All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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Wolke. Jane fröstelte.

      »Niemand darf es mir verbieten«, sagte sie. »Es ist eine Entscheidung, die ich selbstbestimmt treffen kann, unabhängig von der Meinung anderer.«

      »Jane, was redest du denn da?«

      Noch einmal füllte Jane ihre Lungen mit Luft, dankbar dafür, dass ihr durch die Spritze das Atmen allmählich leichter fiel. Hatte sie sich wirklich eingebildet, Tante Gittes Verständnis ohne Erklärungen gewinnen zu können?

      »Es ist nicht strafbar, Tante Gitte! Ich verlange nicht, dass du mir einen Giftcocktail mischst und mir beim Austrinken den Strohhalm hältst. Ich will auch nicht, dass jemand mir eine Spritze gibt, nach der die Atmung aussetzt. Ich höre nur damit auf, meinem Körper das zu geben, was er braucht, um die Vorgänge darin aufrechtzuerhalten, die ihm das Leben ermöglichen. Denn solange er das tut, werde ich leben. Und leiden! Aber wenn ich ihm zugestehe, dass er aufhören darf, zu funktionieren, werde ich sterben. Ich verzichte nur auf etwas. Und ich tue es im Vollbesitz meines Geistes.«

      »Du willst dich …« In einer Geste der Verzweiflung schlug Gitte beide Hände vors Gesicht. Das Zucken ihrer Schultern verriet, dass Janes Worte ihre Tante bis ins Mark erschüttert hatten und sich die bislang so mühselig zurückgehaltenen Tränen nicht länger unterdrücken ließen. Nur ein einziges Mal hatte Gitte in Janes Beisein die Fassung verloren und hemmungslos geweint. Als Doktor Mensberg in der onkologischen Frauenklinik ihnen den Befund der MRT-Untersuchung mitgeteilt hatte, aus dem hervorging, dass der Brustkrebs zurückgekehrt war und in die Lunge gestreut hatte. Apathisch hatte Jane auf dem Stuhl vor dem weiß lackierten Schreibtisch gesessen, der ihr ebenso steril und makellos erschienen war wie alles in diesem spartanisch eingerichteten Raum. Die Stimme der Ärztin war von weit her gekommen, als befände sie sich auf der anderen Seite einer unsichtbaren, schützenden Wand, die Jane von der Realität trennte, von der unumkehrbaren Diagnose und der Bösartigkeit, die sich nach der scheinbaren Heilung erneut in ihrem Körper ausbreitete. Irgendwann hatte Jane schwerfällig den Kopf zur Seite gedreht und die tränennassen Augen ihrer Tante bemerkt, die klein und blass und zusammengesunken auf dem Stuhl neben ihr gekauert und ihre Hände im Schoß ineinander verschlungen hatte. Später hatte sie sich bei Jane dafür entschuldigt. Nie vorher habe sie den Tod so unmissverständlich vor Augen gesehen. Nie habe sie die Endlichkeit so sehr in allen Fasern gespürt. Nie sei die Hoffnung im Vergleich zur Resignation so winzig gewesen. Vielleicht fühlte ihre Tante in diesem Augenblick auf der Veranda ähnlich, weil jeder Schutzmantel aus Humor und Ironie kläglich versagte.

      Jane schluckte hart und verurteilte sich dafür, ihrer Tante diesen Schmerz zuzufügen. Sie rückte ein Stück näher und legte ihren Arm um Gittes Schultern.

      »Ja, es ist eine Art Suizid, wenn du so willst«, sagte sie leise. Ihre Finger strichen über Gittes Arm. »Und sei beruhigt: Es heißt, dass der freiwillige Verzicht von Nahrung und Flüssigkeit nicht mit großem Leiden verbunden ist.«

      Gittes Hände sanken herab. Für einen Moment sah sie Jane wortlos an, dann schmiegte sie ihren Kopf an die Schulter ihrer Nichte. Es schien, als würden sie einen Rollentausch vollziehen, bei dem plötzlich Jane die Stärkere von ihnen beiden war.

      Seit Monaten beschäftigte Jane sich mit dem Sterbefasten, sie hatte positive wie auch kontroverse Artikel darüber gelesen und eine Zeitlang unschlüssig gezweifelt, die Option verworfen, sie wieder aufgenommen und neu bedacht. Es hatte sich angefühlt wie ein Prozess, den sie hatte durchlaufen müssen, um am Ende festzustellen, dass es ihr gefiel, auf diese Möglichkeit zurückgreifen zu können. Sollte der Krebs auf die Idee kommen, über sie und ihr Leben bestimmen zu wollen, könnte sie sich mit dem bewussten Verzicht auf Essen und Trinken ihre Autonomie bewahren. Doch sie wusste auch, dass das Sterbefasten Durchhaltevermögen verlangte. Disziplin. Geduld. Und einen Menschen, der sich kümmern würde, wenn sie selbst es nicht mehr konnte. Jane machte sich nichts vor. Ungeachtet dessen, dass ihr Entschluss feststand, verspürte sie, wenn sie lange darüber nachdachte, eine riesengroße Angst in sich heraufkriechen. Sterbefasten war nichts, was sie üben könnte. Sie würde es nur einmal machen, ohne Generalprobe und ohne die Chance auf eine Wiederholung. »Verzeih mir, Jane, aber das ist … Es ist nicht so leicht, wie du vielleicht glaubst.«

      Jane drückte sie an sich und starrte über den gelben Teppich aus blühendem Stechginster hinweg auf die sandigen Dünenhänge.

