zu arbeiten.
2004 aber beendete der neue Gouverneur Pablo Ardila Sierra das Projekt und das IDRD löste den Vertrag mit Pérez auf.
Jairo Chaves fragte sich: »Was soll ich jetzt machen?«
Dann trat Luís Fernando Saldarriaga auf den Plan.
Jairo sinniert: »Ich sage immer, dass das Leben einem Pfad folgt und das Schicksal dir alles verschafft, was du brauchst… Wir mussten 50.000 Pesos im Monat zahlen [knapp 14 Euro] und es gab Zeiten, in denen ich schlichtweg nicht das Geld hatte, aber Saldarriaga machte daraus nie ein Problem. Mein Sohn wurde besser, aber Saldarriaga war ehrlich zu uns. Er sagte: ›Erwartet in den ersten zwei Jahren keine Resultate. Wir müssen ihn langsam aufbauen.‹«
Doch die ersten Resultate stellten sich früher ein als erwartet. Saldarriaga nominierte Esteban für die kolumbianischen Zeitfahrmeisterschaften 2006 in Popayán und für das Punktefahren bei den Landesmeisterschaften auf der Bahn in Duitama. Sein Schützling kehrte mit zwei Silbermedaillen zurück. Saldarriaga wollte, dass Esteban im Jahr 2007 die Vuelta del Porvenir der 17- und 18-Jährigen bestritt, aber erst einmal musste er eine Mannschaft finden.
Mitte 2007 stellte Bike House, eine Kette von Fahrrad- und Triathlongeschäften, eine neue Mannschaft vor, Bike House-Trek. Der Teamchef war ein alter Freund von Saldarriagas Vater: Gonzalo Agudelo, aufgrund seiner unablässigen Redseligkeit auch »Parlante« genannt, »der Lautsprecher«.
Um seine zukünftigen Fahrer zu bestimmen, hielt Agudelo einen dreitägigen Wettkampf rund um Medellín ab, bestehend aus einem Bergrennen, einem Zeitfahren und einem Rundstreckenrennen. Los ging es am 31. August 2007.
An jenem Morgen stand Esteban im strömenden Regen am Start einer 18 Kilometer langen Strecke mit Ziel auf dem Alto de Chuscal, 14 Kilometer oberhalb des Dorfes San Antonio de Prado unweit von Medellín. Saldarriaga folgte ihm im Teamwagen von Colombia Es Pasión, an dessen Steuer einer der Masseure des Teams saß, Nicolás Restrepo, der in San Antonio de Prado wohnte und die Straße wie seine Westentasche kannte. Er sagte zu Esteban: »Ich hupe, wenn du attackieren musst.«
Mit Restrepos Hilfe wurde Esteban Zweiter am Berg, Dritter im Zeitfahren und Fünfter im Rundstreckenrennen. Er sicherte sich den Gesamtsieg, einen Rahmen von Trek und einen Platz in Parlantes Mannschaft.
Jairo sagte zu Agudelo: »Aber wir möchten, dass ihn weiterhin Luís Fernando Saldarriaga trainiert.«
Esteban reiste zu Trainingslagern und Rennen nach Medellín, wo er bei Saldarriagas Eltern Fernando und Amparo wohnte. Er wurde 20. bei der Vuelta del Porvenir 2007, die sein zukünftiger Teamkollege Darwin Pantoja gewann.
2008, in seinem zweiten Jahr bei Bike House-Trek, war Esteban dann bereits Kapitän der Mannschaft. Saldarriaga, der für die folgende Saison eine starke U23-Truppe aufbaute, sagte zu ihm: »Wenn du bei der Vuelta del Porvenir unter die ersten fünf kommst, bist du bei Colombia Es Pasión dabei.« Esteban wurde Sechster, was hieß, dass sein Platz bei Colombia Es Pasión von Faktoren abhing, die er nicht in der Hand hatte.
5
Gegen den Strich
Unter den aufmerksamen Blicken von Jenaro Leguízamo hatte Nairo Quintana in beeindruckender Manier den Clásico Club Deportivo Boyacá 2008 gewonnen. Ein paar Tage später schilderte Leguízamo der Teamleitung von Colombia Es Pasión den Sieg in schwärmerischen Worten.
Als er sagte: »Er lebt auf dem Alto de Sote in 3.100 Metern Höhe«, meinten die Teamärzte sofort: »Bring ihn her!«
Nach dem Test runzelten die Teamärzte die Stirn. Jenaro erinnert sich: »Die maximale Sauerstoffaufnahme schien übermäßig hoch, daher wandten sie sich an mich: ›Warum machst du nicht einen Feldtest und schaust, was du herausfindest?‹«
Jenaro schilderte, was geschah, als er und Nairo sich ein paar Tage später in Paipa, zwischen Tunja und Sogamoso, trafen.
Nur neun Kilometer des Anstiegs hinauf nach Palermo waren asphaltiert. Wir hatten Referenzzeiten von Sergio Luís Henao, Atapuma, Pantano und Fabio Duarte, aber Nairo hatte ein Rad, das gut und gerne 12 oder 13 Kilo wog. Die ersten drei Kilometer waren richtig schwer, mit Steigungen um die 15 Prozent. Auf halber Strecke nach oben hielt Nairo an. »Trainer, ich habe es vermasselt. Ich bin zu schnell angegangen und erledigt. Lassen Sie es mich morgen noch einmal versuchen.«
Am nächsten Tag saß er ruhig, aufrecht, ohne Regung des Kopfes auf dem Rad, mit dieser Miene, die nichts preisgibt. Die Zeit war sehr gut. Die Leistungsdaten waren sehr gut. Ich rief Ignacio Vélez an und sagte: »Trainer, er ist derjenige welche.«
Ignacio sagte: »Okay. Ich rufe Luísa an und richte ihr aus, ihn unter Vertrag zu nehmen. Sag dem Jungen, dass er ein Team hat.«
Einige Tage darauf reiste Nairo nach Antioquia zur Vuelta del Porvenir 2008. Sein ärgster Rivale war Darwin Pantoja. Während sie sich gegenseitig in Schach hielten, rissen zwei andere Fahrer aus und fuhren einen uneinholbaren Vorsprung heraus. Nairo gewann das Zeitfahren und wurde am Ende Dritter in der Gesamtwertung.
Anfang November rief Jenaro bei ihm an.
»Bist du bereit, den Vertrag zu unterschreiben?«
»Nein, Trainer, es tut mir wirklich leid.«
Am 24. Februar 2009 veröffentlichte die kolumbianische Tageszeitung El Tiempo unter der Schlagzeile »Mein Name wurde nie mit der Operación Puerto in Verbindung gebracht« eine Stellungnahme des bekannten ehemaligen spanischen Radprofis Vicente Belda. »Ich hatte nichts damit zu tun«, gab er zu Protokoll. »Ich weiß nicht, woher die Gerüchte kommen.«
Während seiner aktiven Karriere war Belda ein versierter Kletterer gewesen, der Etappen bei der Vuelta und dem Giro d’Italia