Mörder kennen keine Grenzen. Horst Bosetzky

Mörder kennen keine Grenzen - Horst Bosetzky


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      9. Kapitel

      ZWISCHENSPIEL MIT EINEM MÖRDER

      Er kam vom Fußballplatz und war völlig durchgefroren; hin und wieder fluchte er, weil es beim Spiel auf dem alten Kasernenhof wenig zu sehen gegeben hatte. Vorüberhuschende Mädchen mit Stiefeln und kurzen Röcken, die kräftige Schenkel erkennen ließen, lenkten seine Gedanken schnell in eine andere Richtung, aber einmal hatte die grimmige Kälte sein Blut allzu sehr ins Körperinnere getrieben, sodass er ein Versagen befürchtete, und zum andern hielt er es für besser, wenn man ihn mal eine Zeit lang nicht in der Gesellschaft leichter Mädchen sah.

      Es war der zweite Advent, und die Kerzen, die er vom Bürgersteig aus brennen sah, stimmten ihn wehmütig und zornig zugleich. Trotz aller Bemühungen war es ihm noch immer nicht gelungen, eine feste Freundin zu finden. Manchmal kam es ihm so vor, als könnten es ihm alle vom Gesicht ablesen, dass er ein Mörder war. Das war natürlich Blödsinn, aber ... Die Erwachsenen, ja: die Erwachsenen, seine Mutter, die Trainer, die Fürsorger, die Wärter und die Lehrer – die waren schuld. Weil sie es nicht geschafft hatten, einen normalen Menschen aus ihm zu machen ... jetzt jagten sie ihn; jetzt war es zu spät. Er hatte gemordet. Im Rausch gemordet.

      Er bereute es nicht; es gab viel zu viele Menschen auf der Welt, und wenn da plötzlich einer fehlte, fiel das gar nicht weiter ins Gewicht. Er fühlte sich nur von unerbittlichen Feinden umzingelt und fürchtete die Zelle, die ihn für lange Jahre erwartete. Das Grab für einen Lebenden ... Er war kein Philosoph, doch eine Frage ließ ihn nicht mehr los: Warum bin ich ausgerechnet Karl-Heinz Prötzel – warum nicht Udo Jürgens, Tom Jones, Roy Black, Thomas Fritsch oder Franz Beckenbauer?

      Er hatte es nicht getan. Andere hatten es durch ihn getan; andere ließen ihre Verbrechen durch ihn begehen. Damals im Heim in Ruhleben hatte er immer gesagt, Ralf ist es gewesen, wenn die Schwester am Morgen sein nasses Bett entdeckt hatte. Ralf hatte eine Etage über ihm gelegen.

      Prötzel stieß die Tür zur Heißen Ecke auf und begrüßte Theo, den stämmigen Wirt, mit einem devoten Kopfnicken. Vor ihm, dem ehemaligen Catcher, hatte er einen höllischen Respekt.

      „’ne Bockwurst mit Salat, ’n Pils und ’n Korn ...“, bestellte er.

      Er bekam das Verlangte, doch es schmeckte ihm nicht, denn inzwischen war die langbeinige Babsy hereingekommen, und Babsy hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Frau, die er in Hamburg erwürgt hatte ... Warum hatte sie nicht tun wollen, wofür er vorher bezahlt hatte? Jedenfalls, er hatte den Ärger davon. Gemeines Aas.

      „Willste nich rübakommen?“ Er winkte Babsy zu, die ohne Miezi recht verloren wirkte.

      „Nee!“ Die Blondine wandte sich ab.

      Prötzel stürzte den Klaren hinunter. Babsy wollte also nicht ... Seit Oberkommissar Rannow ihn verhört hatte, schienen sie alle zu glauben, er habe die Miezi ermordet. Dabei war sein Alibi durch nichts zu erschüttern, seine Mutter hatte mehrmals versichert: Mein Sohn ist ab halb zehn zu Hause gewesen! Aber der Bulle hatte so komisch geguckt ... Fehlt bloß noch, dachte er, dass sie bei der Suche nach Miezis Mörder noch auf das Ding in Hamburg aufmerksam ... „Ach, Scheiße!“, brummte er halblaut.

