Mörder-Paket Juli 2020: 10 Krimis für den Strand: Sammelband 9015. A. F. Morland
ihr Abendgebet.
„Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen. Lob sei Gott, dem Herrn der Welten, dem Erbarmer, dem Barmherzigen, der Verfügungsgewalt besitzt über den Tag des Gerichts. Wir dienen Dir, und Dich bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, die Du begnadet hast, die nicht dem Zorn verfallen und nicht irregehen ...‟
19
Blue Movie hieß die Kneipe. Dreckig, laut und verraucht. Sharon war noch nie hier gewesen. Bewusst hatte sie diese kleine Kneipe in SoHo als Treffpunkt ausgewählt.
Den ganzen Tag hatte in ihrem Büro das Telefon geklingelt. Besorgte Freunde, anonyme Anrufer, die ihr hämisch einen langsamen Tod wünschten, ihr Verleger, und natürlich die Presse und das Fernsehen.
Einen ganzen Monat hätte sie mit Interviews und Talkshow-Auftritten zubringen können. Irgendwann am späten Nachmittag hatte sie es ihrem Anrufbeantworter überlassen, die Flut der Anrufe entgegenzunehmen.
Hier, im Blue Movie, kannte sie kein Mensch. Und die Leute, die hier verkehrten, lasen in der Regel auch nicht die New York Times. Niemand also, der sie schräg anquatschte.
Seitdem die renommierte Zeitung heute morgen über das Todesurteil gegen sie, Mike und Eve berichtet hatte, war Sharon eine berühmte Frau in Manhattan.
Noch am Vormittag hatte sie Mike Valezki besucht. Er wohnte und arbeitete nur ein paar Häuserblocks weiter am Chelsea Park. Mike las selten Zeitung. Freunde hatten ihm die Hiobsbotschaft jedoch schon überbracht.
Aber entweder hatte er sie nicht kapiert, oder sich schon mit einem frühen Tod abgefunden. Als wäre nichts geschehen, hockte er vor seinem Computer und arbeitete an ihrem neusten Comic, als Sharon sein Apartment betrat. Sie hatte einen Schlüssel. Noch aus der Zeit, als sich einbildete, den verrückten Kerl ändern zu können. Sie wollten mal heiraten. Lange her ...
„Diese Wahnsinnigen haben zum Mord an uns aufgerufen‟, hatte Sharon geschrien. „Begreifst du das nicht?!‟
„Wenn meine Stunde kommt, kommt sie‟, hatte er gesagt. Mit mürrischer Miene, wie immer. „Und wenn sie noch nicht gekommen ist, können mir auch mordlüsterne Fanatiker nichts anhaben.‟ Genau das hatte er geantwortet. Ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Unfassbar ...
Sharon nippte an ihrem Gin. Der Gedanke an ihren Partner machte sie traurig und wütend zugleich. Was Mike Schicksalsergebenheit nannte, war für sie weiter nichts als grenzenlose Dummheit. Wer nicht um sein Leben kämpfte, hatte es auch nicht verdient ...
Von Zeit zu Zeit ging ihr Blick zur Tür. Der Mann, mit dem sie verabredet war, ließ sich Zeit. Typisch Jack. Schon früher, als Sharons ehemaliger Lover sein Geld noch mit Musik verdient hatte, war er unzuverlässig, und vor allem unpünktlich gewesen. Einer der Gründe, warum sie ihm den Laufpass gegeben hatte.
Seit einiger Zeit verdiente Jack sein Geld mit Drogenhandel, wenn Sharon den Gerüchten glauben konnte, die sie von Zeit zu Zeit hörte. Er habe gute Kontakte zu Kreisen, in denen die meisten schon mit einem Bein im Knast standen. Genau aus diesem Grund hatte Sharon ihn angerufen.
Auf der Straße vor der Kneipe gingen schon die Lichter an, als Jack endlich das Blue Movie betrat. Ein großer, dürrer Bursche mit Kahlkopf und in engen Lederhosen und schwarzem Jackett.
