All die ungelebten Leben. Michaela Abresch
bin erleichtert, dass die Briefe unterwegs sind.«
Jane sprach leise, aber die handbreit geöffnete Tür ermöglichte es Gitte, jedes Wort zu verstehen. Und das, obwohl sie sich bemühte, alles zu überhören. Sie wusste nicht, mit wem Jane telefonierte. Alle drei Tage etwa. Für eine Viertelstunde. Gitte fragte nicht danach, und Jane sprach nicht darüber.
Gitte hatte den Abwasch beendet, hängte das Küchenhandtuch an den Haken und setzte sich wie immer am Abend für ein paar Augenblicke auf das altgediente Sofa im Salon. Es war noch immer das erste, das sie für das Sommerhaus angeschafft hatte. Dunkelrote Polster, tiefe Sitzflächen, ausladende Lehnen. Früher hatten die Mädchen zu dritt Platz darauf gefunden und mit Kissen und Decken ein Nest gebaut, das groß genug war, um auch Gitte noch darin aufzunehmen. Der Stoff war inzwischen an einigen Stellen verschlissen und die Polster durchgesessen, aber es hatte nichts von seiner Bequemlichkeit eingebüßt. Gitte sah nicht ein, es zu ersetzen. Sie hatte stattdessen zwei bunte Decken gestrickt, die die schadhaften Stellen verbargen. Es stand an der zartrosa getünchten Wand gegenüber der zweiflügeligen Verandatür, die aus dem Salon nach draußen führte. Der Salon war nichts weiter als das Wohnzimmer des Sommerhauses. Der imponierende Begriff stammte von Mascha, die als Zehnjährige beschlossen hatte, das Haus einer Königin müsse einen Salon vorweisen. Hingebungsvoll hatte sie einen Nachmittag lang mit Zeichenblock und Filzstiften am Muscheltisch gesessen und ein entsprechendes Schild angefertigt, mit Ranken, Blüten und ineinander verschlungenen Ornamenten, das daraufhin jahrelang die Tür des Salons geziert hatte.
»Nein«, hörte sie Jane in diesem Augenblick sagen, »Tante Gitte hat sie für mich zum Briefkasten gebracht. Ich habe es nicht geschafft, bis zur Straße zu gehen, habe es versucht, mit vier Unterbrechungen, aber es war zu weit.«
Pause.
»Ja, ein Rollstuhl, ich weiß. Vielleicht hätte ich auf Tante Gittes Rat hören sollen. Aber, ganz ehrlich, wie hätte ich mich dazu durchringen können? Schließlich wäre sie diejenige gewesen, die mich darin hätte schieben müssen. Du weißt, dass ich ihr das nicht auch noch zumuten will. Außerdem ist das Sommerhaus mit den Treppen zur Haustür und zur Veranda nicht gerade rollstuhltauglich.«
Pause.
Gitte fühlte sich unbehaglich, weil sie jedes Wort des Telefonates ungebeten mithörte. Ob Jane die Tür bewusst nicht geschlossen hatte, wie sie es sonst tat?
»Natürlich, aber sie nimmt meinetwegen schon genug auf sich.«
Pause.
»Ja, ist ganz okay hier. Ich mag es, auf der Veranda zu sitzen, hinter dem Windschutz, den sie extra für mich hat anbringen lassen. ›Damit der Wind dich nicht mitnimmt‹, hat sie gesagt, und du kannst dir denken, dass sie damit auf mein Untergewicht angespielt hat. Ich hab ihr geantwortet, dass er mich ruhig mitnehmen soll.«
Ein leises Lachen, ein raues Husten. Pause. Gitte atmete tief ein, lenkte ihren Blick durch die Scheibe der Verandatür hinaus in die Weite der mit Strandrauke und Heidesträuchern bewachsenen Dünen, die sich an ihr Grundstück anschlossen und von der Nachmittagssonne beschienen wurden.
»Warum nicht? Manchmal wünsche ich mir das wirklich. Soll doch ein Windstoß kommen und mich von der Erde heben, über die Dünen tragen und weiter übers Meer! So wie die Kites, die heute wieder in allen Farben drüben am Strand in die Luft steigen. Oh, sie würden dir gefallen! Es sieht so hübsch aus, wie sie sich vom Himmel abheben, ab und zu kann ich welche von der Veranda aus sehen!«
Wem erzählte Jane all dies? Sie hatte nie eine Freundin erwähnt oder einen Mann, der in ihrem Leben eine Rolle spielte. Außer diesem … In Gedanken forschte Gitte nach dem Namen des jungen Krankenpflegers, mit dem Jane zusammen im Südsudan im Einsatz gewesen war. Sie erwähnte ihn so selten, dass sein Name Gitte nicht einfallen wollte.