      Doch der Alkohol, den er sich in immer kürzeren Abständen durch die Kehle rinnen ließ, versetzte ihn alsbald in eine euphorische Stimmung. Noch war die Schlinge für ihn nicht geknüpft; noch ahnte niemand, dass er der Mörder von St. Pauli war. Es sei denn, überlegte Prötzel, dass Bernd Ziegenhals – dass Zicke etwas von seiner engen Beziehung zu Miezi erzählte ... Wie gern hätte wohl Rannow in sein Notizbuch geschrieben: Laut Aussage des Zeugen Ziegenhals waren Prötzel und die Ermordete sechs Monate lang miteinander verlobt.

      Immer wenn er an Ziegenhals dachte, kribbelte es ihm in den Fingern. Er hasste ihn. Jahrelang aufgestaute Aggressionen drängten nach plötzlichem Abbau. Unzählige Male hatte Ziegenhals ihn besiegt, ausgebeutet, gedemütigt; Bilder zogen an ihm vorüber: Die Schule – Ziegenhals hatte ihn nie abschreiben lassen, sodass er sitzen geblieben war; das Heim – Ziegenhals hatte ihm nie beigestanden, und so war er regelmäßig verprügelt worden; der Fußballverein – Ziegenhals hatte ihm immer die Vorlagen weggeschnappt und selber die Tore geschossen; die Clique – Ziegenhals hatte sich die besten Mädchen herausgepickt; die Einbrüche und die Diebstähle – Ziegenhals hatte immer den Löwenanteil der Beute für sich beansprucht und war dann noch ungeschoren davongekommen, während er selbst zweimal eingelocht wurde.

      Immer wieder Ziegenhals!

      Jetzt hatte Ziegenhals ihn in der Hand, und wenn er der Kripo von seiner, Prötzels, Verbindung mit Miezi erzählte und andeutete, dass er sie schon einige Male geschlagen und auch gewürgt hatte ... Wenn Ziegenhals aussagte, Vermutungen anstellte und die Beamten auf die richtige Spur führte ... Lebenslänglich. Klarer Fall.

      Dazu durfte es nicht kommen; so viel stand fest. Er hasste Ziegenhals mit aller Kraft, denn Ziegenhals war hier herausgekommen und hatte es zu was gebracht. Ziegenhals war kein Mörder, den hundert gerissene Bullen jagten. Ein Gedanke tauchte auf, setzte sich fest: Nun kommt es auf einen Mord mehr oder weniger auch nicht mehr an!

      Er stand auf, um sich bei Opa Melzer nach Ziegenhals’ neuer Adresse zu erkundigen. Für seine alten Freunde Ruhlsdorf und Drognitz, die gerade in die Heiße Ecke stürzten, hatte er nur noch einen schnellen Händedruck übrig.

      Aber Opa Melzer konnte ihm nicht helfen.

      „Tut ma leid, ick hab total vajessen, wo a hinjezogen is ...“

      Prötzels pickelübersätes Gesicht verfinsterte sich. „Soll ick mal deine A’innerung uffrischen ...?“

      „Ick weeß et wirklich nich, jloob ma doch!“

      Prötzel stieß ihn brutal aufs Sofa. „Los, raus mitta Sprache!“

      „Aua! Lass ma in Ruhe, du ... du ...“

      „Wo wohnta, he?“

      „Ick hab’s mir uff’n Fahrschein uffjeschrieb’n, aba den hab ick dem Kolczyk jejeb’n.“

      „Wer is’n det?“

      „Eena vonne Unni?“

      „War det eena von Miezi ihre Kunden?“

      „Ick gloobe ja ...“

      „Und wo wohnt det Arschloch?“

      „Keene Ahnung, musste mal inne Telefonzelle nachsehn.“

      „Na schön ... Aba wenn et nich stimmt, dann schla’ck dir zusammen, dette in keen Sarch mehr passt!“

      10. Kapitel

      Betr.: Bernd Ziegenhals.

      Anlage zum psychiatrischen Gutachten. Abschrift des Tonbandes 3/4.

      Locker assoziierende Selbstdarstellung des Probanden. Vom Autor überarbeitet.

      Kolczyk setzte seinen Kleinkrieg mit allen möglichen Mitteln fort, manchmal auch mit Mätzchen, die seiner unwürdig waren. Es war klar, dass er mich mit vorgetäuschten Mordanschlägen


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