All die ungelebten Leben. Michaela Abresch
es war ihr einfach über die Lippen geflossen, fehlerfrei und mühelos, während die letzten roten Funken in der Feuerstelle verglommen waren und sich über ihnen ein sternklarer Himmel gewölbt hatte. Zweifellos der Verdienst ihres literaturbesessenen Vaters! So wie er einst Selma dazu angehalten hatte, sich in den Lagerlöf-Büchern zu verkriechen, hatte er seiner zweiten Tochter den Weg zu den Gedichten von Mascha Kaléko gewiesen. Dass der Sternanzünder zum Begleiter der Schwestern und das gemeinsame Aufsagen zu einem lieb gewonnenen Ritual geworden war, war wiederum Gitte zu verdanken gewesen, mit deren Hilfe auch Selma und Jane das Gedicht erlernt hatten. Es war zu einem festen Bestandteil ihrer Ferien auf Rømø geworden, indem es den Abschluss eines Tages markiert hatte. Selma wusste nicht, welchen Stellenwert die Zeilen für ihre Schwestern gehabt hatten, aber in ihrem eigenen Empfinden hatte dem Aufsagen der Verse eine größere Kraft innegewohnt als dem Nachtgebet, das ihre Mutter manchmal vor dem Einschlafen mit ihr gesprochen hatte, als sie noch das einzige Kind von Therese und Emil gewesen war. Dem Beten hatte es im Gegensatz zum Sternanzünder an Beständigkeit gefehlt, so wie es der Mutter ebenfalls daran gemangelt hatte, weshalb es irgendwann verloren gegangen war.
Selma begann in ihrem dünnen Nachthemd zu frieren. Sie zog die Beine an den Körper und umschlang sie mit beiden Armen. Das Bild der drei kleinen Mädchen, die mit ihrer Tante rings um den Muscheltisch auf der zu jeder Zeit mit feinem Sandstaub bedeckten Veranda saßen, verblasste nicht. Es war von einer erschreckenden Lebendigkeit, sodass Selma nicht imstande war, es abzuschütteln. Ebenso wenig wie all die anderen Bilder, die sich unweigerlich anschlossen. Maschas doppelte Zahnlücke in der Mitte oben, wegen der sie einen Sommer lang ausschließlich mit zusammengepressten Lippen gelacht hatte. Janes kirschrotes Häkelkleidchen, in dem man sie in den von Heidesträuchern bewachsenen Dünenhügeln auf viele Meter entdeckt hatte. Gitte, die jeden Freitag im Hafen von Havneby geräucherte Makrelen gekauft hatte, mit den Fischhändlern um den Preis gefeilscht und auf dem Weg zurück nach Lakolk das Lied von den Matrosen aus Piräus gesungen hatte.
Selma stieß einen Seufzer aus, erhob sich, verließ den Balkon, schloss die Tür und stieg im Dunkeln die Treppe hinauf. Ihr Nachthemd fühlte sich klamm an.
Endlich schwanden die Erinnerungen, und sie entspannte sich. Ihr Unterbewusstsein war unberechenbar. Es hatte sie nur einwickeln, sie mit Zahnlücken und roten Häkelkleidchen über die hässlichen Streitereien und das unbegreifliche Unglück hinwegtäuschen wollen, an dem die Familie Molander Jahre später zerbrochen war.
Ihr Bett war noch warm. Sie vergrub sich mit angezogenen Knien unter der Decke. Auf der Schwelle des Schlafs drängten die ersten Zeilen des Sternanzünders noch einmal in ihre Gedanken. Doch sie war bereits zu weit hinübergeglitten, als dass ihr Geist sich hätte dagegen stemmen können.
Als der Wecker sie um halb sieben aus dem Schlaf riss, verspürte Selma den unbändigen Wunsch, ihn an die Wand zu werfen. Das Oxazepam wirkte noch. Mehr als drei Stunden hatte sie nicht geschlafen. Sie hatte gewusst, dass sie mit einem Katzenjammer erwachen würde, es war nicht das erste Mal. Schlaftabletten sollten nicht nach Mitternacht eingenommen werden, vielleicht war es ratsam, allmählich damit anzufangen, sich an die Hinweise auf dem Beipackzettel zu halten.
Sie zwang sich dazu, sich aus den Kissen zu schälen, bevor der Schlaf sie erneut überfiel. Pflichtbewusstsein und Disziplin waren schon immer ihre Stärken gewesen. Ihnen war es geschuldet, dass sie vier Jahre lang die Pflege ihrer Mutter hatte übernehmen können, Tag für Tag und Nacht für Nacht. »Du bist die Älteste, ich verlass mich auf dich«, hatte ihr Vater zu ihr gesagt. Mehr Worte hatte er nicht gehabt für sie, keinen Dank, keine Anerkennung, keine Zusage einer Unterstützung. Selma hatte sich gefügt und pflichtschuldig getan, was von ihr verlangt wurde. Nicht nur, weil sie die Älteste war. Sondern weil sie nichts sehnlicher wollte, als ihrem Vater beweisen, dass er sich auf sie verlassen konnte. Und weil sie nicht wusste, womit sie die Schuld, von der bis heute niemand wusste, sonst hätte begleichen sollen.
