Indisches Drama. Hilde Link

Indisches Drama - Hilde Link


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       Der Sensationsfund

       Ali, der kleine große Zauberer und Hagenbeck‘s Völkerschau

       Das menschliche Experimentierfeld

       Die letzte Aufführung

       „Wir alle sind Schauspieler im göttlichen Theater“

       Abkürzungen

       Dank

      Vorbemerkung

      Neben neun Aufsätzen in Fachzeitschriften habe ich zum sakralen Theater in Tamilnadu, nächtlich aufgeführten Dramen, auch ein Buch veröffentlicht. Das Universum auf der Bühne ist die Vorlage, an der entlang ich meine Erzählung geschrieben habe. Insofern stimmen die Namen der Orte, ebenso die zeitliche Abfolge, mit der wissenschaftlichen Publikation überein. Auf diese Weise kann jeder nachvollziehen, wie ich die Daten gesammelt und sie, um Objektivität bemüht, präsentiert habe.

      In dieser „Hintergrundgeschichte“ erzähle ich von Dramen, die sich in meinem beruflichen Leben in dieser mir manchmal so fremden Kultur ereignet haben. Von ethischen Konfliktsituationen, in die ich geraten bin. Dilemmata, die sich für mich nie haben auflösen lassen.

      Überdies erzähle ich vom alltäglichen Leben mit meiner Familie in Indien, in dem sich auch so manches Drama abgespielt hat.

      Zu den Namen: Schauspieler sind Künstler, denen es wichtig war, mit ihren richtigen Namen genannt zu werden. Alle anderen Namen habe ich geändert, wenn ich keine nachdrückliche Zustimmung hatte.

      Vorwort

      Faszinierend, bezaubernd, mitunter erschreckend und befremdlich ist das, was Hilde Link wirklichkeitstreu als Zeitzeugin aus einem Indien der späten achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Wer mag, folgt ihr in die Werkstatt, nimmt teil an der Forschung vor Ort, erlebt die einzelnen Schritte, erkennt die Voraussetzungen, Hintergründe, Begleitumstände und Befindlichkeiten und kann so nachvollziehen, wie wissenschaftliche Ergebnisse zustande kommen. Es ist ein unmittelbares, eindrückliches Indien, von einer Sogkraft, der niemand entkommt. Wie für ethnographische Studien charakteristisch, werden uns hier dichte Begegnungen mit den Menschen der Gastgesellschaft beschrieben.

      Und es ist ein Indien, das sich selbst darstellt im Drama, im Terukkuttu, im sakralen „Straßentheater“, und das den Menschen, jeden einzelnen, ins Geschehen auf der Bühne einbindet. Mitten hinein in das, was sich die ganze Nacht hindurch zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang abspielt. Zur Aufführung kommen die großen indischen Epen Mahabharata und Ramayana neben Themen aus weiteren heiligen Büchern, den Puranas. In Szene gesetzt wird das Libretto, das die Schauspieler nicht brauchen, weil sie die gesamte Handlung und Dramaturgie im Kopf und im Herzen tragen. So bleiben die Dramen offen für lokales Kolorit. Von Musik untermalt, tanzen sie, singen, sprechen in Reimen und in Prosa, halten sich streng an Vorgaben und passen gleichzeitig improvisierend die Darbietung an den Zweck der Aufführung, an die Rahmenbedingungen, an die Geschehnisse im Dorf und an das Publikum vor der Bühne an. Makrokosmos und Mikrokosmos, die Welt der Götter und Heroen und die des Dorfes treffen aufeinander, verbinden sich. Was die Menschen vernachlässigt, schlecht behandelt und zerstört haben, was sie haben verkommen lassen, das rückt das Drama wieder zurecht, und es versöhnt das Universum mit dem Dorf.

