Deutschlandglotzen. Gerhard Stadelmaier
ganz neue Wichtigkeitswörter, wie zum Beispiel »Risikogruppe« und »systemrelevante Gruppen«, als sei nicht jeder fürs gesellschaftliche Leben relevant, das sie nennen mögen, wie sie wollen, gerne auch »System«. Zog aber auch Gutes nach sich: Weil plötzlich die blödsinnige Abschiedsfloskel »Tschüss!«, was ja eigentlich nichts weiter als eine Verballhornung des schönen alten »Adieu« ist, wenn nicht ganz verschwand, so doch teilweise ersetzt wurde durch den neuen Gruß der Stunde »Bleiben Sie gesund!«. Aber leibhaftig gesehen hatte den kleinen roten Ball bis dahin niemand außer vielleicht ein paar Virologen unter ihren Supermikroskopen. Aber nun rollte er durchs Fernsehbild. Das heißt, er rollte nicht. Gezeigt wurde, dass er schwamm: durchs Schluss-Bild eines »Tatorts«. Und da bei der Erstausstrahlung eines »Tatorts« im Schnitt neun Millionen Zuschauer auf die Bildschirmbühnen bei sich zu Hause schauen, schwamm der kleine rote Ball auch durch neun Millionen theatralisch einsame Köpfe.
Zwar hatten sich ganz gewiss mehr als die üblichen neun Millionen »Tatort«-Zuschauerköpfe schon ein Bild vom kleinen roten Ball gemacht, benannt »das Virus«. Manche wechselten auch vom »das« in »der Virus«, als sei’s ein lebensvolles Subjekt statt eines tückisch das Leben attackierenden Nicht-Lebewesens, das als Hintergrund-Bühnenbild bei fast keiner informationellen Fernsehsendung fehlte in diesen allumfassenden Katastrophen-Tagen, an dessen vielen Unglückseligkeiten allein dieser kleine rote Ball schuld war. Und ganz gewiss war der »Tatort« aus Frankfurt bereits ein Jahr zuvor gedreht worden, als noch niemand etwas vom kleinen roten Ball und seiner tödlichen Gefährlichkeit wusste oder auch nur wissen wollte. Und natürlich trug der kleine rote Frankfurter »Tatort«-Ball auch nicht auf seiner Oberfläche diese vielen gewürznelkenhaften horrorniedlichen Pustel-Noppen, die der kleine rote Virus-Ball, von dem man sich sonst immer nur ein virologisches schematisches Vergrößerungshintergrundbild gemacht hatte, im Fernsehen jener Tage von morgens bis mitternachts auf allen Kanälen zuverlässig trug. Aber gerade deshalb taugte er wunderbar zum Stellvertreter. In einem pandämonischen Königsdrama. Nicht umsonst trägt das Virus den wunderschönen lateinischen Namen »Corona«, was ja einen Ehrenkranz, auch eine Art Krone bedeutet.
Man sah in diesem »Tatort« also einen erst mäßigen, dann immer reißender werdenden Bach, der über den Flur des Frankfurter Polizeipräsidiums strömte. Und den kleinen roten Ball mit sich riss. Polizeipräsidiumsflure, in die durch schadhaft reparierte Dächer und Wände Wassermassen dringen, zeigen an, dass die Welt der Ordnungen und Sicherungen und also der beruhigenden Verfolgung alles Bösen aus allen Dichtungsfugen sein muss. Und kein Hamlet in Sicht, der, »oh Pein und Gram, zur Welt sie einzurichten kam«. Was ja sowieso immer schiefgeht. Sodom und Gomorrha am Main. Apocalypsis cum figuris. Der Titel: »Die Guten und die Bösen«. Das System: in Auflösung begriffen. Das Polizeipräsidium eine marode Baustelle voller Fallen, Tür-Wirrnisse, Flur-Leerstellen, fehlender Wände, kreischender Sägen, wummernder Elektro-Hämmer, mit lauter Nicht-Orten für unmögliche Verhöre in einem düsteren, ausweglosen Drama mit verkaterten Polizisten, die ihre mit Erbrochenem besudelten Hemden mangels Umkleideräumen auf dem Präsidiumsparkplatz wechseln müssen – und einem sturen Kollegen, der sich umstandslos als Mörder und Folterer bekennt.
Er hatte den mutmaßlichen Vergewaltiger seiner Frau, die sich nach dem ihr zugefügten Verbrechen von ihm scheiden ließ und Selbstmord beging, erst gefesselt, ihm mit brennenden Zigaretten ganze Hautpartien versengt und ihn dann mit einer Plastiktüte erstickt: »Um das System zu retten« und mit seiner bösen Tat »die Guten zu rechtfertigen«, die mitsamt ihrem Rechtssystem den Vergewaltiger und Frauenschänder damals aus Mangel an handfesten Beweisen hatten laufen lassen müssen. Dieser Polizist heißt Matzerath wie der kleine Oskar aus der »Blechtrommel«, und die längst pensionierte Kommissarin, die in irgendeinem leeren, düsteren Archiv-Untergeschoss des Präsidiums sitzt wie eine Parze, die versucht, die Aktenlebensfäden der unerledigten Fälle noch einmal aufzuwickeln, bevor sie die Verjährungsfrist abknipst, heißt Bronski. Als ermittele – wenigstens den Namen nach – die halbe Günter-Grass-Kaschubei in einem Frankfurt a. d. Danziger Bucht. Bewohnt von lauter bösen Würgegeistern aus früherer böser Zeit, die jetzt zugreifen und zudrücken. Als gäbe es kein Morgen.
