All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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und ein Jahr später ebenso einsilbig um ihre Hand anhielt. Gitte begriff nicht, was Therese zu Emil und seiner Verschlossenheit hinzog, und als beste Freundin fragte sie natürlich nach. »Sieh ihn dir doch an«, antwortete Therese daraufhin mit funkelnden Augen, »einen besseren werde ich nicht finden!«

      Gitte schüttelte den Kopf, führte vorsichtig ein paar Bedenken ins Feld, unterließ es aber, als sie merkte, dass kein Wort der Welt die Kraft gehabt hätte, Therese umzustimmen. Vielleicht besaß Emil ja eine Seite, die Gitte nicht kannte und die er nur der Frau zeigte, die er zum Traualtar führen würde.

      Therese war eine bildhübsche Braut und schwebte auf einer rosafarbenen Wolke, als sie schon bald darauf erfuhr, dass sie schwanger war. Doch das Schweben währte nur kurz. Denn mit der Geburt der kleinen Selma kehrte der Alltag in der Mühlenwohnung ein. So nannten sie ihr Fünf-Zimmer-Domizil im zweiten Stock des Hauses, das Emil gekauft hatte und in dessen Parterre sich die Apotheke befand.

      Selma entwickelte sich zu einem Kind, das kaum schlief, dafür umso mehr schrie. Emil, dem dies zu schaffen machte, floh frühmorgens treppab in die Apotheke und kehrte erst am Abend wieder zurück. Therese kam es vor, als sei sie innerhalb kurzer Zeit in ein anderes Leben geraten. In eins, das sie sich nicht ausgesucht hatte. Dabei hatte sie »Ja« gesagt zu diesem Leben, laut und deutlich, und ihr Herz hatte dabei gehämmert wie verrückt. Sie wusste, dass sie von vielen jungen Frauen im Dorf um den Platz an der Seite von Emil Molander beneidet wurde. Ein attraktiver, wohlhabender Mann. Eine gut gehende Apotheke, die er schon bald übernehmen würde. Eine große Wohnung direkt darüber. Auto, Schwarz-Weiß-Fernseher, Waschmaschine. Ein hoher Lebensstandard für die damalige Zeit, Anfang der Sechziger. Und nun sah Therese dabei zu, wie der einst geträumte Traum trotz aller Annehmlichkeiten Tag für Tag mehr auseinanderbrach. Daran änderte auch der neue vier Meter lange Perserteppich nichts, den Emil eines Tages im Flur ausrollte, oder das achtzehnteilige Kaffeegeschirr aus feinstem Porzellan, das er Therese am Morgen ihres dreiundzwanzigsten Geburtstages in einem riesigen Karton stolz auf den Küchentisch stellte. Sie hatte alles, wovon andere Frauen träumten. Und wovon Emil glaubte, dass sie es brauchte. Doch gleichzeitig fühlte es sich an, als habe sie nichts.

      Die Abende verbrachte Emil grundsätzlich lesend in seiner Bibliothek, nachdem er die Tageseinnahmen gezählt und in der Schublade seines Sekretärs verschlossen hatte. Meistens war es nach Mitternacht, wenn er im Dunkeln ins Schlafzimmer getappt kam. Therese stellte sich schlafend, weil sie ihre Tränen vor ihm verbergen wollte, und sie weinte still in sich hinein, ohne dass er es bemerkte. Einmal im Monat rollte Emil sich zu ihr herüber, forderte stumm den Beischlaf ein, und Therese lag unter ihm, ließ ihn gewähren und starrte mit offenen Augen an die im Dämmer liegende Schlafzimmerdecke, während nebenan die kleine Selma schrie.

      Mit Wehmut trauerte sie der Zeit nach, in der sie unbeirrbar daran geglaubt hatte, dass die Liebe zwischen ihr und Emil beständig wachsen würde, und sie fragte sich, warum er jetzt, nachdem sie die Mutter seiner Tochter geworden war, das Interesse an ihr verlor. Sie fing an, eine Mauer um sich herum zu errichten, sie gedieh beständig und war der einzige Schutz, den Therese zur Verfügung hatte.

      So wuchs Selma mit einem Vater auf, der sie zwar mit materiellen Bequemlichkeiten versorgte, es aber nicht fertigbrachte, eine Bindung zu ihrer kleinen Seele herzustellen, und mit einer Mutter, die ein Bollwerk um sich herum erschuf, um die innere Einsamkeit ertragen zu können.

      7

      Selma

      Drei Tage waren vergangen, seit Janes Brief sie erreicht hatte. Ein einziges Mal hatte sie ihn gelesen und ihn anschließend über der Toilettenschüssel mitsamt dem Kuvert kurz und klein gerissen. Sie hatte zugesehen, wie die Schnipsel ins Wasser gerieselt und kurz darauf in der städtischen Kanalisation verschwunden waren. Ein Anflug von Erleichterung hatte sie durchströmt. Aber sie dauerte nicht an. Keine Stunde verging, in der Selma nicht von einem durch den Brief geweckten Erinnerungsfetzen eingeholt wurde.