      Der Brückenbauer zwischen dem Jenseits und dem Diesseits, zwischen Kosmos und Dorf, zwischen Göttern, Heroen und Menschen ist im Drama der Kattiyankaran. Dieser Herold, ja, wer ist er, was ist seine Funktion, womit können wir ihn vergleichen? Er, der Regie führt, die Schminke und Kostüme der Schauspieler im Auge behält und bei Bedarf korrigierend eingreift, die ebenerdige Bühne auf der Straße weiht, bevor es losgeht, sie erneut weiht, wenn sich etwas Entweihendes ereignet, etwa ein Hund darüber läuft, das Spiel eröffnet, die Einsätze gibt, die Handlung erzählt, kommentiert und erläutert, der das Publikum ermahnt und im Zaum hält, der die Handlung unterbricht, um anhand der Ereignisse auf der Bühne einen zu rücksichtslosen Dorfchef, einen Geizhals, einen Tagedieb, einen Frauenheld, einen eitlen Angeber, einen Tunichtgut, jemanden mit zu losem Mundwerk dem Gespött preiszugeben oder eine gute Tat zu preisen. Anhand der Dramen von Göttern und Helden unterwirft er das Dorfleben, das Zusammenleben in der Familie, unter Partnern, im Beruf und im Alltag der Kritik und Würdigung, als Mahner, als moralische Instanz, Spötter und Zyniker, als Narr und Schalk, Spaßvogel und Conférencier. Er sorgt dafür, dass das Auditorium über Gültigkeit und Wandel der Normen nachdenkt, stellt an Beispielen die Richtschnur angemessenen Handelns zur Disposition, trägt selbst die Argumente für und wider vor, bis die Bandbreite dessen, was schicklich ist, von allen verinnerlicht worden ist. Er gibt dem Dorfleben Orientierung – ganz analog zum Göttergeschehen auf der Bühne, das dafür sorgt, dass die Welt, die der Mensch in gefährliche Schieflage gebracht hat, wieder ins Lot gerückt wird.

      Wir sehen, das Terukkuttu ist kein Theaterstück nach abendländischem Verständnis, kein Beitrag zur Unterhaltung aus der Sparte ‚Kunst und Kultur‘. Nein, es ist ein kultisches Drama, bei dem Schauspieler, Musiker und Publikum in das Weltgeschehen eingebunden sind. Bei dem der Schöpfungsprozess, die Stiftung der Handlungs- und Verhaltensregeln, das Grundgesetz des Zusammenlebens, fortgeschrieben und veranschaulicht werden, bei dem die kosmische Ordnung sich erneuert und die kleine Dorfwelt einbezieht.

      Wer unter kulturell fremden Menschen forscht, sieht sich unversehens in einer Rolle, die in manchen Aspekten der des Kattiyankaran ähnelt: beim Vermitteln, beim Erzählen und Interpretieren. Grundsätzlich ist die forschende Person gleichermaßen Beobachtungs- und Messinstrument, Phonogramm und Resonanzkörper mit wechselnder Eichung und Stimmung. Ihre Gefühle, ihre Fähigkeit zur Empathie, ihre Aufgeschlossenheit und Geschicklichkeit zu fragen sowie ihr eigener Wissensstand, all das beeinflusst, was sie wahrnimmt, wie sie diskutiert und modifiziert, was ihre Rezeptoren ihr zu erfassen erlauben und wie sie ihre Einsichten überprüft, etwa indem sie ihre Impressionen und Daten mit Einheimischen bespricht und deren Kritik verarbeitet. Die Forscherin muss erst selbst verstehen, bevor sie ihre Ergebnisse interpretiert und in den Wissenschaftsdiskurs einbringt.

      Die Persönlichkeit der Wissenschaftlerin, des Wissenschaftlers, schlägt sich auf allen Ebenen in den Ergebnissen nieder. Das Gebot bleibt dennoch Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit, was angesichts des Bemühens um Wahrung der Persönlichkeitsrechte samt der Privatsphäre (rights of privacy), die grundsätzlich für alle gelten, eine Forderung ist, die oft der Quadratur des Kreises gleichkommt.

      Hilde Link hat als Beitrag zur Nachvollziehbarkeit ihrer Forschungsergebnisse das dramatische Geschehen, die Terukkuttu-Ereignisse, filmisch, in Tonaufnahmen und fotografisch dokumentiert und im Institut für Indologie und Tamilistik der Universität zu Köln hinterlegt, wo diese Materialien archiviert und zugänglich sind.

      In beschreibenden oder argumentativen wissenschaftlichen Abhandlungen verblasst oft genug die Lebenswirklichkeit, und das in einer Wissenschaft, in der es doch um das Leben geht. Der vom einzelnen Menschen absehenden Verallgemeinerung sind in der Ethnologie Grenzen gesetzt. Erst recht der Suche nach einem ‚Mittelwert der Kultur‘, ohnehin ein lebensfernes Konstrukt. Menschen entscheiden von Fall zu Fall, ob sie sich konform verhalten oder nicht, ob sie sich einem Trend anschließen oder einen eigenen Weg vorziehen. Überdies halten die jeweiligen Situationen und die handelnden Menschen so viele Imponderabilien bereit, dass ein Verhaltensmuster, ein Handlungsideal, ja selbst eine normative Konvention in einer Gesellschaft oft nur von einer – mitunter verschwindenden – Minderheit gelebt wird.

      Der narrative Stil bietet dagegen die Möglichkeiten, Gefühle, Stimmungen, das Ambiente und die Atmosphäre zu schildern, die Impressionen wiederzugeben, die


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