All die ungelebten Leben. Michaela Abresch
Jahre. Wäre er hier auf dem Waldfriedhof begraben worden, hätte sie wahrscheinlich dieser Tage eine Mitteilung der Friedhofsbehörde erhalten, in der man sie höflich auf den Ablauf der Liegedauer hingewiesen und darüber informiert hätte, dass die Grabstelle vor dem Winter aufgelöst und neu vergeben würde. Mascha seufzte. Die Erinnerungen zerrten an ihr. Mama. Ihre Grabstätte existierte schon etliche Jahre nicht mehr. Mascha erinnerte sich nicht einmal daran, wie das Grab ihrer Mutter ausgesehen hatte, so selten war sie dort zu Besuch gewesen. Und stets hatte sie mit einem namenlosen Gefühl dagestanden, mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Pflichtgefühl und einer seltsamen Art von Dankbarkeit, dass ihre Tante Gitte sich der Pflege des Grabes angenommen hatte. So war Mascha nicht gezwungen gewesen, den Platz eines Menschen in Ordnung zu halten, der in ihrem Herzen nichts als Unordnung hinterlassen hatte.
Sie entfernte die vertrockneten Blütenköpfe der Margeriten und platzierte die Schale mit den Vergissmeinnicht auf dem Sockel zwischen den bloßen Füßen des Engels. Dann setzte sie sich, wie in jedem Jahr, auf die von Sonne und Regen verwitterte Bank, die nur wenige Schritte entfernt stand und von der aus sie den Engel im Blick behalten konnte. Mitunter kam es ihr vor, als sei diese Bank eine Schwelle, die es ihr ermöglichte, in eine andere Zeit zu gelangen. In eine Zeit, in der sie eine Schwester gewesen war. Eine Tochter. Eine Nichte. Möglicherweise nahm sie nur deshalb jedes Mal hier Platz. Und möglicherweise suchte sie nur deshalb jedes Jahr an Emil Molanders Sterbetag den Steinengel auf. Um sich für eine Weile zu erinnern, wie es gewesen war.
Der Tag seines Begräbnisses. Ein ungewöhnlich heißer Tag Ende Mai, die Sonne hatte auf die schwarz gekleidete Schar der Hinterbliebenen herabgebrannt. Sie selbst war schwanger mit Kat gewesen, wie der Test ein paar Tage vorher gezeigt hatte, aber die Bestätigung vom Gynäkologen hatte noch ausgestanden. Judith, gerade zwei geworden, hatte während der Beisetzung unablässig gequengelt und sich unruhig in Maschas Armen gewunden, nicht vor Traurigkeit, weil ihr Opa gestorben war, sondern wegen einer beginnenden Mittelohrentzündung, wie sich tags darauf beim Kinderarzt herausgestellt hatte. Damals hatten Mascha und Oliver noch in Lahnstein gewohnt und daher eine fünfstündige Fahrt nach Nordenham zurücklegen müssen, wo Emil Molander dank der einsamen Entscheidung seiner ältesten Tochter beigesetzt worden war. Die Fahrt war eine Tortur gewesen. Für Judith wegen der Ohrenschmerzen. Für Mascha, weil sie stundenlang damit beschäftigt gewesen war, ihr quengelndes Kind zu beruhigen. Und für Oliver, der sich auf den Verkehr hatte konzentrieren wollen und dem das Jammern seiner Tochter auf die Nerven gegangen war.
Inzwischen war Judith zweiundzwanzig und ohne Erinnerung an ihren Großvater Emil. Er war unsichtbar für sie gewesen, unnahbar, unerreichbar.
Mascha erinnerte sich, wie verlassen sie sich während der Beisetzung gefühlt hatte, neben ihren Schwestern, neben Oliver, neben Tante Gitte und den wenigen anderen, die sich Emil Molander nach den Jahren seines langsamen Abschieds aus der Welt noch immer so verbunden gefühlt hatten, dass sie die Fahrt in den Norden Deutschlands auf sich genommen hatten. Jeder trauerte auf seine Weise, die einen mehr, die anderen weniger. Seine Töchter gehörten zu letzteren. An jenem Tag zerbröselte der letzte Rest Mörtel, der die Familie zusammengehalten hatte. Tief grub sich eine Sprachlosigkeit zwischen die drei Molander-Mädchen, die noch immer anhielt.
Bis heute war Mascha in der Lage, sich den Anblick ihrer Schwester Selma mit dem zu einer Maske versteinerten Gesicht am Tag des Begräbnisses ins Gedächtnis zu rufen. Tadelloses Äußeres, wie immer. Schwarzes, figurbetontes Kleid, Pumps und Handtasche einer teuren Modemarke und ein Mann an der Seite, der ihr all dies ermöglichte. Aber Selmas stumpf blickende Augen und die zusammengepressten Lippen hatten nicht darüber hinwegtäuschen können, dass die nach außen getragene Makellosigkeit ein Trugbild war und sie darunter etwas verbarg, das sie niemandem preisgab. Wahrscheinlich hatten die meisten Anwesenden Selmas Züge als Ausdruck der Trauer gedeutet. Damit hätte wenigstens eine Tochter des Apothekers Molander den gesellschaftlichen Erwartungen entsprochen, darin war Selma ohnehin die Geübteste.
