All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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beste Zeitpunkt für das Treffen einer Entscheidung oder für eine Gelegenheit, die man erkennen und nicht verstreichen lassen sollte.

      Bei jedem nochmaligen Lesen ließen die Zeilen im ersten Drittel des Briefes Mascha für einen Moment innehalten. Der Grund dafür waren jedoch nicht die Worte, sondern das Dazwischenstehende, das Unsichtbare, aber dennoch Vorhandene, für das Mascha ein untrügliches Gespür besaß. Jane befand sich in der Lebensmitte. Eine Zeit, in der Gedanken wie aus dem Nichts auftauchen konnten, sich ungebeten in die Ordnung des Lebens drängten und alle Selbstverständlichkeiten in Frage stellten.

      Meist näherten sie sich schleichend, so wie bei Mascha vor drei Jahren. In jeder freien Sekunde kreisten sie um das Erreichte und um das unweigerlich Kommende, aber auch um das Unerreichte und Erträumte, das nicht Gelebte, das lange Zeit unbemerkt geruht und sich irgendwann unaufhaltsam seinen Weg ins Licht gesucht hatte.

      Die Hand mit dem Brief sank herab. Mascha legte den Kopf in den Nacken, füllte ihre Lungen mit einem tiefen Atemzug. Sie hatte sich beeilen, rechtzeitig im Kurs sein wollen. Und nun hatte sich Jane unbemerkt auf den ersten Platz ihrer Prioritätenliste geschlichen. Entschlossen erhob sie sich. Sie legte den Brief auf den Rand des Waschbeckens. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, streifte sie sich ihr T-Shirt über den Kopf. Dann rubbelte sie mit dem Handtuch ihre Haare halbwegs trocken, knetete sie mit den Händen und streifte ein Haarband darüber. Vor dem großen Spiegel im Flur blieb sie stehen, musterte ihre Erscheinung mit kritischem Blick, die blonden Locken, die türkisfarbene, weite Leinenhose, den dunkelblauen BH, der schon bessere Tage gesehen hatte, aber noch immer ein hübsches Dekolleté formte, die Kreolen aus Olivenholz an ihren Ohren, das Lederband mit dem silbernen Anhänger an ihrem Hals. Nackte Füße, ein kleines Baum-Tattoo über dem rechten Knöchel, nicht größer als ein Eurostück. Eine Frau von fünfzig, die erst vor zwei Jahren damit begonnen hatte, der Farblosigkeit in ihrem Leben die Stirn zu bieten.

      »Magst du Farben?«, hörte sie sich flüstern. »Wie kleidest du dich?« Sie wusste nichts von Jane, nichts von dem, was Schwestern gemeinhin voneinander wissen. Sie hatten sich entfremdet – eine natürliche Folge nach zwanzig stummen Jahren. Wie kam es, dass die Jüngste von ihnen plötzlich den Mut aufbrachte, die Zeit der Stille zu durchbrechen?

      Eine Stunde später hielt sie mit ihrem Fahrrad in der Nähe von Miquels Atelier. Der Regen hatte nachgelassen. Sie wartete bis zehn Minuten nach offiziellem Kursende, um sicher zu sein, dass auch die letzten Kursteilnehmer schwatzend das Haus verlassen hatten.

      Miquel Noguerra lebte im vierten Stock in einer Hundert-Quadratmeter-Altbauwohnung, von der er das größte Zimmer als Zeichenatelier nutzte. Hier malte er die Bilder, die er auf Kunstmärkten verkaufte – vor allem Motive, die von der Natur inspiriert waren, für die sein Herz schlug –, hier saßen seine Schüler mit Pinsel oder Pastellkreiden um den großen Tisch herum, und hier hatten er und Mascha vor wenigen Tagen einen langen verbotenen Kuss getauscht. Den ersten. Einen Kuss, der Mascha ein Stück vom Boden und ihre Welt aus den Angeln gehoben hatte. Für die Dauer dieses Kusses hatte alles ringsumher aufgehört zu sein. Zeit, Licht, Luft und Raum hatten ihre Bedeutung verloren. Der Lärm von der Straße war verstummt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren miteinander zu einem zeitlosen Moment verschmolzen. Er war nicht aus heiterem Himmel gekommen, wie das mit Küssen manchmal geschieht, im Gegenteil. Genau genommen war ihm eine fast einjährige Anlaufzeit vorausgegangen, in der er sich durch Blicke, geflüsterte Komplimente, inniger werdende Umarmungen zum Abschied und Schwärme von Schmetterlingen in Maschas Bauch angekündigt hatte. Ungeachtet der zärtlichen Kraft, mit der er Mascha den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, hatte er sie gleichzeitig ungemein erschüttert. Dabei war er nur eine logische Folge der langsam gewachsenen Zuneigung zwischen ihr und diesem katalanischen Maler, von dessen Ausstrahlung sie sich schon in der ersten Zeichenstunde angezogen gefühlt hatte. Der Kuss hatte sie an ein Gemälde von Klimt erinnert, genauso hatte sie sich gefühlt, geborgen in Miquels Händen, gehalten von seinen Armen, Blüten im Haar, Goldflitter auf der Haut. Ihn zu küssen, hatte sich richtig und zweifellos angefühlt, und doch hatte sich anschließend ein Stein auf ihre Brust gesenkt, den sie nicht wieder losgeworden war. Sie mühte sich, ihm keine allzu große Beachtung zu schenken, aber jeder Tag ließ sie aufs Neue spüren, warum sie nicht imstande war, sich seiner zu entledigen. Der Grund dafür waren die Namen, die hineingemeißelt waren. Oliver. Judith. Kat.

