All die ungelebten Leben. Michaela Abresch
Seine Bitte brachte er bei jedem Buch mit dem stets gleichen ernsten Gesichtsausdruck vor, was die Heiligkeit verdeutlichte, die er nicht nur seinen Büchern, sondern auch deren Ausleihe beimaß. Selma war zu jung, um zu verstehen, dass das Lesen der Lagerlöf-Bücher nicht ihrem eigenen Interesse, sondern einzig dem Wunsch geschuldet war, ein gehorsames Mädchen zu sein, um die Aussicht auf eine winzige Ration Vaterliebe zu verbessern. Doch ihr Lohn war karg. Nicht mehr als ein schmallippiges Lächeln hatte er für sie, wenn sie ein gelesenes Buch zu ihm in die Bibliothek zurückbrachte. Er nahm es entgegen, kontrollierte mit großer Sorgfalt seinen Zustand und nickte, wenn er keinen Schaden feststellte. Dieses Nicken hatte Selma zu genügen, und sie wünschte sich jedes Mal, es könne das gleiche Gefühl in ihr auslösen wie die väterliche Zuneigung, nach der sie sich sehnte. Im Übrigen hatte er an den Büchern, die er Selma lieh, niemals einen Schaden festgestellt, denn Selma hatte die Bücher ihres Vaters, auf deren Einbände er die Zärtlichkeit seiner Hände hinterlassen hatte, wie einen Schatz in der Schublade ihres Schreibtisches gehütet.
Sie schüttelte die Erinnerungen ab, warf einen letzten Blick auf die Pflanzschale und ging davon.
Vom Friedhof bis zur Wohnung waren es nur knappe zehn Minuten. Selma rauchte während der Fahrt und fuhr zügig, stellte den Wagen auf dem Parkplatz des Zweifamilienhauses ab und ging zur Haustür. Hoffentlich lief der verschrobene Herr Laus aus der Parterrewohnung ihr nicht über den Weg. Ihr stand heute nicht der Sinn nach den seltsamen Dingen, die er an manchen Tagen von sich gab.
Sie schloss zuerst die Haustür auf, dann ihren Briefkasten. Während sie mit dem Fuß die Tür aufdrückte, fischte sie zwei Briefe aus dem Kasten. Ohne ihnen Beachtung zu schenken, ließ sie sie in ihre Handtasche wandern. Selmas Wohnung befand sich im zweiten Stock. Wie üblich nahm sie die Treppe, weil sie sich gerne bewies, dass sie trotz des Rauchens zwei Etagen heraufsteigen konnte, ohne nach Luft zu ringen. Oben angekommen, schloss sie die Wohnungstür auf. Sie atmete nur unwesentlich schneller als sonst, wie sie mit Genugtuung feststellte. Schlüssel und Handtasche legte sie auf die Kommode neben der Tür. Gleichzeitig schlüpfte sie aus den Pumps. Im Wohnzimmer schaltete sie den Fernseher ein, ohne hinzuschauen, es genügte, dass jemand sprach, worüber, war nebensächlich. Sie ging in die Küche, brühte mit der Maschine einen Milchkaffee auf und nahm die Tasse mit ins Wohnzimmer. Dort zündete sie sich eine Zigarette an, sank in die Polster ihres Ledersofas und verfolgte mit einem Auge die Nachrichten im Fernseher. Vergessen waren die Briefe in ihrer Handtasche.
Erst später, als sie im Badezimmer vor dem Spiegel stand und ihre Zähne mit der elektrischen Zahnbürste bearbeitete, fielen sie ihr wieder ein. Sie sollte wenigstens einen Blick darauf werfen. Mit der brummenden Zahnbürste in der Wangentasche stieg sie die gewundene Treppe herunter, trat an die Kommode und angelte die Post aus ihrer Tasche. Auf dem Weg zurück ins Badezimmer betrachtete sie die beiden Briefumschläge. Ein weißes Kuvert und ein hellgelbes. Auf dem weißen erkannte Selma die Absenderangabe eines Juweliers, bei dem sie im vergangenen Jahr einen ausgefallenen Armreif für eine horrende Summe erstanden hatte, den sie nur selten trug. Seither erhielt sie regelmäßig aufwändig gestaltete Werbebriefe. Uninteressant. Sie legte ihn beiseite und wandte sich dem hellgelben Umschlag zu.
»Seltsam …« Zwei verschiedene Adressangaben waren darauf vermerkt, ihre alte Adresse und die neue. Der Schreiber der alten Adresse hatte eine auffallend symmetrische Handschrift, die Selma nicht zuordnen konnte. Jemand hatte sie jedoch mit einem schwarzen Filzstift durchgestrichen. Daneben war ihre jetzige Adresse notiert worden. Diese Handschrift kannte sie bestens, auch wenn sie sie kaum noch zu Gesicht bekam. Lutz war also so freundlich gewesen, diesen irrtümlich an ihre ehemals gemeinsame Adresse gerichteten Brief neu zu adressieren, damit er Selma zugestellt werden konnte. Sogar frankiert hatte er ihn. Während sie nach dem Handtuch griff, erkannte sie mit einem Stirnrunzeln neben einer deutschen auch eine dänische Briefmarke in der rechten oberen Ecke. Sie schaltete die Zahnbürste aus, legte sie auf den Waschbeckenrand und spülte sich den Mund aus. Auf der Suche nach einer Absenderangabe drehte sie den Brief um, fand aber keine. Mit ihrer Nagelfeile trennte sie das Kuvert auf. Der Briefbogen war zweimal gefaltet und mit derselben Schrift beschrieben wie die ursprüngliche Adresse auf dem Umschlag. Selma begann zu lesen.