Nach einer heißen Dusche und zwei Tassen starkem Kaffee begutachtete Selma eine Stunde später ihr Äußeres im Wandspiegel neben der Wohnungstür. Zufrieden stellte sie fest, dass sie eine Meisterin darin war, Schlafmangel, trübe Gedanken und die Folgen ihrer Maßlosigkeit gekonnt zu überschminken. Sie drehte sich etwas zur Seite, ohne den Blick von ihrem Spiegelbild abzuwenden. Ihr gefiel, was sie sah. Die neuen Armani-Jeans saßen einwandfrei, die hochhackigen Boots ließen ihre Beine noch länger wirken, und der schwarze Seidenpullover schmeichelte ihrer schmalen Taille. Die fünfundfünfzig sah man ihr ebenso wenig an wie den Widerstand in ihrem Inneren. Fast hätte Janes Brief sie aus der Bahn geworfen. Aber sie ließ sich nicht beirren. Nichts und niemand würde sie dazu bewegen, sich selbst untreu zu werden und ihre vor zwanzig Jahren getroffene Entscheidung rückgängig zu machen, nur weil ihrer jüngsten Schwester plötzlich einfiel, das Zeitrad anhalten zu wollen. Ein spöttisches Lachen verließ Selmas Lippen. Sie griff nach Mantel, Handtasche und Haustürschlüssel und verließ die Wohnung. Die Arbeit im Laden würde sie ablenken, und bis zum Abend hätte sie diese unnötigen Gedanken vergessen.
8
Jane
Es war früh, nicht einmal sechs Uhr. Der anbrechende Tag stritt mit den letzten Schatten der Nacht und kroch als grauer Dämmer ins Zimmer. Jane hatte bei weit offen stehender Verandatür geschlafen und war vom Gesang der Vögel erwacht. Wie an jedem Morgen tastete sie nach dem Aufwachen mit unsichtbaren Fühlern ihren Körper ab. Nichts fühlte sich besorgniserregend an. Selbst die dumpfen Schmerzen im Rücken, die sie seit einiger Zeit begleiteten, waren auszuhalten. Die Metastasen in den Lendenwirbeln wuchsen. Jane wusste es, obwohl die letzte MRT-Untersuchung Monate zurücklag. Damals hatte man drei von ihnen ausfindig gemacht und mit dem Befund »progredienter Verlauf« das letzte noch glimmende Hoffnungsflämmchen ausgelöscht. Es lag allzu nahe, dass der Krebs inzwischen weiter gestreut hatte. Der Befund hatte Jane getroffen, als habe jemand ihr mit einem glatten Schnitt eine Ader geöffnet, um allen Lebensmut aus ihr herausrinnen zu lassen. Betäubt vor Enttäuschung hatte sie sofort eingewilligt, als Doktor Mensberg, ihre Onkologin, eine stämmige Ärztin mit raspelkurzem und leuchtendrot gefärbtem Haar, ihr zu einer dritten Chemotherapie geraten hatte. Leben wollen. Überleben. Den Scheißkrebs besiegen. Nichts anderes hatte Janes Gedanken beherrscht.
Schon die ersten beiden Infusionen hatten sie von den Füßen gerissen. Fünf Tage und Nächte vergrub sie sich im Bett, unfähig, auf ihren schwammigen Beinen zu stehen, sich aufrecht bis zur Toilette zu bewegen, den geringsten Bissen bei sich zu behalten oder auch nur die Zahnbürste in die Hand zu nehmen. Als schließlich ein Schüttelfrost nach dem anderen über ihren Körper hinweg jagte, verbarrikadierte sie sich in ihrem Zimmer und weinte die Kissen nass, bis sie keine Tränen mehr hatte. Es schmerzte, die Widersacher zu spüren, die in ihrem Inneren miteinander rangen. Eine ganze Nacht lang. Bis sie schließlich verstand, was sie ihr sagten.
Du musst es tun!
Ich will es nicht!
Tu, was Doktor Mensberg dir sagt!
Aber ich kann nicht mehr.
Willst du leben?
Ja, verdammt noch mal! Aber nicht so!
Stell dich nicht an, andere schaffen das auch!
Aber ich habe keine Kraft mehr!
Still weinte Jane in sich hinein, und sie wollte niemanden sehen, nur allein sein und sich den finsteren Grübeleien hingeben. Gitte, die das Schlimmste fürchtete, klopfte ein paar Mal an die verschlossene Tür, aber Jane schickte sie fort. Am Ende einer durchgeweinten Nacht gestand sie sich ein, dass sie weder Kraft noch Willen verspürte, ihre Tage mit dem Aushalten von zermürbenden Nebenwirkungen zu verbringen, nur um drei, vier Monate Zeit herauszuschinden. Lebenszeit gewiss, doch was nützte diese, wenn ihr Körper nicht mehr funktionierte? Unter Tränen und in der Einsamkeit jener Nacht traf Jane ihre Entscheidung: keine Medikamente mehr, die machtlos waren gegen die sich stetig vermehrenden Krebszellen und ihr nichts weiter als einen Berg unerwünschter Wirkungen bescherten. An jenem Tag hatte Jane beschlossen, sich zu ergeben.
Und ich lebe noch immer. Sie musste wieder eingeschlafen sein, denn nach einem ersten Blinzeln bemerkte sie, dass die Dämmerung gewichen war und die Strahlen der Morgensonne ein helles Rechteck