All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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      »Und sie erlaubte nur ihren beiden ältesten Töchtern, mit Ihnen zu verreisen?«

      »Zuerst ja, aber das ist eine andere Geschichte«, antwortete Gitte mit einem heftigen Kopfschütteln, als könne sie damit die Erinnerungen an die unliebsamen Auseinandersetzungen mit ihrer Freundin vertreiben. »Mir wird gerade bewusst, wie lange wir beide uns tatsächlich bereits kennen, Torolf.«

      »Sie wollen sagen, wir sind gemeinsam gealtert?« Er zwinkerte ihr zu.

      »Wenn ich schon keinen eigenen Mann habe, mit dem ich altern kann, dann wenigstens einen dänischen Cafébesitzer, der sich dazu bereit erklärt, es mit mir zu tun.« Sie lachten, und eine Woge des Wohlbefindens durchströmte Gitte. Wie erfrischend es sich anfühlte, über etwas so Albernes und Profanes zu lachen! Aber es dauerte nur einen Moment. Schon schlug ihre Ausgelassenheit um, und der Ernst kehrte zurück.

      »Es sieht so aus, als kenne ich Sie lange genug, um Ihre Frage zu beantworten«, sagte sie. »Nicht jedem würde ich etwas über Jane erzählen. Aber bei Ihnen ist es anders. Was möchten Sie wissen?«

      »Was ist sie für ein Mensch? Ist sie ebenso liebenswert wie ihre Tante?« Sein Blick ruhte auf Gittes Gesicht, und sie erwiderte ihn, obwohl sich in ihrem Inneren eine Welle der Unsicherheit ausbreitete.

      Gütiger Himmel, wann hat mich zum letzten Mal ein Mann so angesehen? Dass sie plötzlich eine Verlegenheit verspürte, die sie gern vor ihm verborgen hätte, konnte nur an dem strahlenden Blau seiner Augen liegen, die er nicht von ihr abwandte.

      »Torolf, lassen Sie das Süßholzraspeln, damit kommen Sie bei mir nicht weiter!« Im Stillen hoffte sie, er möge ihr ihre schroffe Art nicht übelnehmen. Bitte entschuldigen Sie, aber ich kann nicht anders, hätte sie gerne kleinlaut hinzugefügt und ihm erklärt, dass ihre etwas patzig klingende Antwort nichts weiter als ein unsichtbarer Schutzmantel gegen die plötzliche Seelenblöße war.

      »Dachte ich mir, bitte entschuldigen Sie.« Dass er sie dennoch weiter anlächelte und seine Augen dabei noch blauer wirkten – jedenfalls schien es Gitte so – trug nicht gerade dazu bei, ihre Verlegenheit zu bezwingen. Sie rief sich zur Ordnung, streckte die Schultern, trank von ihrem Cappuccino. Wechsele das Thema, erzähl ihm was über Jane …

      »Lange habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob Jane überhaupt ein fröhliches, lebensfrohes Mädchen werden kann.« Sie hielt die Tasse in beiden Händen, während sie sprach. Die Verlegenheit zog davon, Gitte atmete innerlich auf.

      »Ich habe alles dafür getan, ihr eine normale Kindheit zu schenken. Kindertheater, Ballettstunden, Geburtstage im Schwimmbad, ein Indianerzelt im Garten, Rollschuhe im Sommer, Schlittenfahren im Winter … Sie wissen schon, alles, was Kinder mögen. Die ersten Jahre, in denen ich sie bei mir hatte, war das kaum möglich. Sie zog sich häufig zurück, sprach stundenlang nicht mit mir, und ich hörte ihr Schluchzen durch die geschlossene Tür. Ich sorgte mich, etwas falsch zu machen, aber es konnte passieren, dass sie Stunden später wie ausgewechselt war und ich wieder Hoffnung schöpfte. Ich unterrichtete an einem Mädchengymnasium und hatte nach der Schule zu korrigieren und den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten. Ich zerriss mich in diesen Jahren beinahe, um Jane und mir selbst gerecht zu werden.

      Sie und ich, wir haben eine sehr innige Verbindung. Enger könnte sie zwischen Mutter und Tochter nicht sein. Sie war zehn, als ich sie zu mir nahm. Ich habe sie damals durch die schlimmste Zeit ihres Lebens begleitet. Zumindest dachte ich, dass es schlimmer nicht werden könnte.« Sie unterbrach sich, hob mit beiden Händen die Tasse an die Lippen und trank einen Schluck. »Ich hatte den Krebs nicht eingeplant, nicht die kräftezehrende Prozedur der Chemotherapien, nicht die Hautverbrennungen nach den Bestrahlungen, nicht die Schmerzen und nicht die Sprachlosigkeit zwischen uns, als der Krebs nach nicht einmal zwei Jahren zu Jane zurückkehrte und sich herausstellte, dass er nicht alleine war, sondern multiple Rundherde im linken Lungenflügel bei sich hatte, wie es im Befund hieß.«

      Das Pärchen am Nachbartisch gab seine Bestellung auf. Gitte sah, wie die Hand des Jungen sich sanft in den Nacken seiner Freundin legte und von dort langsam über ihr Haar glitt. Ob es jemanden in Janes Leben gab, der sich danach sehnte, seine Hand in ihrem Haar vergraben zu können? Dem sie erlauben würde, sie ohne ihre bunten Tücher oder ihre Kappe anzusehen? Dem sie voller Stolz ihre flaumigen, neuen, schneeweißen Haarbüschel präsentieren würde, ohne sich zu schämen? Das Telefonat von vorhin fiel ihr wieder ein. Es hatte, vor allem am Ende, von großer Vertrautheit gezeugt.

