All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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gleich.

      Kat wurde laut. Wortreich verteidigte sie ihre Position. Sie war neunzehn, ein vor Selbstbewusstsein strotzendes Mädchen, dem einerlei war, was andere für richtig hielten, was ihr Vater sich von ihr wünschte. Sie machte sich nicht abhängig von ihrer Außenwirkung und von dem, was andere von ihr hielten oder über sie dachten.

      Mascha betrat die Küche, wo die beiden einander gegenüberstanden. Oliver mit hochrotem Kopf, beschienen vom kalten Licht der Deckenleuchte, das ihn wie eine Aura aus Eis umgab. Der Mann, den sie einmal geliebt hatte. Manchmal ertappte Mascha sich dabei, dass sie ihn bei einer belanglosen Tätigkeit beobachtete, beim Zähneputzen, beim Bestreichen einer Brötchenhälfte, beim Telefonieren mit seiner Mutter, beim Schlafen oder wie jetzt beim Streit mit Kat, und sich verzweifelt an das einst für ihn empfundene Gefühl erinnern wollte. Wie weit zurück musste es liegen, dass weder Herz noch Gedächtnis es heraufbeschwören konnten? Oder war die Zuneigung zu Miquel imstande, alles jemals für Oliver Gefühlte zu schmälern? Sie fand keine Antwort, nie. Und das Beklagenswerteste daran war, dass sie die Abwesenheit der Liebe inzwischen akzeptieren konnte. Oliver wusste schon lange nichts mehr von ihr. Nichts von dem, was sie gedanklich beschäftigte, nichts von dem, was ihr wichtig war. Dass sie donnerstags zum Malen ging, nahm er stumm zur Kenntnis, ohne sich jemals nach ihren Fortschritten zu erkundigen. Aber weder von Miquel noch von der Leidenschaft, die sie in ihre Zeichnungen legte, ahnte er etwas. Dass der Ausdruck ihrer schöpferischen Kraft ihr ein Gefühl der Lebendigkeit vermittelte, sobald sie die Farben auf die Leinwand auftrug, hätte sie ihm nicht einmal im Ansatz erklären können. Anfangs hatte sie versucht, Worte zu finden, die es ihm hätten verdeutlichen können, es aber schon bald aufgegeben. »Meine Frau malt Blumenbilder«, hatte Mascha ihn einmal lachend sagen gehört, auf der Einzugsparty der neuen Nachbarn.

      Meine Frau malt Blumenbilder … Jedes Wort gespickt mit Dornen, die sich hart und kalt in Maschas Herz gebohrt hatten. Wie herablassend er sie ausgesprochen hatte und wie tief die Wunde war, die er Mascha damit zugefügt hatte, war ihm nicht aufgefallen. Eine flammende Röte war Mascha in die Wangen geschossen. Sie hatte sich entschuldigt und war zur Haustür heraus in den nächtlichen Garten geflohen, wo sich dank des Nieselregens niemand aufgehalten hatte. Zwischen Gartenbank und Kirschbaum hatte sie um Fassung gerungen, während ein feiner feuchter Film ihr Gesicht bedeckt hatte. Sie hatte ihre Handflächen an die Rinde gepresst und sich in die Finsternis starrend Miquels von ihr mit Bangen herbeigesehnte Beurteilung ins Gedächtnis gerufen, nachdem sie ihre erste Zeichnung, eine karminrote Mimose mit zerrupftem Blütenkopf, fertiggestellt hatte.

      »Du zeigst uns ihre Seele«, hatte er leise gesagt, voll ehrlicher Bewunderung und mit dem gebotenen Respekt, woraufhin ihr Gemälde den endgültigen Titel erhalten hatte. Mimosa anima in Pastell auf Leinwand schmückte seitdem die Wand ihres kleinen Schlafzimmers unterm Dach, und wenn sich ihr Blick darin verlor, tauchten zugleich Miquels Worte wieder auf, durch die Mascha viel mehr in ihrem Bild sah als nur die karminrote Mimose.

      Kat beendete in diesem Augenblick den Streit mit ihrem Vater und rauschte mit einem Schnauben an ihrer Mutter vorbei.

      Oliver stand vor dem geöffneten Kühlschrank und griff nach einer Flasche Bier. Mascha bemerkte die pochende Ader an seiner rechten Schläfe. Janes Brief wanderte von ihrer rechten in die linke Hand. Gedanklich suchte sie nach Worten.

      »Eigentlich dachte ich, dass sie mit neunzehn aus dem Trotzalter raus wäre«, brummte er statt einer Begrüßung. Er öffnete die Flasche und setzte sie an die Lippen. Mascha wartete. Sie mochte es nicht, wenn er Bier aus der Flasche trank. Aber sie schwieg.

      »Nach so einem Tag! Der Alte hat pausenlos genervt! Wenn das so weitergeht, werde ich mir auch ein Burnout zulegen, wie die werten Kollegen, die einfach mal für ein Jahr ausfallen. Du hättest die Diskussionen hören müssen! Sogar Blumberg hat sich dieses Mal nicht zurückgehalten! Da hat mir nach Feierabend unsere eigensinnige Tochter gerade noch gefehlt.« Wieder hob er die Flasche an die Lippen und trank geräuschvoll.