      Entschieden setzte sie sich zur Wehr, so wie die Jahre es sie gelehrt hatten. Sie beherrschte wirksame Strategien zur Zerstreuung, die sie einsetzte, sobald die Bilder der Vergangenheit in ihr Alleinsein einbrachen. Schuhe eigneten sich hervorragend, Handtaschen, Schmuck, das fünfundzwanzigste Paar Ohrringe, eine schicke Bluse oder gleich zwei, farblich passende Unterwäsche, alles vom Feinsten, Seide, Leinen, echtes Leder, zwischendurch ein Espresso, zwei bis drei Gläser Prosecco und dazu ein paar Zigaretten. Aber wenn sie am Ende die Einkaufstüten nach Hause trug und ihren Inhalt um sich herum verteilte, meist auf dem Eichenparkett im Wohnzimmer zwischen dem Glastisch und der Teakholz-Skulptur, und erwartungsvoll ihre Blicke darüber hinweg glitten, überfiel sie stets aufs Neue das Gefühl einer bodenlosen Leere.

      Dieses Mal war es anders. Janes Worte ließen sich nicht betäuben, nicht einmal kurzfristig. Sie wirkten nach. In einer Heftigkeit, die Selma nicht einordnen konnte und die einem Kaufrausch standhalten würde. Obwohl sie den Brief sofort unschädlich gemacht hatte, spürte sie die Macht, die er weiterhin unterschwellig ausübte. Dass er imstande war, alles, was sie einst verbannt und seither nicht mehr angetastet hatte, auf eine so beunruhigende Weise aus dem Dunkel zu zerren, quälte sie am Tag und noch mehr in den Nächten, in denen sich der Schlaf nicht einstellen wollte.

      Sie wälzte sich auf die Seite und drückte auf den Dimmer ihres Weckers. Zwei Uhr dreiundvierzig. Sie hatte noch keine Sekunde geschlafen, seit sie vor drei Stunden zu Bett gegangen war. Der Dimmer erlosch. Sie fühlte sich wie gerädert. Im Dunkeln zog sie die Nachttischschublade auf, tastete nach der Schachtel, die sich darin befand, öffnete sie und drückte eine Tablette aus dem Blister. Während sie sie zwischen die Lippen schob, griff sie nach der Flasche neben ihrem Bett. Routinierte Handgriffe, zahllose Male ausgeführt. Mit einem Schluck Wasser spülte sie die Tablette herunter. Ohne die Lampe einzuschalten, tappte sie auf bloßen Füßen die schmale Wendeltreppe herunter in die Küche. Die Straßenlaternen warfen ihr milchiges Licht durch die Fenster in die Maisonettewohnung, in der sie seit etlichen Jahren lebte. Dreiundneunzig Quadratmeter auf zwei Etagen waren kein Vergleich zu dem großen Haus in Stadtrandlage, das sie mit Lutz bewohnt hatte. Die Wohnung war eine Notlösung gewesen, aber eine Scheidung erforderte Kompromisse, und dieser hatte Selma nicht wehgetan.

      Im Halbdunkel fand sie, wonach sie suchte. Zwischen Kaffeemaschine und Cerankochfeld ertastete sie das angefangene Päckchen und ihr Feuerzeug. Im Gehen zündete sie sich eine Zigarette an. Sie stieß den Rauch aus, der sich in hellen Schlieren unscharf im Dämmerlicht verteilte. Selma öffnete die Tür zum Balkon und trat nach draußen. Sie sank in die weichen Polster einer der beiden Korbstühle, die nackten Beine übereinander geschlagen. Die Nachtluft strich ihr kühl über die Haut. Kaum ein Geräusch war zu vernehmen. Der seit ein paar Tagen blühende Rhododendron in der Ecke verströmte einen schwachen Duft. Irgendwo in einer Seitenstraße startete jemand ein Motorrad, es verklang, und wieder war alles still. Selma zog an der Zigarette. Sie blickte in den Himmel, der sternenklar war. Ablenken. Sterne zählen. Sie konzentrierte sich auf die winzigen leuchtenden Punkte, deren Namen sie nicht kannte. Nie hatte sie sich für Sternbilder interessiert oder für Sternzeichen und ihre Aszendenten. Horoskope waren Humbug, sie glaubte nicht an solchen Hokuspokus. Sie gähnte, blies den Rauch aus, legte den Kopf zurück ins Polster.

      Geht die Abendsonne schlafen,

      kommt der Sternanzündemann.

      Und der steckt die vielen Sterne

      hoch am dunklen Himmel an.

      Mit einem Ruck hob sie den Kopf. Wie erstarrt hielt sie inne, lauschte den Worten, die aus einem Versteck in ihrem Inneren aufgestiegen und ohne Ankündigung in ihren Geist eingebrochen waren. Das Gedicht vom Sternanzünder. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie es nicht mehr gehört oder gelesen, geschweige denn aufgesagt! Einem Widerhall gleich klangen die ersten Gedichtzeilen in ihren Ohren nach. Selma versuchte, sich zu entspannen, indem sie ein letztes Mal an ihrer Zigarette zog und den Rauch tief einatmete. Den Stummel drückte sie im Ascher aus, der Tag und Nacht auf der Fensterbank stand. Es war Maschas Gedicht, aber sie hatten es alle drei auswendig aufsagen können. An den Abenden auf Rømø, wenn Tante Gitte ihnen erlaubt hatte, bis zum Einbruch der Dunkelheit auf der Veranda zu sitzen, nachdem das Feuer heruntergebrannt war und sie unter den Blicken ihrer Tante mit Stöcken in der Glut stochern durften. An einem solchen


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