Liebe Selma, liebe Mascha,
wusstet Ihr, dass es für das Erkennen des richtigen Zeitpunktes einen Begriff gibt?
Selma zwang sich zur Ruhe, um konzentriert zu Ende lesen zu können. Ihre Finger begannen zu zittern. In ihrem Inneren erhob sich ein Wirbelsturm.
»Niemals!«, murmelte sie während des Lesens. Der Sturm in ihrer Brust schwoll an.
5
Jane
Der Wind hatte nachgelassen und die Geister in den Dünengräsern zum Schweigen gebracht. Jane saß mit ihrem Notizbuch auf der aus Holz gezimmerten Bank nur ein paar Schritte vom Haus entfernt, dort, wo sich zwei Dünenpfade kreuzten. In kluger Voraussicht hatte sie ihr Kissen mitgenommen, eine Spezialanfertigung, mit dessen Hilfe es ihr gelang, etwa eine Viertelstunde ohne allzu große Schmerzen auch auf hartem Untergrund zu sitzen.
Sie klappte ihr Notizbuch auf und schrieb ihr aktuelles Körpergewicht hinein. Dreiundvierzig Kilo. Den Gang auf die Waage sollte sie sich ersparen. Es war illusorisch, ihr Ziel, die Fünfzig-Kilo-Marke, jemals wieder zu erreichen. In Klammern notierte sie hinzu: Bei einer Körpergröße von einem Meter achtundsechzig schreien dreiundvierzig Kilo definitiv nach Not-Ernährungsprogramm! Ihre Gedanken glitten zurück in die Zeit vor dem Krebs, hin zu den Menschen, die sie in diese Programme aufgenommen hatte. Die Kinder im Südsudan. Zweijährige, die kaum stillhalten wollten und nach ihren Müttern schrien in den Plastikwannen, in die Jane sie setzte und an die Waage hängte. Oft hatte sie Sorge, sie könnten bei all ihrem Zappeln mitsamt der Wanne vom Haken stürzen. Acht Kilo. Weiter schlug der Zeiger oft nicht aus. Offiziell wurden sie natürlich gezählt, aber für Jane waren die Zahlen unerheblich. Es waren zu viele. Zu viele mangelernährte Kinder, zu viele unterernährte Mütter, denen sie die Päckchen mit Fertignahrung in die Hände drückte, mit dem Wissen, dass sie sie ein paar Tage lang vor dem Verhungern rettete, und in der Hoffnung, dass das Schwarze Fieber sie verschonen würde.
Die Erinnerungen verließen Jane so unvermittelt, wie sie in ihr aufgestiegen waren. Sie beugte sich etwas nach vorn und schrieb ein paar Sätze zu ihrer Befindlichkeit.
Sie hatte ihr buntes Tuch straff um den Kopf gebunden und die Khaki-Kappe darüber gezogen. Das Haus oben ohne zu verlassen, war ein Wunsch geblieben. Sie hatte es so sehr gewollt, hatte es versucht, war aber nach ein paar Schritten zurück auf die Veranda und von dort ins Innere geflohen. So stolz sie auf ihre nachwachsenden Haare auch war – für Außenstehende mussten die weißen flaumigen Flusen befremdlicher wirken als eine Vollglatze, zumal sie hinter den Ohren dichter wuchsen als auf dem Rest des Kopfes und Jane sich daher die Ähnlichkeit mit einem gerupften Huhn nicht absprechen konnte. Sie ertrug es nur schwer, wenn Leute sie anstarrten, die bemitleidenden Blicke, das rasche Abwenden, als ekelten sie sich vor ihr. Auch die bunten, um den Kopf geschlungenen Tücher und die Khaki-Kappe konnten dies nicht gänzlich vermeiden, aber sie milderten wie ein kleiner Schutzwall das unangenehme Gefühl, das die Blicke der anderen in Jane auslösten.
Die Kappe schuf außerdem eine Verbindung zu Chris. Ungeachtet der sechstausend zwischen ihnen liegenden Kilometer fühlte sie sich ihm näher, wenn sie sie trug.
Jane hob den Kopf, ließ den Blick auf den sich sanft im Wind wiegenden Halmen des Strandhafers ruhen. Sie rief sich den Moment ins Gedächtnis, als Chris ihr seine Kappe geschenkt hatte. Am Tag, bevor sie unfreiwillig ihren Einsatz im Südsudan abbrechen musste. Seit sie um die Begrenzung ihrer verbleibenden Lebenszeit wusste, schätzte sie Erinnerungen umso mehr. In der letzten Zeit wuchs das Bedürfnis, sich an diese kleinen hellen Denkmäler ihres Lebens zu klammern, sodass sie sie aus Angst, sie irgendwann zusammen mit ihren geistigen Fähigkeiten verlieren zu können, in ihrem Buch notierte. Es war so etwas wie eine Versicherung. Die Gewähr, sie durch die Haltbarkeit, die die Worte ihnen verliehen, wieder und wieder lesen zu können und damit ihrem Verlust vorzubeugen. Die Angst vor dem Vergessen und dem Vergessenwerden haftete wie Sekundenkleber an Jane. Den Grund dafür hatte sie lange nicht gekannt. Erst in Gesprächen mit Chris, dem Einzigen, dem sie sich jemals anvertraut hatte,