Er lehnte sich neben Sharon an die Theke, legte seine lederne Umhängetasche vor sich auf den Tresen und bestellte einen Whisky. „Hi, Sharon – wie geht’s so?‟
„Gut.‟ Sie küsste ihn auf die Wange. „Danke, dass du gekommen bist. Hast du dabei, was ich brauche?‟
Er grinste. „Gut? - Früher hast du besser gelogen. Zeige mir einen zum Tode Verurteilten, dem es gut geht, und ich zahle ihm eine Woche lang Dope, Frauen und Zigaretten.‟
„Frauen brauch′ ich nicht, aber einen Drink kannst du mir spendieren.‟ Sie winkte der Kellnerin. „Noch einen Gin bitte.‟ Dann wieder an Jack gewandt: „Hast du das Ding dabei? Ja oder nein!‟
„Natürlich hab′ ich′s dabei‟, knurrte der Mann. „Üble Sache – ich hab′ den Artikel gelesen. Weiß genau, wozu du das Ding brauchst. Diese Scheißfanatiker ...‟
Die Kellnerin stellte Gin und Whisky auf den Tresen. „Können wir mal ins Hinterzimmer?‟, fragte Jack. Die Kellnerin nickte.
Sie tranken ihre Gläser aus, rauchten eine Zigarette dabei, und plauderten ein paar Takte. Jack zahlte, stieß sich vom Tresen ab, und schlurfte in den Gang, der zu den Toiletten führte. Sharon folgte ihm.
Gleich am Beginn des Toilettenganges befand sich eine Tür. Der Dealer drückte sie auf. Sie betraten einen kleinen Raum mit großem, rundem Tisch unter tief gehängter Lampe. Sharon vermutete, dass man sich hier zu Glücksspielen traf. Jack flegelte sich auf einen der Stühle und knallte seine Tasche auf den Tisch.
„Ich hab dir ein schönes Gerät besorgt.‟ Er öffnete die Tasche und zog einen in schwarzen Stoff gewickelten Gegenstand heraus. Mit lässigen Handbewegungen schlug er den Stoff zurück. „Eine achtschüssige Beretta, halbautomatisch.‟
Er reichte Sharon die Waffe. „Hast du überhaupt schon mal so ein Ding in der Hand gehabt?‟, erkundigte er sich herablassend. Sharon schüttelte angewidert den Kopf.
„Dann erklär′ ich′s dir.‟ Umständlich erläuterte er ihr die Einzelteile und die Funktionsweise der Waffe. Sharon wog sie in der Hand. Sie war schwerer, als sie es sich vorgestellt hatte.
„Ich hab dir zwei Ersatzmagazine mitgebracht‟, sagte Jack. „Und jede Menge Munition. Verzieh dich auf irgendein Dach und mach Schießübungen, bis du einigermaßen auf Draht bist.‟
Sharon nickte. „Was kostet die Pistole?‟
„Hundertfünfzig mit allem Schnickschnack. Weil du′s bist.‟
Sharon zögerte nicht und kramte ihr Geld aus der Hosentasche. „Deine Comics sind übrigens Spitze‟, sagte Jack, als sie schon an der Tür standen. „Tut mir leid für dich, ehrlich. Hast du Schiss?‟
Sharon dachte an Mike. Der schien nicht mal die Spur von Angst zu spüren. Und an Eve dachte sie. Die war schon vor dem verdammten Artikel ein Nervenwrack vor lauter Angst. Wie würde es ihr jetzt gehen, nachdem sie den Artikel gelesen hatte?
„Ein bisschen‟, sagte sie. „Doch – ein bisschen Angst hab ich schon. Aber vor allem hab ich eine Riesenwut ...‟
20
Ein schwacher, rötlicher Lichtstreifen am Horizont – der letzte Gruß des zu Ende gehenden Tages.