Mascha aber war damals schon von dem untrüglichen Gefühl beschlichen worden, dass da noch etwas anderes sein musste, etwas, das Selma in sich verschlossen hatte. Wie sonst war ihr Rückzug von der Familie zu erklären, der von ihr herbeigeführte Bruch zwischen den Schwestern, sobald der Vater unter die Erde gebracht worden war?
Nach der Beisetzung waren die Trauergäste in Stille auseinandergegangen – dies hatte Emils Halbschwester Gitte verfügt, weil es dem Wesen des Verstorbenen am ehesten entsprochen hatte. Und so waren auch Selma, Jane und Mascha in Stille auseinandergegangen. In einer schwarzen beklemmenden Stille, die sie in all den Jahren nicht zu unterbrechen gewagt hatten.
Keine von ihnen war daran interessiert gewesen, das Elternhaus zu behalten, das sie zu gleichen Teilen geerbt hatten, weshalb Selma einen Makler mit dem Verkauf betraut hatte. Die Formalitäten wurden per Post erledigt und die Verkaufssumme gedrittelt.
Mascha hatte nicht um ihren Vater weinen können. Weder am Tag seines Todes, als er so still, wie er gelebt hatte, gegangen war, noch als man den Eichensarg mit dem Lilienbukett in die schwarze Tiefe herabließ, und auch später nicht.
Ein Geräusch ließ Mascha zusammenzucken, sie wandte sich um, aber es war niemand zu sehen. Sie schalt sich eine Verrückte, weil sie in ihren Erinnerungen gegraben und sich ihnen hingegeben hatte, als habe sie alle Zeit der Welt. Hastig sprang sie auf. Wenn sie sich beeilte, würde sie zuhause rasch ihr T-Shirt wechseln und ihre Mähne bändigen können. Im Gehen dachte sie an Miquel. An sein Lachen, das Funkeln in seinen Augen, wenn er sie im Kurs mit seinem katalanisch gefärbten »Bona tarda, princesa« begrüßte.
»Nur einer princesa ist es erlaubt, sich zu verspäten«, sagte er oft, wenn sie als Letzte erschien, und während um sie herum alle über seine Bemerkung witzelten, bemühte Mascha sich jedes Mal, die aufflammende Röte zu verbergen, die ihr in die Wangen schoss.
Noch immer war es ihr unerklärlich, warum sie sich in Miquels Gegenwart aus einer abgenutzten Haut zu schälen schien, unter der die schillernden Farben der wahren Mascha zum Vorschein kamen. Niemand außer Miquel hatte diese Farben jemals gesehen, nicht einmal der Mann, mit dem Mascha seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet war.
Die ersten Tropfen fielen nieder, als sie den Friedhof verließ und sich auf ihr Fahrrad schwang.
Durchnässt bis auf die Haut kam sie zuhause an. Die blonden Locken klebten ihr nass an den Schläfen, und ihr T-Shirt schmiegte sich feucht an ihren Oberkörper. Donnerstags arbeitete Oliver länger, weshalb sie einander für gewöhnlich erst nach Maschas Rückkehr vom Zeichenkurs begegneten. Kat war wie üblich um diese Zeit beim Handballtraining, und Judith wohnte seit ein paar Monaten in einer WG in der Nähe der Uni.
Das Haus in Fürstenried hatten Mascha und Oliver vor achtzehn Jahren gekauft und renoviert. Maschas Erbteil vom Verkauf ihres Elternhauses war wie ein warmer Regen für die Finanzierung gewesen.
Sie schob ihr Fahrrad in die Garage und rieb sich die Hände notdürftig an den feucht gewordenen Hosenbeinen trocken. Gewohnheitsmäßig fischte sie, während sie die Haustür aufschloss, die Post mit drei Fingern aus dem Schlitz des Briefkastens. Sie betrat die Diele, ließ ihren Rucksack auf die Fliesen fallen und schlüpfte aus den Schuhen. Auf dem Weg ins Bad glitt ihr Blick über die Kuverts und Reklameblättchen. Rabattaktion beim Optiker, Rechnung von der Autowerkstatt und ein Brief in hellgelbem Kuvert. Eine fein geschwungene, gut leserliche Handschrift, adressiert an Mascha Löwenstein. Auf der Suche nach einer Absenderangabe drehte sie den Brief, doch der Schreiber hatte keine hinterlassen. Wasser tropfte aus ihren Haaren auf den Umschlag. Im Gehen öffnete sie ihn mit dem rechten Zeigefinger. Dabei bemerkte sie, dass der Brief nicht mit einer deutschen, sondern mit einer dänischen Briefmarke frankiert war. Stirnrunzelnd angelte sie nach der Lesebrille, die sie im Badezimmer in ihrer Schublade verwahrte, und schob sie sich auf die Nase. Mit einer Hand griff sie nach dem Frotteehandtuch am Knauf neben dem Waschbecken, mit der anderen entfaltete sie den Bogen Papier.
Liebe Selma, liebe Mascha …
Sie glaubte, ihre Herzschläge in den Ohren zu spüren, während ihr Blick über die Zeilen flog.
»Das ist nicht möglich …«, murmelte sie, sank auf den Rand der Badewanne und saugte die Worte ihrer jüngsten Schwester auf wie ein Schwamm.