      »Fröhlich und ausgelassen war Jane nie«, fuhr sie fort. »Ihr haftete immer etwas Ernstes und Nachdenkliches an, schon als Elfjährige machte sie einen viel reiferen Eindruck als ihre Schulkameradinnen. Sie begann sehr früh, Bücher zu lesen. Keine Kinderbücher wie andere Mädchen in ihrem Alter. Sie liebte Klassiker, verschlang Romane von Jane Austen, von der sie ihren Namen hat. Kennen Sie Jane Austen?« Gitte bemerkte sein Nicken, aber er sagte nichts, und so sprach sie weiter. »Mein Halbbruder hat seinen Töchtern die Liebe zur Literatur vermittelt, wenigstens das ist ihm gelungen. Er bestand darauf, ihnen die Vornamen bekannter Schriftstellerinnen zu geben, ist das nicht verrückt? Bei den ersten beiden willigte Therese ein, aber mit Jane konnte sie sich nicht anfreunden, es klang ihr zu britisch, zu neumodisch, sie weigerte sich hartnäckig. Deshalb einigten sie sich darauf, Janes Namen einzudeutschen und ihn so auszusprechen, wie er geschrieben wird, woran mein Bruder sich allerdings dann nicht hielt. Wenn er Jane rief, dann stets in der englischen Version, und eines Tages übernahm sie es von ihm. Erst nachdem ihr Vater gestorben war, legte sie das wieder ab.«

      »Dann sind Sie eine Mutter für Jane geworden?«

      »Es schien uns in den Jahren dieser Tragödie um Therese die einzige Lösung zu sein, Jane zu mir zu nehmen. Selma und Mascha waren junge Heranwachsende, sie hatten in dieser Zeit genug mit sich selbst zu tun. Gerade für Selma, die eine fast krankhafte Hilfsbereitschaft an den Tag legte und die rund um die Uhr die Versorgung ihrer Mutter übernommen hatte, war es wichtig, sich nicht auch noch in der Verantwortung für ihre jüngste Schwester zu sehen.« Sie bemerkte Torolfs fragenden Blick. Natürlich. All die Andeutungen … Wie sollte er Zusammenhänge herstellen, wenn sie ihm nur Fragmente der vertrackten Familiengeschichte verriet? Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um auf den Grund der Vergangenheit zu tauchen und auszugraben, was seit Jahren dort ruhte. Eines Tages würden die Erinnerungen und mit ihnen all die verborgenen, ungesagten, geheim gehaltenen Dinge ans Licht gelangen, spätestens bei Selmas und Maschas Eintreffen auf Rømø. Gitte zweifelte nicht daran, dass vor allem Selma, die den Kontaktabbruch erzwungen hatte, eine Last ungeahnter Schwere auf der Seele trug. Doch auch Gitte hütete ein Geheimnis. In einem dunklen Winkel ihres Herzens, von dessen Vorhandensein niemand wusste. Nicht einmal Jane.

      »Ich habe keine eigenen Kinder«, beeilte sie sich zu sagen, weil sie spürte, dass ihre Gedanken sie wie in einem Strudel hinabzuziehen drohten. »Insofern war Jane ein Geschenk für mich, die Tochter, die ich nie hatte. Sie wird es immer sein.«

      Ihre Blicke begegneten einander über die Cappuccinotasse hinweg, die Gitte mit auf den Tisch aufgestützten Ellenbogen in beiden Händen hielt. Sie sagten nichts, ließen die Bilder, die durch Gittes Worte in ihren Köpfen entstanden waren, davontreiben, und jetzt erst nahm Gitte die Geräusche um sich herum wieder wahr, das Klirren von Gläsern, das Kichern des Mädchens am Nachbartisch, das Brummen der Espressomaschine im Hintergrund.

      »Was für eine starke Frau Sie sind!« Es klang nicht anbiedernd, nicht pathetisch. Im Gegenteil. Gitte fühlte, dass die Worte tief aus Torolfs Herzen kamen, weshalb sie sie stumm mit einem Lächeln annehmen konnte. Er kannte den dunklen Winkel in ihrem Herzen nicht. Sie schob die Erinnerung daran beiseite. Torolf erhob sich und rückte den Stuhl an den Tisch.

      »Fühlen Sie sich eingeladen, Gitte. Der Cappuccino geht aufs Haus.«

      Was für ein Tag! Schmerzen im Sitzen, im Liegen, beim Gehen. Mein rechtes Bein fühlt sich seit Stunden taub an, und ich kann nicht mal den Fuß vernünftig anheben, er schleift über den Boden, als gehöre er nicht zu mir. Ich vermute, es sind die Scheißmetastasen, die aufs Rückenmark drücken und die Nerven ärgern. Das sind die Momente, in denen ich unsagbare Angst vor einer Lähmung habe, Querschnitt, eine Horrorvorstellung! Wie soll ich das schaffen?


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