»Nein, nicht mehr so weh wie noch vor ein paar Monaten«, hörte sie nun wieder Janes Stimme. »Aber zu lange darf ich darüber nicht nachdenken, sonst kommt die Angst und schnürt mir die Luft ab.«
Pause.
»An manchen Tagen mehr, an manchen weniger. Das Morphin hilft zuverlässig. Es ist gut, dass ich von der Veranda aus die dänische Flagge auf einem der Grundstücke in der Nähe sehen kann. Sie dient mir zum Abschätzen, ob ich einen Spaziergang in den Dünen wagen kann. Wenn der Wind stark ist, fällt mir das Gehen schwer, und ich muss Kraft aufbringen, die ich an manchen Tagen nicht habe. Ich spritze mir dann eine Zusatzdosis.«
Pause. Husten.
»Nein, subkutan. Ich habe genug Vorrat dabei.«
Gitte runzelte die Stirn. Mit wem auch immer Jane telefonierte, es musste jemand sein, der kein medizinischer Laie war. Was unter einer subkutanen Injektion zu verstehen war, hatte auch Gitte erst gelernt, nachdem Doktor Lindauer, der Arzt des Palliativ-Teams, Morphin gegen die Atemnotkrisen verordnet hatte. Jane spritzte sich das Serum ins Fettgewebe einer Bauchfalte. Auch Gitte war inzwischen darin geübt, Morphin zu verabreichen. Es war nichts dabei. Zu erkennen, dass die Spritzen Janes Schmerzen linderten oder eine plötzliche Atemnotattacke eindämmten, hatte Gitte dazu befähigt, über ihren Schatten zu springen und sich anzueignen, was sie nie für möglich gehalten hatte.
»Vorhin, ja. Fünf Milligramm. Ich hab meine Einstellung dazu etwas geändert. Bis vor wenigen Wochen hätte ich in so einem Fall lieber auf den Spaziergang verzichtet, aber ich habe gelernt, mir nichts mehr zu versagen und lieber auf meine Medikamente zurückzugreifen. Mir ist bewusst, dass jeder Spaziergang in den Dünen der letzte sein kann, deshalb unternehme ich ihn, wann immer ich dazu in der Lage bin.«
Pause. Lachen.
»Ja, du müsstest sie sehen! Sie sind wunderbar gewachsen! Gestern haben Tante Gitte und ich sie zum ersten Mal gewaschen, richtig gewaschen! Nicht nur die Kopfhaut, sondern meine neuen Haare, es war ein Fest! Ich habe anschließend zum ersten Mal keins meiner Tücher um den Kopf gebunden, sondern bin oben ohne gegangen, wie unglaublich es sich angefühlt hat! Sie sind noch ziemlich kurz, aber wenn sie weiter so wachsen, werde ich meine Schwestern nicht kahlköpfig begrüßen müssen, wie ich es angenommen hatte. Sie werden sich hoffentlich bei meinem Anblick nicht erschrecken. Weißt du, das …«
Ein Hustenanfall zwang Jane dazu, ihren Satz abzubrechen. Gitte dachte an das tragbare Inhaliergerät, das sie von zuhause mitgebracht hatten. Sie würde es ihrer Nichte bringen, sobald sie das Telefonat beendet hatte.
»Geht schon wieder, bleib bitte noch ein paar Minuten!«
Pause.
»Müde, ja, immer noch. Das gehört dazu, lieber müde sein, als um Luft ringen. Ich will jede Sekunde mit Selma und Mascha verbringen und hoffe, ich brauche nicht allzu viele Ruhepausen.«
Wieder dieser raue, erschöpfende Husten.
»Ja, sprechen kostet Kraft, aber du weißt, dass ich sie gern aufbringe, wenn ich dafür deine Stimme am Ohr haben darf. Manchmal wünsche ich mir, meine Kräfte im Vorhinein sammeln zu können, damit sie ausreichen, wenn ich mit meinen Schwestern zusammen am Muscheltisch sitzen werde.«
Pause.
»Natürlich, das weiß ich doch. Ein Brief von Dänemark nach Deutschland braucht bis zur Zustellung fast eine Woche.«
Pause.
»Jetzt haben wir wieder nur über mich gesprochen. Tut mir leid.«
Pause. Ihre Stimme wurde leiser.
»Ich dich auch. War sehr schön.«
Pause.
»Versprochen.«
Pause.
»Ich auch. Ganz fest.«
Jetzt senkte Jane die Stimme zu einem Flüstern. Es wurde still. Gitte wartete einen Augenblick. Dann erhob sie sich, durchquerte den Salon und ging bis zu Janes Zimmertür. Sie hielt inne, lauschte. Das Telefonat schien beendet zu sein.
»Jane?«
»Komm rein!«
Gitte steckte den Kopf durch den Türspalt. »Alles