Mörder kennen keine Grenzen. Horst Bosetzky

Mörder kennen keine Grenzen - Horst Bosetzky


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war nichts mehr zu sehen.

      Ich lief die Treppe hinauf und warf mich keuchend auf meine Liege. Es dauerte zehn Minuten, bis ich wieder normal atmen konnte. Ich stand auf und goss mir einen Weinbrand ein.

      Dann stellte ich das Radio an, setzte mich in meinen Korbsessel und schloss die Augen. Langsam flaute meine Erregung wieder ab. Ich wurde müde. Schließlich hatte ich in den letzten Nächten kaum geschlafen; die Angst hatte mich wach gehalten ...

      Ich schreckte hoch, als sie im SFB die Zehn-Uhr-Nachrichten ansagten. Ich stand auf und wollte zur Toilette gehen.

      Im gleichen Augenblick ging auch Mr. Clowards Tür auf. Im Türrahmen stand der Mann, der mich verfolgt hatte ... Ich schrie gellend; dann wurde es um mich herum neblig und dunkel.

      Ich kam erst wieder zu mir, als mir Muttchen Braatz Baldriantee einzuflößen versuchte. „Sie machen schon Sachen, Herr Ziegenhals – ich muss schon sagen!“

      Es stellte sich heraus, dass der vermeintliche Killer Lai Wadhwani hieß, aus Bombay kam und einer von Mr. Clowards vielen Freunden war. Er hatte Clowards Adresse nicht mehr genau im Kopf gehabt und war mir lediglich gefolgt, um sich bei mir nach dem Amerikaner zu erkundigen. Der Totschläger erwies sich als harmloser Regenschirm ... Ich lachte zwar mit den anderen mit, war aber zutiefst erschüttert, wie weit es schon mit mir gekommen war.

      Natürlich konnte ich auch in dieser Nacht nicht schlafen. Ich verfluchte den Augenblick, in dem ich Kolczyks Plagiat entdeckt hatte.

      Am nächsten Morgen setzte ich mich in das Wartezimmer von Dr. Sievers, einem Praktiker, dessen Schild ich in der Nähe von Kolczyks Villa entdeckt hatte. Er konstatierte fortgeschrittene Funktionsstörungen im vegetativen System.

      „Ganz klar, die Reizschwelle in der Formatio reticularis liegt bei Ihnen viel zu niedrig. Dieses übergeordnete Steuerungszentrum des gesamten Vegetativums reagiert bei Ihnen schon auf jeden Bagatellreiz mit außerordentlicher Heftigkeit. Ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel mit ...“

      Ich bedankte mich für sein Ärztemuster und ließ mir von seiner Gehilfin ein paar Kubikzentimeter Blut abzapfen.

      Noch im Auto schluckte ich die erste der rosafarbenen Pillen. Doch ehe sie ihre Wirkung tun konnte, traf mich der nächste Schock.

      Als ich in mein Zimmer kam, entdeckte ich auf dem flachen Couchtisch einen länglichen Briefumschlag, der zwar meine Anschrift, aber keinen Absender trug. Mir schwante schon nichts Gutes, als ich ihn aufriss. Mit feucht gewordenen Fingern zog ich die Fotokopie eines amtlich aussehenden Schriftstücks heraus ... Englischer Text? Nanu! Erregt überflog ich die Zeilen.

      Sie haben ja den Brief zu den Akten genommen, in dem Charles Emery an Eides statt erklärt hat, Kolczyk habe ihm die Arbeit mit dem Titel ‚Social Change in Pattons Landing> geschrieben. Siegel, Unterschrift – alles vorhanden. Kolczyk hatte also im Endeffekt nur seine eigene Arbeit übersetzt ... Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute war?

      Aus, dachte ich, alles ist aus! Ich hatte verloren, ich war endgültig gescheitert. Das Leben hatte keinen Sinn mehr ...

      In den nächsten Minuten handelte ich wie unter einem inneren Zwang; alles, was ich tat, war schon irgendwann einmal programmiert worden. Vor einiger Zeit hatte ich einen Film gesehen, in dem sich ein Mann im Auto vergiften wollte. Ich stürzte auf den Flur hinaus. In der kleinen Kammer lag ein alter Gartenschlauch. Ich riss ihn heraus, lief zum Wagen hinunter, fuhr los.

      Ich fuhr wie ein Roboter. Es dauerte keine Viertelstunde, dann hatte ich den Grunewald erreicht. Ich hielt an einer einsamen Stelle – wo es war, kann ich nicht mehr genau sagen, wahrscheinlich in der Nähe von Paulsborn.

