All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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für deinen Magen«, fügte Gitte hinzu.

      Wieder legten sich Janes Hände schützend um das warme Teeglas. Sie ließ ihren Blick über die grüne Dünenlandschaft wandern, an die das Sommerhaus ihrer Tante auf der rückwärtigen und an der Westseite grenzte. Man hatte das Haus seinerzeit als eines der ersten in Lakolk errichtet, in unmittelbarer Nähe zu den sanft ansteigenden und abfallenden, mit Heidesträuchern und Strandhafer bewachsenen Hügeln, die eine natürliche Grenze zum Meer bildeten. Es war ein rot angestrichenes Holzhaus mit weißem Giebel und dunklen Dachschindeln. Die aus Holz gezimmerte Veranda verlief ringsherum und schrie, ebenso wie die Fensterläden, nach einem frischen Anstrich. Eins von den drei Schlafzimmern hatten sie vor wenigen Tagen für Selma und Mascha hergerichtet. Zwei Betten standen darin, an jeder Längsseite eines, mit Patchworkdecken und vielen Kissen. Gitte hatte sie bezogen, anschließend den Holzboden gewienert und den Flickenteppich ausgeschüttelt, während Jane Kerzen und Karamellkonfekt gebracht hatte. Ihre Schwestern sollten sich wohlfühlen.

      »Wenn sie hier sind, wird es wie früher sein«, sagte sie, ohne den Blick abzuwenden. Es klang unbeirrbar, ließ nicht den geringsten Zweifel zu. In Erwägung zu ziehen, ihre Schwestern könnten ihre Einladung ignorieren, verbot Jane sich. Der Vorstellung, schon bald gemeinsam mit ihnen am Muscheltisch zu sitzen, wohnte eine Kraft inne, die stärker war als die Bedenken. Stärker als die Lieblosigkeiten, die sie entzweit hatten. Stärker als die Angst, sie könnten ihre kleine Schwester vergessen haben.

      »Wir brauchen zwei weitere Stühle hier auf der Veranda«, sagte sie an ihre Tante gewandt.

      Gitte nickte. »Ich weiß. Ich habe dir versprochen, mich darum zu kümmern.«

      Jane stellte das Teeglas ab und schraubte die Kappe von ihrem Füllfederhalter. Dann zog sie den Block, auf dem sie den Text vorgeschrieben hatte, näher zu sich heran und begann den Brief an Mascha, die mittlere der drei Schwestern.

      2

      Mascha

      Sie warf sich ihren abgewetzten Lederrucksack über die Schulter. Mit der linken Hand griff sie nach der in Papier eingeschlagenen Pflanzschale und schloss mit der rechten die Ladentür ab. Mascha war die Letzte, wie meistens, und wie so oft durchfuhr sie beim Abschließen der Tür ein mit Wehmut getränkter Wunsch. Könnte es doch ihre eigene Ladentür sein, die sie morgens auf- und abends zusperrte! Der Traum von einem kleinen Blumenladen gedieh beharrlich seit vielen Jahren, und Mascha war eine Meisterin darin, ihm imaginär das Überleben zu sichern. Sie schmückte ihn gedanklich aus mit einem Rausch aus Farben, mit blühenden Hyazinthen und Ranunkeln, mit Freesien, Hortensien, Phlox und mit Eimern voller Freilandrosen in rosa, orange, gelb, dunkelrot, pink und weiß, kunterbunte Sträuße oder Ton in Ton. Und sie nährte ihren Traum mit der unbändigen Sehnsucht nach einem Lebensgefühl, das nur eine Ahnung war. Sie träumte weiter, auch wenn die Aussicht auf Erfüllung aufgrund fehlender finanzieller Möglichkeiten gleich Null war. Ein paar Mal hatte sie den Versuch unternommen, Oliver für ihre Idee zu begeistern, es lag lange zurück, und er hatte ihr stets deutlich zu verstehen gegeben, was er von diesem irrsinnigen Floh in ihrem Ohr hielt. Irgendwann hatte sie aufgehört, mit ihm darüber zu sprechen.

      Eilig überquerte sie den Parkplatz, der wie leer gefegt war um diese Zeit. Sie warf einen raschen Blick hinauf zum Himmel, der verhangen von schweren Wolken Regen verhieß. Mascha hoffte, dass der Guss sie verschonen würde. Sie entriegelte das Fahrradschloss. Die Pflanzschale deponierte sie zusammen mit ihrem Rucksack im Korb vor dem Lenker. Kurz darauf verließ sie den Parkplatz der Gärtnerei und folgte der Ortsdurchfahrt, die sich in weiten Kehren aus dem Dorf heraus schlängelte. Jeden Morgen fuhr sie sechs Kilometer von Fürstenried bis zur Gärtnerei im Nachbardorf und am Nachmittag wieder zurück. Seit fast zehn Jahren bei jedem Wetter. Der Fahrtwind kühlte ihr Gesicht, während sie zügig durch die baumbestandene Allee in Richtung Waldfriedhof radelte. Sie ärgerte sich, dass sie den Laden wieder nicht hatte rechtzeitig verlassen können. Jeden Donnerstag hoffte sie auf einen pünktlichen Feierabend, um ohne Schweißränder unter den Armen und ohne von der Hetze gerötete Wangen im Zeichenkurs zu erscheinen. Sie ahnte, dass es ihr auch dieses Mal nicht gelingen würde, was aber nicht allein an der halben Überstunde lag.

