All die ungelebten Leben. Michaela Abresch

All die ungelebten Leben - Michaela Abresch


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standen einander gegenüber.

      »Nach zwei bis drei Tagen ohne Essen setzt der sogenannte Hungerstoffwechsel ein.« Mit einem Mal lag eine erschreckende Ruhe in Janes Stimme. Sie klang wie die Krankenschwester bei der Anleitung einer Pflegeschülerin. »Damit der Energieverbrauch reduziert wird. Dann lässt auch das Hungergefühl nach. Was keinen großen Unterschied macht, da ich davon ohnehin nicht mehr viel spüre. Und wenn ich nichts mehr trinke, trocknet mein Körper langsam aus. Ich werde Durst haben und einen trockenen Mund, unsicher auf den Beinen sein, solange ich noch gehen kann, und vielleicht nicht mehr deutlich sprechen. Und irgendwann werde ich müde sein und viel schlafen.« Jane ließ den letzten Satz in ihrem Inneren nachklingen. Müde sein und viel schlafen … Eine beinahe heilsame Vorstellung.

      »Wirst du einen Arzt brauchen?«

      »Ich möchte keinen brauchen müssen.«

      »Das ist keine Antwort, Jane!« Ihr Gespräch verlagerte sich auf eine andere Ebene. Gitte wirkte nun so sachlich wie Jane, doch sie wussten beide, dass dies nur dem Abstecken der Fakten diente, die Gitte brauchte, um sich einen Eindruck vom Umfang des Bevorstehenden machen zu können.

      »Ich möchte nicht, dass ein Arzt kommt«, erklärte Jane. »Ärzte legen eine Nadel in meine Vene und hängen mir Infusionen an. Das ist eine unnötige Verlängerung meines Lebens. Ich habe meinen Willen aufgeschrieben und ihn unterzeichnet. Damit du etwas in der Hand hast und niemand sich darüber hinwegsetzt. Die Leute vom Palliativ-Team sind die einzigen, die ich akzeptiere.«

      Gitte seufzte und nickte gleichzeitig. »Ich bin keine Krankenschwester. Woher weiß ich, was ich tun muss, um alles richtig zu machen?«

      »Indem du nichts anderes tust, als was du in den letzten Jahren immer schon für mich getan hast, wenn es mir schlecht ging. Meinen Mund pflegen, um mir das Durstgefühl zu nehmen, mich sauber und trocken halten, meine Beine und meinen Rücken mit Kissen stützen, mir die Medikamente geben, wenn ich es selbst nicht mehr kann. Und bei mir sein. Nur das. Einfach da sein.«

      Sie unterbrach sich, schwieg, suchte im Gesicht ihrer Tante nach einer Regung, nach Zustimmung, Verständnis, Ablehnung, irgendetwas, das sie hätte einordnen können. »Ich weiß, dass ich etwas Unglaubliches von dir verlange«, fügte sie entschuldigend hinzu, fast im Flüsterton, aber Gitte verstand es. Fest sahen sie einander in die Augen.

      »Wir beide ganz allein, Jane?«

      »Traust du es dir zu?«

      »Und du?« Gitte nahm Janes Hände in ihre. »Traust du es dir zu?«

      Gittes Frage trieb Jane Tränen in die Augen. Sie wehrte sich dagegen, versuchte, sie wegzublinzeln, und drehte ungeduldig den Kopf zur Seite, um ihr Gesicht vor Gitte zu verbergen. Der Garten verschwamm vor ihren Augen. Bleib stark, Jane! Wie konnte sie von ihrer Tante verlangen, was sie selbst nicht aufzubringen vermochte? Gittes Händedruck, warm und fest, wirkte heilsam wie ein tröstender Zuspruch, und er ließ nichts anderes zu, als sich ihr wieder zuzuwenden. Jane spürte, wie ihr innerer Widerstand zerbrach. Sie ließ die Tränen fließen, ohne sich dafür zu schämen.

      »Das Sterben?« Ihre Worte verloren sich in heftigen Schluchzern. »Ja, wenn du bei mir bist, traue ich es mir zu.«

      Schon fand Jane sich in der vertrauten Umarmung ihrer Tante wieder. Die Wärme und der sanfte Druck ihrer Hände übertrugen sich durch die Wolle der Strickjacke hindurch auf ihren knochigen Rücken.

      »Du hast mich gebeten, darüber nachzudenken, bevor ich dir antworte«, hörte sie Gittes Stimme an ihrem Ohr. »Das brauche ich nicht, mein Engel. Ich weiß nicht, was auf uns zukommt, aber wenn es dein Wunsch ist, bin ich für dich da, das weißt du.«

      Da ertönte plötzlich von der Veranda die Abfolge melodischer Laute, die sich gleich darauf wiederholte.

      »Dein Handy«, sagte Jane. Sie hob den Kopf. Gitte löste sich von ihr, stieg die Treppenstufen hinauf, griff nach dem Telefon, das sie auf den Muscheltisch gelegt hatte. Jane wandte sich ab. Der Wind kühlte ihr Gesicht und die brennenden Augen. Sie hörte Gitte in ihr Handy sprechen, ohne Einzelheiten zu verstehen. Gleichzeitig traf sie die Erkenntnis wie ein Blitzschlag.

