All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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zwei hagere Anhängsel geworden. Mit beiden Händen strich sie über die knochig hervorstehenden Knie und weiter über die Waden, wo sich kaum noch Muskulatur zwischen Haut und Knochen befand. Sie tastete nach ihren Wollsocken am Fußende des Bettes und streifte sie über die Füße, die eiskalt waren, wie so oft. Etwas zu hastig schwang sie die Beine aus dem Bett. In ihren Ohren begann es zu rauschen. Im Nu perlte kalter Schweiß auf ihrer Stirn. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich weich wie Schaumgummi an.

      Nicht so schnell, Jane …

      Sie richtete sich auf, umklammerte mit beiden Händen die Bettkante und atmete tief. Dass ihr Kreislauf in letzter Zeit manchmal schlappmachte, gefiel ihr nicht. Zweimal war sie dadurch bereits gestürzt, zum Glück ohne Folgen für ihre spröde gewordenen Knochen, die dabei ebenso gut hätten brechen können.

      Dieses Mal schien es gut zu gehen. Das Rauschen verebbte, nichts schwankte, ihre Füße fanden Halt. Sicherheitshalber wartete sie einen Augenblick, bevor sie sich erhob.

      Dann angelte sie nach ihrer Strickjacke. Auf Socken trat sie durch die Tür nach draußen auf die Veranda. Die Luft war kühl. Still ruhte der Morgen über den Dünen. Die dänische Fahne in Henriksens Garten hing schlaff am Mast. Den morgendlichen Sonnenstrahlen, die von der Ostseite her auf die Veranda trafen, fehlte es noch an Wärme. Dennoch reckte Jane ihnen ihr ausgezehrtes Gesicht entgegen, die durchscheinenden Wangen, das spitze Kinn, den Kopf mit dem feinen hellen Flaum. Wie eine Aufforderung an die Sonne. Durchdring mich mit deiner Wärme, so schwach sie auch ist, und mit deiner Helligkeit! Fließ durch meine Haut, durch meine Augenlider. Schenk mir einen kleinen Teil der Kraft, mit der du die ganze Welt versorgst!

      Sie machte ein paar Atemübungen, legte dazu die Handflächen über dem Kopf aneinander und ließ die Arme beim Ausatmen zu beiden Seiten langsam herabgleiten. Dann ging sie zurück ins Zimmer. Die mit Tee gefüllte Isolierkanne, die Gitte ihr jeden Abend ins Zimmer stellte, war unberührt geblieben in der Nacht. Jane schraubte den Deckel ab. Der Tee war noch lauwarm, sie goss ihn in den Becher und trug ihn nach draußen. Langsam stieg sie die vier Stufen der Veranda herunter. Die Wirbel schmerzten bei jedem Schritt. Der Tee schmeckte nach nichts. Sie trank ihn der Wärme wegen und weil der Salbei ihre Schleimhäute besänftigte.

      Ein schmaler, auf einer Seite ans Haus grenzender, auf der anderen von Lavendelbüschen gesäumter Weg aus Holzplanken führte um das Haus herum bis zur Vorderseite. Jane folgte ihm. Ihre Gedanken glitten zurück in die Zeit, in der sie sich ausgemalt hatten, Tante Gittes Haus sei ein Walfangschiff. Sie hatten es geliebt, als Frauen der dänischen Kommandeure und Walfänger barfuß über die von der Sonne beschienenen Holzplanken zu laufen und Ausschau nach ihren Männern zu halten. Beflügelt von Tante Gittes abendlichen Erzählungen am Feuer, waren sie eingetaucht in die Geschichte der dänischen Walfänger, die ebenso die Geschichte der starken Frauen auf Rømø war, weil sie Haus, Hof, Vieh und Felder versorgt hatten, solange ihre Männer in den Eismeeren auf Walfang gewesen waren.

      Vor der Haustür blieb Jane stehen. Min lille hus ved havet stand auf verwittertem Treibholz, das Gitte seinerzeit am Strand gefunden, mit weißer Farbe beschriftet und anschließend auf einer Klappleiter balancierend mit zwei Nägeln neben der Haustür befestigt hatte. Mein kleines Haus am Meer – die ersten dänischen Worte, die Jane in der fremden Sprache gelernt hatte.

      Sie trank einen Schluck Tee, umrundete das Haus und gelangte wieder zur Veranda. Mit leisem Stöhnen sank sie auf die oberste Stufe der kleinen Holztreppe, presste für einen Moment die flache Hand gegen den Rücken und zog die Strickjacke enger um sich. Der Tee wärmte ihre Kehle. Eine Brise strich durch den Strandhafer. Die Geister wisperten.

      Hörst du, mein Kind, ihren ewigen Hauch in Halmen und Rauch …

      Seit Tagen dachte Jane darüber nach, Gitte endlich in ihren Plan einzuweihen. Wie lange wollte sie noch warten? Ohne Gittes Hilfe würde ihr Vorhaben scheitern. Mit ihr zu sprechen, war demzufolge unausweichlich, auch wenn Jane wusste, dass es das Schwerste sein würde, um das sie ihre Tante jemals gebeten hatte. Die Jahre hatten ein Band aus tiefer Liebe und bedingungslosem Vertrauen zwischen ihnen gewebt, sodass die Gewissheit, dass es einmal eine andere Mutter in ihrem Leben gegeben hatte, für Jane zu einer verblassten Erinnerung geworden war. Zweiunddreißig lange Jahre lebte Therese Molander schon nicht mehr. Werde ich dich wiedersehen? Werde ich dich erkennen? Bist du da, wo ich bald sein werde?