      Sie folgte der Lindenallee, die sich etwa einen halben Kilometer geradeaus erstreckte und an deren Ende der Waldfriedhof grenzte. Kein Fahrzeug kam Mascha entgegen, kein Fußgänger, kein Radfahrer. Kräftig trat sie in die Pedale, um keine Sekunde zu vergeuden. Zum ersten Mal seit dem Tag vor neunzehn Jahren, an dem sich die jährlichen Friedhofsbesuche zu ritualisieren begannen, stellte Mascha sich kurz die Frage nach dem Sinn. Oder vielmehr nach der Priorität. Setzte sie sich nicht selbst unter unnötigen Druck, indem sie Jahr für Jahr an dieser Gewohnheit festhielt? War ihr der Zeichenkurs nicht wichtiger als dieser Besuch auf dem Friedhof, den sie ebenso gut einen Tag später noch erledigen könnte? Sie schob die auftauchenden Zweifel beiseite und brachte ihr Fahrrad vor der Friedhofsmauer zum Stehen. Sie verriegelte das Schloss und griff nach Rucksack und Pflanzschale.

      Stille umfing sie, als sie durch das aus Eisen geschmiedete Tor trat. Was für ein wohltuender Kontrast zu dem Betrieb, der tagsüber im Laden geherrscht hatte! Obwohl der Arbeitstag inzwischen hinter ihr lag, meinte Mascha, den Klang der Glocke über der Tür, die mit ihrem nervenden Gebimmel jeden Eintretenden und Hinausgehenden begleitete, noch immer hören zu können. Das Pfingstwochenende stand bevor, und Mascha hatte Sträuße im Akkord gebunden, was man ihnen jedoch nicht angesehen hatte. Sie liebte es. Sie war gut darin. Zuweilen verlangten die Kunden explizit nach ihr, wenn sie den Laden betraten. Dann stahl sich jedes Mal ein stilles Lächeln auf ihre Lippen, und sie wünschte sich, Dreisam, ihr Chef, der vor lauter Aufgeblasenheit jeden Tag kurz vor dem Platzen stehen musste und dem niemals ein anerkennendes Wort über die Lippen kommen wollte, möge zugegen sein und registrieren, dass die Kunden es bevorzugten, von ihr bedient zu werden.

      Der Kies knirschte unter den Bastsohlen ihrer Schuhe, während sie die Grabreihen durchschritt, wie sie es zahllose Male zuvor getan hatte. Sie hätte den Weg mit verbundenen Augen gefunden. Die Stille über den Gräbern wurde nur vom Gesang der Vögel in den alten Bäumen unterbrochen.

      In einiger Entfernung bemerkte Mascha eine ältere Dame, die mit einem Lappen über einen Marmorgrabstein rieb, und ein paar Schritte weiter zwei junge Männer mit gesenkten Köpfen vor einem Grabhügel.

      Sie ging weiter bis zu einer Linde, die schutzspendend ihre Äste über einem Dutzend Gräber ausbreitete. Wie oft hatte Mascha sich gewünscht, in einem davon könnten die sterblichen Überreste ihres Vaters ruhen! Manchmal stand sie vor einem der Grabsteine und stellte sich vor, der Name ihres Vaters sei dort hinein gemeißelt.

      Emil Molander. Apotheker. Geboren 1923. Gestorben 1995.

      Eine Wunschvorstellung. Emil Molanders Grab befand sich viele hundert Kilometer entfernt. Zu weit, um ihm an seinem Todestag Blumen zu bringen.

      Mascha verließ die Grabreihen. Nur wenige Schritte neben der Linde hatte die Stadt einen Gedenkstein errichten lassen, die Skulptur eines Engels, grau verwittert, so groß wie Mascha selbst. Die Falten seines Gewandes und die ausgebreiteten Flügel hatten im Lauf der Zeit Moos und Flechten angesetzt. Mit einem milden Lächeln im Antlitz blickte er von seinem Steinsockel auf Mascha herab. Ins Fundament hatte der Steinmetz einen Psalmvers eingearbeitet: Denn er hat seinen Engeln befohlen, dich zu beschützen, wohin du auch gehst. Und darunter in etwas kleineren Buchstaben: In stillem Gedenken an unsere lieben Verstorbenen auf den Friedhöfen dieser Welt.

      Maschas Blick glitt über die beiden ausgebrannten Grablichter zu Füßen des Engels, die verdorrten Margeriten daneben und die dunkelrote Rose, die offensichtlich erst kürzlich gebracht worden war.

      Mascha hockte sich nieder, die Blumen für ihren Vater im Schoß. Sie streifte das Papier ab. Mit den Fingerspitzen strich sie über die Vergissmeinnichtblüten, die darunter zum Vorschein kamen. Sie brachte ihm immer Vergissmeinnicht. Jahr für Jahr am vierundzwanzigsten Mai.

      Den Steinengel hatte man nur ein paar Monate nach dem Tod von Emil Molander an diesem Platz errichtet, und für Mascha, die nicht an Zufälle glaubte, aber unbeirrbar an Zeichen, war dies Grund genug, in jedem Jahr hierherzukommen. Auf unerklärbare Weise fiel es ihr leicht, sich an diesem Ort mit ihrem


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