      Sie fragte sich, wie laut ein Herz hämmern konnte, ohne dass die ganze Insel davon Kenntnis erhielt. Wie zu Stein erstarrt verharrte sie. Die gerade noch empfundene Nähe des so schrecklich greifbar gewordenen Sterbens rückte von beiden Frauen ab. Gitte nickte, sprach, wartete, sprach wieder, lächelte, beendete das Telefonat. Sie warf Jane einen vielsagenden Blick zu.

      »Das war Mascha!« Sie hörte nicht auf zu lächeln und brachte mit ihren Worten Janes Herz zum Hüpfen. »Sie wird in drei Tagen bei uns sein.«

      Vergangenheit

      Als Mascha Molander geboren wurde, war ihre Mutter siebenundzwanzig und bereits geübt darin, die Schwere, die ihr durchs Leben folgte, gekonnt zu verbergen und ein scheinbar gleichmütiges Äußeres zu zeigen. Das unsichtbare Bollwerk, das sie um sich herum errichtet hatte, war ihr ein lebensnotwendiger Schutz geworden, und sie beherrschte das Verstecken dahinter in solcher Perfektion, dass sie allmählich vergaß, wie unbeschwert und leicht und anschmiegsam sie gewesen war, bevor sie »Ja« gesagt hatte.

      Maschas Zeugung war keinesfalls auf einen Akt zärtlicher Verschmelzung zweier Liebender zurückzuführen, sondern nichts weiter als das Ergebnis des monatlichen Beischlafs, nach dem Emil noch immer wortlos verlangte und den Therese seit Jahren ohne eine Regung ertrug.

      Sie hatte es nicht gewollt. Hatte gehofft, Selma bliebe ihr einziges Kind, denn einen weiteren Sprössling der väterlichen Gefühllosigkeit auszusetzen und ihm Mutter und Vater zugleich sein zu müssen, lag für sie jenseits des Vorstellbaren.

      Doch fünf Jahre nach Selma hielt sie erneut einen Säugling in den Armen. Wieder war es ihre Freundin Gitte und nicht Emil, die ihr bei der Geburt beistand. Gemeinsam mit ihr vernahm sie den ersten Schrei des fünfundvierzig Zentimeter kleinen Molander-Mädchens im Kreißsaal. Und wieder war es Emil, der einen Namen für seine Tochter auswählte. Seine Bibliothek und seine Passion für die Literatur boten ihm eine immens große Auswahl, und allein die Hingabe, mit der er nach dem passenden Namen suchte und dass er ihn pünktlich am Tag von Maschas Geburt präsentierte, weckte in Therese die stille Hoffnung, es könne nun alles wie früher werden.

      Als die Hebamme das gesäuberte und in ein gestärktes Moltontuch gewickelte Kind in Thereses Arme legte, nahm diese es mit einem Gemisch aus Zuversicht und Zweifeln an sich und legte es an die Brust. Sogleich begann Mascha zu saugen, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie schmatzte und schluckte in einem fort, dabei lag ihre kleine Hand besitzergreifend auf der Brust ihrer Mutter. Thereses Blick fiel auf das Plastikbändchen am Handgelenk ihrer Tochter, auf dem in Druckbuchstaben der Name MOLANDER stand. Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln, weil sie sich wünschte, Mascha eine gute Mutter sein zu können, aber gleichzeitig fürchtete, zu scheitern, aus Angst, die zwischen ihr und Emil herrschende Kälte auf ihr kleines Mädchen übertragen zu können.

      »Was ist los?«, fragte Gitte, die bei ihr am Krankenhausbett saß und in ihrer Feinfühligkeit längst bemerkt hatte, dass ihre Freundin seit Selmas Geburt die einstmals überschäumende Unbeschwertheit eingebüßt hatte.

      Therese schwieg. Dass sie unter Emils Gefühlskälte litt, hatte sie Gitte gegenüber ein paar Mal erwähnt, aber sobald sich ihre Gespräche auf eine tiefere Ebene verlagerten und Gitte nachfragte, senkte sich die Beklemmung auf Thereses Brustkorb nieder, fest und hart und unnachgiebig, und sie konnte nicht anders, als in ein tiefes Schweigen zu fallen oder nervös das Thema zu wechseln.

      »Ich habe ein Haus gekauft«, sagte Gitte eines Tages, als sie Therese und die Mädchen zu einem Spaziergang abgeholt hatte. Ihre Augen leuchteten, ihre Freude war unübersehbar.

      »Ein Haus?«, fragte Therese. »Was für ein Haus?« Sie schob das schlafende Baby im Kinderwagen vor sich her. Emil hatte einen neuen gekauft, dabei wäre Selmas Kinderwagen durchaus noch zu gebrauchen gewesen. Selma in Matrosenkleidchen und blauen Lackschuhen sprang voraus. Ihre blonden Zöpfe wippten.

      »Ein Sommerhaus, für die Ferien!«, sagte Gitte.

      »Und


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