Die Bronski wurde von Hannelore Elsner gespielt. Eine ihrer letzten Rollen vor ihrem Tod im April 2019. Eine Figur, still, zäh, nur noch von der pergamentdünnen Haut ihres aus allen Erloschenheiten in brennender Zähigkeitssorge aufflackernden Willens zusammengehalten, der nicht mehr viel Zeit hat. Der kleine rote Ball gehörte dem Hund der Bronski, der ihn vor sich herjagte, mit dem Maul danach schnappte, ihn einzufangen versuchte. So dass die Kamera allzu oft auf Bodenhöhe mit dem kleinen roten Ball bleiben zu müssen glaubte: als sei er, nicht die anderen, am wenigsten der Hund, die Hauptsache. Und am Ende schwamm er so triumphal wie wellentänzelnd hohnvoll davon – hinaus in die Welt. In die hinein er alles Unheil mitnahm und sie damit infizierte. Und nahm auch in der Welt Platz. Auf einem Herrscherthron. Dem ein Jahr später die ganze bewohnte Welt untertan war, und natürlich auch die Fernsehsender dieser Welt. Und der diese ganze Welt in einen tiefen, weiten Stillstand, einen tranceähnlichen Schlaf versetzte. Sie zur absoluten Passivität und Bewegungslosigkeit verdammte, gleichgültig, ob Demokratien oder Diktaturen, Präsidialzarenreiche oder Gottesterrorstaaten, autokratisch Links- oder Rechtsunterdrückte, Arme oder Reiche. Er machte sich dabei natürlich wieder unsichtbar. So unsichtbar eben wie eine Metapher, die sich in ein Virus zurückverwandelt. Aber er herrschte sichtbar und gründlich und gnadenlos: gekrönt als König Corona.
Kann gut sein, dass er, wenn dieses Buch erschienen sein wird, längst wieder vom Thron verstoßen sein wird. Weshalb hier das Imperfekt durchaus sinnvoll scheint. Obwohl es eine – auch und gerade auf allen Fernsehkanälen – verbreitete ideologische Gewissheit gab, die behauptete, nichts werde »nach Corona« noch so sein wie »vor Corona«. Und also der Königsthron auf Jahre hinaus vom kleinen roten Ball besetzt bleiben würde. Man muss aber mit der menschlichen und vor allem mit der medialen Vergesslichkeit, ja Gleichgültigkeit und Leichtsinnigkeit durchaus rechnen: dass nämlich auch »nach Corona« alles beim alten bleiben wird. Wie nach allen Katastrophen bisher noch immer alles beim alten geblieben ist. Kann aber auch genauso gut sein, dass er noch lange Zeit herrschen wird. Auf seine Art.
»Man muß spüren, daß die Welt des Gewöhnlichen plötzlich anhält, in Schlaf versinkt, in Trance, in einem schrecklichen Waffenstillstand erstarrt; die Zeit muß gelöscht, alle Verbindung zur Außenwelt gekappt sein, und alles muß, zurückgezogen in sich selbst, in eine tiefe Ohnmacht fallen, das Irdische vergessend.« So beschwört Thomas de Quincey in seinem 1823 erschienenen Essay »Über das Klopfen an die Pforte in Shakespeares ›Macbeth‹« den Zustand einer unheimlichen Quarantäne: »Mord und Mörder müssen isoliert werden – abgeschnitten durch einen unermeßlichen Graben von dem gewöhnlichen Auf und Ab des menschlichen Treibens und eingeschlossen in eine tiefe Abgeschiedenheit.« Thomas de Quincey, ein »al fresco«, also außerhalb der üblichen gesellschaftlichen Grenzen lebender romantisch verzweifelt frei vazierender Schreibgeist, der sich nicht nur in seinen »Bekenntnissen eines englischen Opiumessers« und seinem berühmtesten Werk »Mord als schöne Kunst betrachtet« (1853) vom Abseitigen, Irrationalen, Verbotenen fasziniert zeigt, hat dabei das nächtliche Gemetzel im Auge, das Macbeth und seine Lady am schlafenden König Duncan verübten, der auf Macbeths Burg zu Gast war.
Ein Mord, der noch viele Morde nach sich ziehen wird, ganze Hekatomben von Toten. »An jedem neuen Morgen heulen neue Witwen, / Und neue Waisen wimmern; neuer Jammer / Schlägt an des Himmels Wölbung, daß er tönt…«, klagt Macduff (IV/3) über den mörderischen Krieg, den Macbeth gegen alle und alle Welt angezettelt hat (in der Schlegel-Tieckschen deutschen Übersetzung). Es ist wie eine Seuche, eine Selbstansteckung in Macbeth (und in seiner Lady), eine virale Hirn- und Gedankenentzündung: »O Zeit! Vor eilst du meinem grausen Tun! / Nie wird der flücht’ge Vorsatz eingeholt, / Geht nicht die Tat gleich mit. Von Stund an nun / Sei immer meines Herzens Erstling auch / Erstling der Hand. Und den Gedanken gleich / Zu krönen, sei’s getan, so wie gedacht.« Und ein Arzt, eine Art Schloss-Psychiater, diagnostiziert: »Von Greueln flüstert man – und Taten unnatürlich / Erzeugen unnatürliche Zerrüttung.« (V/2) Was aber De Quincey nicht weiter interessiert. Er bleibt bei diesem einen Moment stehen. Und er beschreibt in Worten, die wie von den Opiaten getränkt wirken, die man aus den Blumen des Bösen destilliert, einen absoluten moralischen Lockdown. Der erst durch das Pochen an die Pforte wieder gelöst und gelockert wird,