All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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      Miquel streckte seine Hand nach ihr aus, während er sich erhob und die letzten Zeilen las. Mascha trat auf ihn zu und ergriff sie. Sie widerstand dem Verlangen, sich ihm weiter zu nähern, sich an ihn zu schmiegen, sich von ihm halten zu lassen. Ihre Hand in seiner, das war gerade noch zu verantworten. Als er geendet hatte, stieß er einen leisen Pfiff aus.

      »Eine furchtlose Schwester«, sagte er. Er reichte Mascha den Briefbogen zurück.

      »Das ist sie«, erwiderte sie. »Sie macht einen Schritt, den keine von uns in all den Jahren fertiggebracht hat.«

      »Was treibt sie wohl dazu?«, fragte Miquel.

      »Mich machen ihre Worte von diesem besonderen Zeitpunkt nachdenklich«, sagte Mascha. »Vielleicht steckt sie in einer Lebensphase, in der sie vieles hinterfragt, die Art, wie sie ihr Leben lebt, was sie daraus macht, was noch kommt oder auch nicht.«

      Aus schmalen Augen sah er sie an. »Fährst du hin?«

      Mascha zögerte. »Ich müsste spontan ein paar Tage Urlaub nehmen. Pfingsten steht vor der Tür. Im Laden herrscht Hochbetrieb. Dreisam wird mir was husten.«

      »Vielleicht wäre es klug, das Wochenende abzuwarten.«

      Sie nickte, senkte den Blick, sah, wie ihre Finger einander berührten, freigaben, sich wiederfanden, sich streichelten. Ein zärtliches Spiel, von dem sie nicht genug bekam.

      »Wo steht das Sommerhaus deiner Tante?«, fragte Miquel.

      Mascha hob den Kopf. »Auf einer wunderschönen kleinen dänischen Insel«, antwortete sie. »Ich war lange nicht dort, eigentlich nie wieder seitdem. Anfangs hatte ich immer vor, mit meiner Familie einmal hinzufahren, meinen Kindern zu zeigen, wo ich früher meine Ferien verbracht habe, mit ihnen am Strand Drachen steigen zu lassen und Muscheln zu sammeln. So wie ich es als Kind dort getan habe.«

      »Warum hast du nicht?«

      »Ach … es wäre zu kompliziert gewesen, es zu erklären.«

      »Deinen Kindern?«

      Sie rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Nein. Oliver natürlich.«

      »Macht die Vergangenheit dir Angst?«, fragte er.

      Mascha legte ihren Kopf in den Nacken und seufzte hörbar auf. »Manchmal ist es besser, die Dinge ruhen zu lassen«, sagte sie ausweichend.

      »Bereust du es?«, fragte er.

      »Dass ich nicht mehr dort war?«

      Er nickte.

      »Nein. Oliver hätte das nicht unterstützt, es hätte mit Sicherheit einen Riesenstreit gegeben. Er hat sich nach Papas Tod sehr respektlos Selma und Jane gegenüber geäußert. Auch an Tante Gitte ließ er kein gutes Haar. Mit Selma sprach er schon vor unserer Hochzeit nur das Nötigste. Wenn ich ihn danach fragte, wich er aus. Ich vermute, die beiden hatten einmal eine Auseinandersetzung, die in großem Schweigen endete. Als Selma und Tante Gitte den Kontakt zu mir einstellten, bestätigte das nur seine Ansichten über sie. Und ich musste gestehen, dass ich enttäuscht und tief gekränkt war. Ein Besuch auf Rømø hätte all das geweckt, viele Fragen aufgeworfen und Diskussionen mit sich gebracht.«

      »Was heißt das, du warst enttäuscht und gekränkt?«

      »Selma hatte uns nach Papas Tod, noch am Tag seiner Beisetzung, deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Zeit braucht, um endlich ihr Leben zu leben und wir dabei Hindernisse sind. So hat sie es genannt! ›Ihr hindert mich daran, mein eigenes Leben zu leben …‹, das waren ihre Worte. Ich wollte mit ihr darüber sprechen, ich wollte es verstehen. Aber sie ließ es nicht zu. Selma und ich …« Sie stockte und suchte nach Worten, bevor sie den Satz beendete. »Es war nie besonders harmonisch zwischen uns.«

      »Und warum hast du auch deine jüngste Schwester nie wiedergesehen?« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Brief in Maschas Hand.