      »Gib mir ein paar Minuten, ja?« Gitte wartete die Antwort nicht ab, stand auf, stieg die Verandatreppe herunter und ging bis zum Ende des Grundstücks, wo ein Gartentor und zwei Schwarzkiefern den Durchgang in das sich daran anschließende Dünengebiet öffneten. Jane sah ihr nach. Was tat sie ihrer Tante nur an? Autonom getroffenen Entscheidungen wohnte immer der schale Beigeschmack von Egoismus inne, und sie wirkten rücksichtslos, sobald sie die Assistenz eines anderen Menschen erforderlich machten. Aber welche Wahl hatte Jane? Alle Grübeleien hatten früher oder später immer zur gleichen Antwort geführt: Sie konnte Gitte nicht aus ihrem Vorhaben heraushalten.

      Die Feriengäste mit dem Labrador kamen den Dünenpfad zurück. Jane beobachtete, wie der Hund vorauslief und am Gartenzaun schnüffelte. Ein Pfiff rief ihn zurück. Sofort machte er kehrt. Seine Besitzer sprachen im Vorbeigehen ein paar Worte mit Gitte, die abwesend nickte und sich ein Lächeln abrang. Wie verloren und klein sie zwischen den beiden Schwarzkiefern wirkte. Als habe sie Janes Blick auf sich gespürt, wandte sie sich um und kam zurück. Am Fuß der Verandatreppe blieb sie stehen.

      »Ich habe noch nie gehört, dass man so etwas machen kann, Jane. Dass man auf diese Art sterben kann. Freiwillig, meine ich. Ich verstehe nicht, wie das gehen soll. Wie lange … dauert denn so etwas?«

      Jane blinzelte in die Sonne, die eine Wolkenlücke gefunden hatte, um ihre Strahlen hindurch zu schicken.

      »Zehn Tage, zwölf, fünfzehn vielleicht.«

      »Gütiger Himmel«, murmelte Gitte. »Und du hast das schon beschlossen?«

      Jane nickte.

      »Wo willst du … es tun?«

      »Zuhause.« Jane schloss die Augen. Zuhause … Sie spürte dem Wort nach, schmeckte es auf der Zunge. Es weckte Erinnerungen. Nicht an die Mühlenwohnung, in der sie aufgewachsen war, wo ihr Vater sie aber nicht mehr hatte haben wollen, nachdem das Unglück über die Familie hereingebrochen war. Auch nicht an die Eltern oder ihre Schwestern. Zuhause schmeckte anders. Zuhause, das war das kleine Zimmer mit den schrägen Wänden unter dem Dach, das Tante Gitte für sie eingerichtet hatte, als Jane bei ihr eingezogen war, mit dem Fenster zum Garten, in dem Pflaumen und Mirabellen an den Bäumen wuchsen, aus denen sie im Herbst zusammen Marmelade gekocht hatten.

      Zuhause … Was für ein Komfort, sich den Ort des Sterbens aussuchen zu dürfen!

      Die Erinnerungen zogen davon, Jane öffnete die Augen. »Wenn Selma und Mascha … Wenn ich alles dafür getan habe, dass die beiden … nachher, also, nachdem ich, wenn ich …« Sie stockte, seufzte auf, atmete, so tief sie konnte. Danach, nachher … Zweifelte sie etwa ihre gerade so entschlossen vorgebrachte Entscheidung an? Oder waren es nur die Worte, die ihr nicht über die Lippen wollten? Wie eine zähe Masse verklebte die Angst ihre Kehle und verhinderte, dass sie einen vollständigen Satz herausbrachte. Noch einmal füllte sie ihre Lungen mit Luft.

      »Wenn sie wieder in ihre Leben zurückkehren«, sagte sie umständlich, »dann lass auch uns zurückfahren, ja? Ich will zuhause sein, in meinem Zimmer … wenn ich gehe.«

      Dort will ich sein, wenn ich gehe klang milder als Dort will ich sterben, und Jane hoffte inständig, dass ihre Tante dies ebenso empfand. Gitte sagte nichts, presste die zitternden Lippen aufeinander und rieb sich unaufhörlich mit den Ärmeln ihres Morgenmantels über die Augen. Jane ließ ihr Zeit.

      »Was wird passieren, Jane?«, fragte sie irgendwann, und sie klang etwas klarer, als habe sie ihre Gedanken geordnet. »Ich meine, geht das überhaupt? Hält man das aus, einfach nichts mehr zu essen und zu trinken? Was passiert dann in deinem Körper?«

      Jane erhob sich nun ebenfalls. Der Schmerz schoss aus den Lendenwirbeln den Rücken hinauf, gleichzeitig ins Becken hinunter und weiter in die Oberschenkel. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, ruhig zu bleiben, indem sie sich


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