      Ihr Blick glitt über den Becher hinweg zum Horizont, wo einzelne Wolkenfetzen am blassblauen Morgenhimmel trieben.

      »Störe ich?«

      Sie spürte den sanften Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Die Gedanken an ihre Mutter stoben davon wie ein Schwarm aufgescheuchter Küstenvögel.

      »Nein, setz dich zu mir.« Jane rückte ein Stück zur Seite.

      »Ich hole mir einen Kaffee«, sagte Gitte und verschwand im Haus. Jane hörte sie in der Küche hantieren.

      War dies der Zeitpunkt, auf den sie gewartet hatte? Zahllose Male hatte sie sich den Kopf darüber zermartert, wie ihre Tante wohl reagieren mochte. Was Jane ihr zu sagen hatte, war nichts, womit Gitte rechnen, nichts, worauf sie vorbereitet sein könnte. Es würde sie unvermittelt treffen. Jane hörte ihre Tante auf die Veranda zurückkehren. Sie hatte ihren Morgenmantel über das dünne Nachthemd gezogen und hielt einen Becher mit Kaffee in der einen, Janes Kissen in der anderen Hand.

      »Hier, darauf sitzt du besser.« Jane stellte ihren Teebecher ab und schob sich das Polster unter, während Gitte sich neben ihr auf der obersten Stufe niederließ. Der Kaffee duftete. Jane überlegte, wann sie den letzten getrunken hatte. Es war eine halbe Ewigkeit her. Doch obwohl sein Geschmack sie anwiderte, erinnerte sein Duft sie noch immer an gute Zeiten, an Lebensfreude, Vitalität, Normalität. Und an die kostbaren Augenblicke mit Chris, an die seltenen Pausen, die sie sich während der Einsatzfahrten in den Dörfern gegönnt hatten, wo sie tagelang Menschen geimpft hatten und ihnen der lauwarme Kaffee, den sie nebeneinander auf der Motorhaube ihres Einsatzfahrzeuges getrunken hatten, wie ein Geschenk erschienen war.

      »Habe ich dir schon dafür gedankt, dass du mit mir hierhergekommen bist?« Jane sprach leise und ohne Gitte dabei anzusehen. Ihr Blick verlor sich in den mit Dünengras bewachsenen, sandigen Hängen. Dahinter befand sich das unerreichbar gewordene Meer; nur ein einziger Kilometer trennte sie von ihm, tausend Schritte, die sie früher gedankenlos und leichtfüßig zurückgelegt hatte.

      »So ganz offiziell meinst du?« Auch Gitte hielt ihren Blick geradeaus gerichtet. Dennoch entging Jane das Schmunzeln in der Stimme ihrer Tante nicht. »Schriftlich, in dreifacher Ausfertigung und notariell beglaubigt? Nein, das steht noch aus.« Gitte kicherte, Janes Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Den Oberkörper zur Seite geneigt stupste sie Gitte mit der Schulter spielerisch an.

      »Ich meine es ernst, Tante Gitte. Ohne dich wäre in meinem Leben vieles nicht möglich gewesen. Auch das hier nicht. Deine Unterstützung bedeutet mir unglaublich viel und … und auch deine Liebe.« Ihre Blicke kreuzten sich. »Danke, dass du so für mich da bist.« Jane bemerkte den plötzlichen Glanz in Gittes Augen, aber er verschwand, kaum dass sie ihn wahrgenommen hatte.

      »Was wird das hier, Jane? Muss ich Taschentücher holen?« Jane lachte auf und erschrak beinahe, weil sie fast vergessen hatte, wie es sich anfühlte. Ihr Lachen, ein flüchtiger Augenblick der Unbeschwertheit, der vorbei war, bevor sie ihn realisiert hatte. Sie sprachen nicht, saßen nebeneinander, tranken, atmeten die kühle Luft, sahen hinaus in den erwachenden Tag. Auf Janes nackten Beinen bildete sich eine Gänsehaut. Sie zog die Strickjacke über ihre angewinkelten Knie. Weich schmiegte sich die Wolle an ihre Haut.

      »Ich möchte dir etwas sagen, Tante Gitte.« Es war der richtige Augenblick. Kairos. Worauf sollte sie warten?

      »Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach. Und mein Entschluss steht fest.« Aus dem Augenwinkel versuchte sie, das Gesicht ihrer Tante zu streifen, um eine Regung darin zu erkennen, konnte aber keine Veränderung feststellen. Mit beiden Händen hielt Gitte den Kaffeebecher umschlossen und nippte daran.

      »Es ist etwas, das ich nicht alleine kann«, fuhr Jane fort. Ihre eigenen Worte wühlten sie auf. Darüber nachzudenken, war das eine, es war leicht. Gedanken gehörten einem ganz allein, man konnte


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