      »Ach, das war alles sehr unschön. Und irgendwie auch rätselhaft. Meine Tante, bei der Jane zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre lebte, rief ein paar Tage nach Papas Beisetzung an. Sie wollte mich sprechen, aber ich war mit Judith beim Kinderarzt, die Kleine hatte am Tag der Beerdigung schon eine heftige Mittelohrentzündung. Tante Gitte teilte Oliver mit, dass sie mit Selmas Entscheidung ganz froh sei, denn nun wolle auch sie Zeit finden für ihr eigenes Leben. Meine Tante hatte bis zu diesem Zeitpunkt unglaublich viel für meine Familie getan. Sie ließ mir über Oliver ausrichten, dass Jane künftig im Ausland arbeiten würde, weil sie sich nicht länger mit den Katastrophen unserer Familie belasten wolle.«

      »Per què? Das ergibt keinen Sinn!«, erwiderte Miquel. »Eine Familie hält zusammen, gerade in Krisenzeiten. Hast du nicht selbst noch einmal mit deiner Tante gesprochen?«

      Mascha schüttelte den Kopf. »Ich wollte sie zurückrufen, nachdem Oliver mir alles erzählt hatte. Aber es hat so wehgetan, weißt du? Ihre Reaktion hat mich maßlos enttäuscht. Es war, als sei in mir eine Tür zugeschlagen, die ich nicht mehr öffnen wollte. Und Oliver hat mich damals auch nicht gerade ermutigt, es noch einmal mit einem Gespräch zu versuchen.«

      »Aber jetzt hast du eine Einladung in der Hand.«

      Mascha senkte den Kopf und betrachtete den Brief. »Ja, eine Einladung, um meine Schwestern wiederzufinden.«

      »Und anscheinend auch deine Tante.«

      Sie nickte.

      »Willst du es?«

      Mascha ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie dachte an Oliver, an seine mögliche Reaktion, an die Falten auf seiner Stirn, die stets erschienen, wenn er etwas nicht für richtig hielt, an seine messerscharfe Kritik, die er mit Argumenten untermauerte, denen Mascha nichts entgegensetzen konnte.

      »Princesa, du solltest lernen, dich nicht so abhängig von seinem Urteil zu machen.«

      »Warum sagst du das?« Sie entzog ihm ihre Hand und bereute es im gleichen Moment. Ungeduldig zupfte sie an einer Ecke des Briefes.

      »Weil es so ist!«, erwiderte er. »Hör dir doch zu! Du hast dir gewünscht, deinen Mädchen diese Insel zeigen zu können, du wolltest einen Teil deiner eigenen Kindheit an sie weitergeben. Was für ein wunderschöner Gedanke! Aber du hast die Konfrontation mit der Vergangenheit gescheut, und du bist auch jetzt wieder im Begriff, es zu tun! Als bräuchtest du seine Zustimmung!«

      Mascha stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Es blieb mir damals nichts anderes übrig, als die Entscheidung meiner Schwester und meiner Tante zu akzeptieren! Was würdest du denn tun, wenn jemand zu dir sagt: ›Bitte geh jetzt, ich will mein Leben ohne dich leben?‹«

      »Du hast dich gefügt«, sagte Miquel. Er zog Mascha wieder zu sich heran.

      »Ach, Miquel, es liegt so lange zurück, und jetzt ist plötzlich alles wieder da. Wie ein Bild, das übermalt wurde, weißt du? So etwas gibt es doch. Wenn man die obere Schicht ablöst, tritt darunter ein anderes Motiv zutage. Ich fühle mich gerade so, als ob jemand mich eingeladen hat, die obere Schicht eines Bildes abzulösen, um zu schauen, was darunter ist.«

      Maschas Schultern sanken herab. Sie ließ es zu, dass er einen Arm um sie schlang und ihr eine Locke aus der Stirn strich.

      »Was möchtest du?«, fragte er sehr leise. »Ich meine, willst du hinfahren? Willst du es wirklich?«

      Sie überlegte nicht. »Ja«, antwortete sie fest. »Ich möchte sie wiedersehen.«

      Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und schloss die Augen, als seine Lippen sanft ihre Wange berührten, ihren Hals, ihr Ohrläppchen. »Ich will ihnen verzeihen«, flüsterte sie. Seine Zärtlichkeit ließ ihren Widerstand bröckeln. »Ich will es wirklich.«

      Als sie später die Haustür aufschloss, hörte sie aus der Küche die Stimme ihrer jüngsten Tochter Kat, die offensichtlich mit ihrem Vater stritt. Zwei Kampfhähne in der Arena – Oliver und sein krankhafter Drang, jede Situation kontrollieren zu wollen, gegen Kat mit ihrem unbändigen Bedürfnis nach Unabhängigkeit.

      Mascha


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