      Warum lässt du sie nicht einfach in Ruhe?

      Mascha merkte, wie sich ihr Geist abspaltete. Sie wollte das alles nicht hören. Sie hatte sich gewünscht, Oliver in einem guten Moment anzutreffen, um ihm Janes Brief zu zeigen. Allein die Namen ihrer Schwestern zu nennen, würde wahrscheinlich ausreichen, ein enerviertes Augenrollen bei ihm auszulösen. Seinen Ärger weiter anzufachen, hielt Mascha für unklug. Sie kannte ihn lange genug.

      »Bin müde«, sagte sie. »War ein langer Tag. Ich geh schlafen.«

      Im Badezimmer zog sie sich aus, streifte ein weites T-Shirt über den Kopf, bürstete ihre Locken und wusch sich Gesicht und Hände. Beim Zähneputzen dachte sie an Jane. An Selma. An Tante Gitte. An Rømø. An die Vergangenheit, die zwanzig Jahre lang unter einem Schleier aus Schweigen geruht hatte und die plötzlich in eine Nähe gerückt war, an die Mascha schon nicht mehr geglaubt hatte.

      Sie hörte, dass Oliver den Fernseher eingeschaltet hatte. Gedämpft vernahm sie die Stimme der Reporterin und Olivers spöttischen Kommentar dazu. Sie spülte den Mund aus, säuberte die Zahnbürste, trocknete sich die Hände ab. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, wirkte ernst. Sie sah die graue Hülle und sehnte sich nach den darunter verborgen liegenden Farben. Nach dem Glanz, von dessen Existenz sie viel zu lange nichts geahnt hatte.

      Im Licht ihrer Nachttischlampe las sie den Brief noch einmal. Bevor sie einschlief, schob sie ihn zusammengefaltet unter ihr Kopfkissen.

      Vergangenheit

      Selma wurde im August geboren, sieben Minuten bevor die Turmuhr von St. Agnes gegenüber der Klinik zur Mitternacht schlug. Sie war das erste Kind von Therese und Emil Molander, ein zierliches kleines Ding von nicht einmal dreitausend Gramm und von seinen Eltern sehnsüchtig erwartet. Es glitt leicht aus dem Schoß seiner Mutter, nachdem diese zweiundzwanzig kräftezehrende Stunden in den Wehen gelegen hatte. Therese hatte nicht gewusst, dass ein so zartes Kind imstande war, solche Beschwerlichkeiten auszulösen. Aber zu jener Zeit hatte sie vieles nicht gewusst. Niemand hatte sie auf das Kommende vorbereitet, und hätte sie die Veränderungen geahnt, so hätte sie dem fünfzehn Jahre älteren Emil die Ehe mit weniger Arglosigkeit versprochen.

      Dass sie nach den zermürbenden Stunden der Wehen noch Kraftreserven besaß, ihr kleines Mädchen zur Welt zu bringen, verdankte sie ihrer besten Freundin Gitte, der Halbschwester ihres Mannes, die zwar im Gebären nicht sonderlich erfahren, aber von einem einfühlsamen Wesen war, mehr ermutigende Worte fand als die Hebamme und eine wohltuende Zuversicht verströmte.

      Es war die Zeit, in der angehende Väter den Geburten ihrer Kinder noch nicht so selbstverständlich beiwohnten, wie sie das heutzutage tun. So saß Emil wartend vor dem Kreißsaal und verließ sich darauf, dass die Hebamme und Gitte seiner Therese den nötigen Beistand zukommen lassen würden.

      Therese und Gitte kannten einander, seit man sie in der Schule nebeneinander in die Bank gesetzt hatte. Schnell freundeten sie sich an und besuchten einander zum Spielen, sodass Therese den Halbbruder ihrer Freundin kennenlernte. Die Zuneigung zueinander entdeckten Therese und der viele Jahre ältere Emil jedoch erst, als er bereits ein gestandener Mann von Mitte dreißig war und nach seinem Studium der Pharmazie als angestellter Apotheker in der Mühlen-Apotheke am Marktplatz ein gutes Gehalt verdiente. Die Apotheke war im Erdgeschoss eines einhundert Jahre alten Gebäudes untergebracht und verfügte über einen mit alten Laubbäumen bestandenen Garten, der mit seinen verwilderten Blumenrabatten und der heruntergekommenen Gartenlaube immer ein wenig verwahrlost wirkte, an heißen Sommertagen aber einen wunderbaren Ort für Müßiggang bot.

      Emil, der ohne viele Worte durchs Leben kam und in seiner offensichtlichen Bedürfnislosigkeit auf Gitte stets wie ein verschreckter Sonderling wirkte, fand Gefallen an der verspielten Lebensfreude der quirligen, brünetten Freundin seiner Halbschwester.

      Therese und Gitte waren damals frischgebackene Abiturabsolventinnen, die es liebten, sich sonntagabends im Beatkeller die Pumps von den Füßen zu streifen und in ihren Pepitakleidern Twist zu tanzen bis zum Umfallen. Sie tranken Persico oder Martini auf Eis und fanden immer zwei Jungen, die sie mit ihren Vespa-Rollern heimfuhren.

      Lehrerinnen wollten sie werden. Beide. Doch nur Gitte verwirklichte


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