      »Entschuldige, dass ich es nicht pünktlich geschafft habe«, sagte sie, als er sie an sich drückte. Miquel war nur unwesentlich größer als Mascha, so konnten sie einander fast auf gleicher Höhe in die Augen sehen. Sie vergrub ihr Gesicht im Stoff seines Hemdes und sog den Duft ein, den sie so mochte. Seine Hände glitten über ihren Rücken. Sie schloss die Augen, wollte schnurren wie eine Katze, aber sofort schaltete sich die Vernunft ein. Widerwillig löste sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück. Sie durfte das nicht tun! Sie zwang sich dazu, ihr wild schlagendes Herz und die Sehnsucht darin zu ignorieren. Sie ging ein paar Schritte und drehte sich dann wieder zu ihm um. Zwei Meter Sicherheitsabstand schienen ein probates Mittel zu sein. Für den Moment jedenfalls.

      Miquels Atelier war nicht nur der größte, sondern auch der hellste Raum der Wohnung. Zwei Glastüren führten hinaus auf einen Balkon und ließen das Abendlicht herein fluten.

      »Ich kann es erklären«, fuhr sie fort, um Sachlichkeit bemüht. Seine Arme sanken herab. In seinem Blick bemerkte sie einen Anflug von Enttäuschung, den sie sich zwang zu übersehen.

      »Ein Brief für mich?«, fragte er, als er das hellgelbe Kuvert sah, das Mascha aus ihrem Rucksack zog.

      »Was habe ich dir jemals über meine Schwestern erzählt?«, fragte sie, während sie mit zwei Fingern den Briefbogen auseinanderfaltete. Sie sprach für gewöhnlich nicht über Selma und Jane, was hätte es auch zu erzählen gegeben über Schwestern, die ihr so fremd waren wie zwei Planeten im All? Mascha erinnerte sich schwach, dass sie Selmas und Janes Existenz einmal mit wenigen Worten erwähnt hatte, in einem ihrer langen, ehrlichen Gespräche nach Unterrichtsende, als die anderen gegangen waren und sie beide noch eine Weile auf den farbverklecksten Stühlen im Atelier gesessen hatten, zwischen Mischpaletten, Pinselreiniger, Aquarellkästen und Acrylfarben.

      »Nicht viel«, antwortete Miquel. »Dass du eine jüngere und eine ältere Schwester hast. Dass du sie seit vielen Jahren nicht gesehen hast.«

      »Hier, schau.« Mascha reichte ihm den Briefbogen. Miquel zog sich einen der mit Farbspritzern übersäten Stühle heran und ließ sich darauf nieder. Er trug Jeans und ein graues Hemd mit aufgewickelten Ärmeln. Keine Socken, keine Schuhe. Er war in Katalonien aufgewachsen, Mitte der Sechziger, auf dem Landgut seiner Großeltern in der Nähe von Igualada, eine knappe Autostunde von Barcelona entfernt. Barfußlaufen war ein Relikt seiner Kindheit. Er hatte Mascha erzählt, dass es Erinnerungen an unbeschwerte Tage in seiner Heimat brachte, an das aus Bruchsteinen erbaute und von Efeu berankte Haus seiner Großeltern, an die Weinlesen im Herbst und die Feste im Hof, bei denen die ganze Familie beisammengesessen und die Großmutter große Schüsseln Botifarra mit weißen Bohnen und geröstete Weißbrotscheiben mit Tomaten und Öl aufgetischt hatte.

      Unter Maschas Blicken las er den Brief bis zum Ende, die dichten Brauen zusammengezogen, sodass sich zwei senkrechte Falten in die Haut dazwischen gruben. Mascha musterte seine Hände, die den Brief hielten, die feinen schwarzen Härchen auf den Fingern, die Art, wie er das linke Bein anwinkelte, seine nackten Füße. Wie sehr ich dich liebe!, durchfuhr es Mascha, und sie erschrak über ihre eigenen Gedanken. Liebe für einen anderen Mann als den eigenen zu empfinden, passte nicht in das von ihr gewählte Lebenskonzept. Sie hatte ein Versprechen gegeben. Es war stark. Es musste stark sein. Nur dann würde sie bewahren können, was sie sich und ihren beiden Töchtern geschworen hatte.

      Sie zwang sich dazu, ihren Kopf zu heben und den Blick hinaus auf den Balkon zu richten, auf die Blumenkübel, in die Miquel Olivenbäume und Oleander gepflanzt hatte.

      In Olivers Gegenwart von Liebe zu sprechen, hatte sie im Lauf ihrer Ehe verlernt. Weil sie verlernt hatte, sie zu empfinden. Die Liebe zwischen ihr und Oliver war verschollen, hatte sich irgendwann unbemerkt an einen Ort zurückgezogen, den sie beide nicht mehr erreichen konnten. Sie hatten sie nicht einmal als vermisst gemeldet. Die Endgültigkeit war Mascha erst vor Augen getreten, als sie ihren ersten Zeichenkurs besucht und


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