All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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der Grund für diese Angst in ihrer Kindheit vergraben lag, in der Seele des zehnjährigen Mädchens, das die Familie verlassen musste, weil der Vater es so gewollt hatte.

      Ach, hätte sie doch nur früher mit dem Aufschreiben begonnen! Viel früher. Zu der Zeit, als sie noch gesund gewesen war.

      Sie hielt ihr Buch auf dem Schoß, während der Stift über die Seiten glitt.

      Was für ein Geschenk des Schicksals, dass Chris und ich damals nicht nur in der gleichen Maschine von Frankfurt nach Nairobi saßen, sondern unsere Plätze sich auch noch nebeneinander befanden.

      Ihm war der Fensterplatz zugeteilt worden, mir der mittlere. Als er an meiner Sitzreihe erschien, hatte ich meinen Platz gerade eingenommen und war dabei, mir die Kopfhörer meines Walkmans in die Ohren zu stecken. Leonard Cohen. Dance me to the end of love. Ich summte mit, daran erinnere ich mich genauso wie an den kurzen Blick, den Chris mir zuwarf – und an sein Grinsen.

      Später sagte er, dass dies der Moment gewesen sei, in dem er wusste, dass wir vom gleichen Stern stammen. Ich grinste zurück und summte weiter. Etwas leiser vielleicht. Ohne ein Wort, nur mit einer Handbewegung und angedeutetem Kopfnicken signalisierte er mir, dass er an mir vorbei zum Platz am Fenster müsse. Ich erhob mich, ohne Cohen aus den Ohren zu nehmen, und trat aus der Sitzreihe, um Chris vorbeizulassen. Rechts und links drängten sich Fluggäste, die ihre Gepäckstücke in die Fächer oberhalb der Sitzreihen stopften. Chris jedoch machte keine Anstalten, in die Reihe zu rutschen. Auch er hatte seine Tasche ins Gepäckfach gestemmt, kramte aber noch darin herum. Inzwischen erschien auch mein zweiter Sitznachbar, der gern seinen Platz am Gang eingenommen hätte und nun ebenfalls darauf warten musste, dass Chris das Sortieren im Gepäckfach beendete. Was er nach einer halben Ewigkeit endlich tat. Mir fiel die Blässe in seinem Gesicht auf und ein Schweißtropfen, der an seiner Schläfe herunterrann. Sein freches Grinsen war einer verkrampften Anspannung gewichen. Als alle ihre Plätze eingenommen hatten und die Beckengurte klickten, erkundigte ich mich, ob alles in Ordnung sei mit ihm. Er bemühte sich um eine Wiederholung des Grinsens, was ihm nur mäßig gelang.

      »Chris«, sagte er statt einer Antwort und reichte mir seine rechte Hand. Sie war eiskalt und schweißnass. »Wir werden die nächsten Stunden nebeneinandersitzen«, fügte er hinzu, »aber ich fürchte, ich werde nicht sehr gesprächig sein.« Er begann, in seiner Hosentasche zu kramen.

      »Mach dir nichts draus, ich bin auch keine Quasselbacke.« Ich fand mich damals unfassbar schlagfertig, obwohl ich mir von Herzen gewünscht hatte, mit ihm ins Gespräch kommen zu können. Männern mit Zopf und khakifarbener Kappe konnte ich zwar für gewöhnlich nichts abgewinnen, aber an seiner Art war etwas ausgesprochen Anziehendes, ohne dass ich es genau hätte benennen können. Heute weiß ich, dass es die Schutzbedürftigkeit war, die er mir ungewollt signalisiert und mit der er mein Herz berührt hatte. Während die Maschine auf ihre Startposition rollte, bemerkte ich, dass Chris gefunden hatte, wonach er in der Hosentasche gesucht hatte. Eine Tablette. Er spülte sie mit einem Schluck Mineralwasser aus einer PET-Flasche herunter. Ich brachte die Tablette sofort in Verbindung mit den Schweißtropfen auf seiner Schläfe und vermutete, dass er krank war. Nachdem er die Plastikflasche in seinen Rucksack und diesen zwischen seine Füße geschoben hatte, lehnte er sich zurück, zog sich den Schirm seiner Kappe über die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. Noch bevor die Maschine ihre endgültige Flughöhe erreicht hatte, neigte sich sein Oberkörper leicht nach links, in meine Richtung. Sein Kopf ruhte jetzt fast auf meiner rechten Schulter, und die Kappe verrutschte etwas. Er schlief leise, beinahe während der gesamten Flugzeit. Irgendwann nickte auch ich ein, und als ich aufwachte, schlief er immer noch. Ich registrierte, dass unsere Schultern und Köpfe sich berührten. Aber ich veränderte nichts. Die Berührung hatte nichts Fremdes oder Unangenehmes, obwohl wir uns nicht kannten. Sie gefiel mir. Sehr. Eine Tatsache, die mich irritierte. Die verrücktesten Bilder ploppten in meinem Kopf auf, und irgendwann zwang ich mich dazu, mich abzulenken, weil ich fürchtete, er könne aufwachen und mir durch die Stirn hindurch ansehen, woran ich gerade gedacht hatte. Meine Sorge war unbegründet, die Tablette, die er eingenommen hatte, wirkte fantastisch. Erst eine Stunde vor der Landung erwachte er. Er brauchte ein paar Augenblicke, bis er feststellte, wie nah er mir im Schlaf gekommen war. In einer plötzlichen Bewegung rückte er ein Stück zur Seite. Er murmelte eine Entschuldigung, und dann erzählte er mir von der Angst, die ihn jedes Mal überfällt, sobald sich die Türen eines Flugzeuges schließen. Dass er sich dann gefangen, eingesperrt und ausgeliefert fühlt und er der unweigerlich folgenden Panik nur schlafend entkommen kann.