      Ich sprang hinaus. Nur keine Zeit mehr verlieren, nur nicht weich werden! Der Auspuffstutzen war heiß; ich verbrannte mir die Finger, aber es gelang mir, den Schlauch darüber zu schieben. Das andere Ende klemmte ich im daumenbreit geöffneten Fenster fest. Schon saß ich wieder auf dem Vordersitz, zog die Tür hinter mir zu und machte mich daran, die Öffnung zu verstopfen ... Zehn Minuten noch, dann musste alles ausgestanden sein.

      Doch plötzlich riss der Lochstreifen, der mein Verhalten gesteuert hatte.

      Ich erwachte wie aus einer Hypnose. Mir war, als würde Kolczyk vor mir auftauchen, grinsend und triumphierend, als Sieger. Und diesen Sieg gönnte ich ihm nicht. Wenn ich jetzt starb, dann sollte auch er sterben, den gesellschaftlichen Tod sterben!

      Fieberhaft suchte ich nach einem Kugelschreiber, nach einem Stück Papier. Aber ich hatte nichts bei mir.

      „Dann kann ich also auch noch nicht sterben“, sagte ich laut.

      Allmählich hatte wohl auch das Sedativum zu wirken begonnen; jedenfalls klang meine Erregung so weit ab, dass ich wieder denken konnte. Und mit der Assoziation Kolczyk und Tod kam mir schlagartig die Erkenntnis, dass die Erklärung dieses Emery auch eine raffinierte Fälschung sein konnte: Womöglich war der Mann schon längst tot und konnte sich nicht mehr wehren? Oder Kolczyk hatte das alles einfach ganz ohne Emerys Wissen eingefädelt – wer wollte das wissen?

      Ich wollte es wissen!

      Ich riss den Schlauch vom Auspuff, warf ihn ins Gebüsch, wendete und raste den Hüttenweg entlang, bis ich auf die Clayallee stieß. Keine fünf Minuten später hatte ich die Universitätsbibliothek in der Garystraße erreicht. Unmittelbar gegenüber, in der Hittorfstraße, fand ich auch ohne längeres Suchen einen Parkplatz. Ich schloss den Wagen ab und lief ins erste Stockwerk hinauf, wo, wie ich wusste, im Durchgang zum Henry-Ford-Bau ein dicker Wälzer mit den Anschriften aller amerikanischen Verlage stand.

      Es dauerte auch nicht lange, dann hatte ich Ort und Telefonnummer der Duke University Press gefunden. Ein schneller Blick in meine Brieftasche zeigte mir, dass ich über 150 Mark bei mir hatte. Das langte garantiert für ein kurzes Gespräch nach North Carolina.

      In höchster Spannung, aber eher beschwingt als deprimiert fuhr ich zum Postamt am S-Bahnhof Lichterfelde West. Der junge Beamte dort sah mich etwas erstaunt an, sagte aber nichts. Und keine zwanzig Minuten später hatte ich die Duke University in Durham, North Carolina, an der Strippe.

      „Please, give me Mr. Charles Emery!“, sagte ich und war ziemlich sicher, dass ich mich ungeschickt ausdrückte.

      Aber die Telefonistin kapierte, was ich wollte, und verband mich mit dem Personalbüro, wenn ich recht verstand. Und dann, nachdem ich meinen Wunsch vorgebracht hatte, sagte eine Männerstimme:

      „I can’t help you, I’m afraid. Mr. Emery died last year.“

      Emery war tot. Im vergangenen Jahr gestorben ...

      „Hello ...?“, quäkte der Hörer. „Is there anytbing else.

      Ich legte wortlos auf.

      Kolczyk hatte geblufft ... Ich achtete nicht darauf, was mir der Beamte auf meinen blauen Hunderter herausgab; ich sah nur, dass zwei Groschen beim Wechselgeld dabei waren, und stürzte wieder in die Zelle. Erst wählte ich die Nummer der Universität, 76 90, dann Kolczyks Apparat.

      „Ja, Kolczyk ...“

      „Meinen herzlichsten Glückwunsch, Herr Dr. Kolczyk! Sie sind der erste Mensch, der Tote dazu bringen kann, Erklärungen abzugeben ... Haben Sie Charles Emery wenigstens ein paar Blumen aufs Grab gelegt?“

      Er schien nach Luft zu schnappen, blieb aber beherrscht. „Nein, die spare ich mir für Ihre Beerdigung auf.“

      „Da müssen Sie sich schon was Besseres einfallen lassen!“

      „Ach, wissen Sie, Ziegenhals – es gibt auch hier in Berlin genügend Leute, die für Geld alles tun ...“

      „Dann bin ich ja wohl im Gefängnis am besten aufgehoben. Vielleicht treffen wir uns mal beim Rundgang auf dem Hof ...“


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