      Ich spürte, dass es ihm half, mit mir zu sprechen, und nach wenigen Sätzen stellte sich heraus, dass wir beide aus dem gleichen Grund auf dem Weg nach Afrika waren. Mit glühenden Augen berichtete Chris von seinem zurückliegenden ersten Einsatz im Hospital in Duar, das vor neun Jahren errichtet worden war und in dem hauptsächlich Menschen mit Schwarzem Fieber behandelt wurden. Ich hörte die brennende Leidenschaft in seinen Worten und wusste, dass unsere Herzen im gleichen Takt für die Menschen schlugen, und ich hatte überhaupt keinen Zweifel daran, dass es noch mehr Gleichtakt zwischen uns geben könnte. Im Anschluss an den Flug saßen wir sechs Stunden in der Abflughalle des Yomo Kenyatta Airport in Kenia, bevor eine zweite Maschine uns von dort in den Sudan brachte (damals, 1998, war es noch ein Land, die Abspaltung Südsudans erfolgte erst viel später), nach Juba, wo wir in einem Gästehaus übernachteten. Am nächsten Morgen stiegen wir in eine lärmende Propellermaschine, zusammen mit einer Handvoll weiterer internationaler Hilfskräfte, zwei englischen Ärzten, einem Apotheker aus Österreich und einem Ingenieur aus Italien. Bis zum siebenhundertsechzig Kilometer entfernten Bundesstaat Northern Bar El Ghozal hatten Chris und ich ausreichend Zeit, die wesentlichen Eckdaten unserer Lebensgeschichten und Lebensläufe miteinander zu teilen. Es war dunkel, als wir auf dem kleinen Flughafen von Aweil landeten. Am Himmel funkelten die Sterne, und die Luft war feucht-warm und roch süß und schwer.

      Wir verließen das Flughafengebäude, stellten unsere Koffer in den Staub und warteten auf den Fahrer, der uns nach Achongchong bringen würde.

      Da standen wir, und keiner sagte etwas. Plötzlich war es sehr leise ringsumher. Ein fremdes Dorf in einem fremden Land. Mitten im Bürgerkrieg. Neben mir ein Mann mit Zopf und Khakikappe, den ich erst einen Tag lang kannte, aber in dessen Nähe ich das Gefühl hatte, wir seien seit Tausenden von Jahren miteinander verbunden.

      Es war mein viertes Einsatzprojekt im Ausland. Nach Haiti und Chile zum ersten Mal der Sudan. Achonchong, dieses winzige Nest, das es nicht wert ist, es auf einer Karte zu verzeichnen, und die Regionen ringsherum wurden zu einer ganz besonderen Erinnerung. Es war mein erstes Projekt mit Chris, und es blieb nicht das einzige.

      6

      Mascha

      In Anbetracht des sich vorwärtsbewegenden Zeigers ihrer Armbanduhr hätte Mascha keine Zeit verlieren dürfen. Drei Minuten bis zum Beginn des Zeichenkurses. Noch immer saß sie mit tropfenden Haaren und vom Regen durchnässten T-Shirt wie festgewachsen auf dem Rand der Badewanne mit dem Brief in der Hand. Viermal hatte sie ihn gelesen, um nur ja kein Wort zu übersehen oder falsch zu verstehen. Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag. Erneut wanderte ihr Blick über die letzten Zeilen und die Unterschrift.

      Jane. Vier Buchstaben, handgeschrieben von ihr selbst. Die Jüngste von ihnen, fünfundvierzig Jahre alt, im Dezember geboren, Krankenschwester. Sonst wusste Mascha nichts über ihre kleine Schwester. War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? Arbeitete sie noch in ihrem Beruf? Mochte sie Blumen, so wie sie selbst? Den Wald? Tiere? Lebte sie noch immer in Lahnstein? Welche Musik hörte sie gern? War sie eine Frau, die durchs Leben tanzte, im Auto sang, jedes Wochenende mit Freunden verbrachte? War sie sportlich? Was aß sie gern? Trank sie Wein? Oder lieber Bier aus der Flasche? War sie eine Leseratte geworden, wie der Vater es sich gewünscht hatte? Las sie noch gelegentlich Bücher von Jane Austen, die sie schon als Jugendliche verschlungen hatte? Hatten sie Gemeinsamkeiten, sie und Jane?

      »Du warst erst fünfundzwanzig«, murmelte Mascha. Sie starrte auf die vier geschwungenen Buchstaben am Ende des Briefes, als könne das Betrachten von Janes Namen ihr die Fragen beantworten, die sich ihr gerade mit Macht aufdrängten. Fragen, die ein halbes Leben füllten.

      Erneut blieb Maschas Blick an den Worten über den


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