Deutschlandglotzen. Gerhard Stadelmaier

Deutschlandglotzen - Gerhard Stadelmaier


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ist wie der Titelheld des Dramas, beim Wahrnehmen des Pochens einen grandiosen Monolog hält, auf den De Quincey allerdings nicht näher eingeht, ihm genügt allein die Tatsache des Pochens, der Pförtner als Figur und Person ist ihm gleichgültig. In diesem Monolog rätselt der Pförtner, indem er sich, noch immer halbtrunken vom Besäufnis der letzten Nacht, die Hosen anzuziehen versucht, wer da wohl Einlass begehre: ein Pächter, der sich »in Erwartung einer reichen Ernte aufhing?«; »ein Zweideutler, der in beide Schalen gegen jede Schale schwören konnte, der um Gottes willen Verrätereien genug beging und sich doch nicht zum Himmel hinein zweideuteln konnte?«; »ein englischer Schneider, hier angekommen, weil er etwas aus einer französischen Hose gestohlen?«. Sein Resümee: »Hier ist es zu kalt für die Hölle; ich mag nicht länger Teufelspförtner sein.« Nämlich für kapitalistische Selbstmörder, rabulistische Jesuiten, nationalistische Diebe. Aber immerhin Leute von Welt. Wenn auch Schelme. Von draußen. Und es ist wie eine Erlösung. Die Tragödie nimmt endlich ihren effektvollen Lauf – bis hin zur Vernichtung des falschen, mörderischen Königs. Auf freiem Feld. Im Offenen. Aber, wie gesagt, mit Hekatomben von Toten.

      Am Abend des 18. März 2020 war es im großen deutschen Königsdrama umgekehrt. An die Fernsehpforte klopften mit fast hysterischer Munterkeit und rasselnd und tempolustig gehörigen Lärm machend: lauter Prothesen. Krücken. Hilfsmittel. Wunderdinge. Lebensretter. Erlöser. Befreier. Herkommend aus den Feldlazaretten der großen Gesundheitsschlachten. Draußen vor dem Tor. Zuerst ein von einem lustigen, in Reibeisen-Baritonlage sprechenden Mops begleitetes Wesen namens Voltaren: das als einzureibendes Gel die Befreiung von allen Gliederschmerzen verhieß. Wir werden ihm in einem späteren Kapitel noch einmal begegnen. Dann ein Mascara-XL-Volumen-Ding, das langes, schönes Wimpernwachstum versprach. Dann gleich noch ein Schmerz-Gel, das eine am Meeresstrand samt Hund und Mann ins Bild kommende ältere, wiewohl immer noch schöne, reife Frau im Regenmantel zur alles Gute garantierenden Folge hatte, die sich als zuvor Nackte das Gel in die Schulter gerieben hatte und nun, trenchcoatbedeckt, vor schäumenden Meereswellenkämmen als eine Soft-Erotikerin der Dankbarkeit mit dementsprechendem über die Schulter geworfenen Augenaufschlag selig bekannte: »Doc, ich liebe dich!« Wogegen es die darauf folgende jüngere, ihre notbergende Verkrampfung nur mühsam unter lächelnder Kontrolle haltende Frau schwerer hatte, ein Latschenkiefer-Konzentrat zur Reduzierung der Fußhornhaut so zu präsentieren, dass man ihrem mühsam einstudierten zähnebleckenden Jubellaut »Meine Hornhaut is wech!« genau den Glauben schenken mochte wie dem meckernden Gelächter einer bebrillten grauschlaffen Frühgreisin, die nach Einnahme eines legalen pharmazeutischen Dopingmittels namens Vitasprint verkündete, »ich könnte die Welt aus den Angeln heben«. Dem dann ein in grenzdebilen Lächelorgien fast versinkendes Strahlemädchen die Wunderkrone aufsetzte, indem sie sich auf neidisches Befragen durch eine Lächelorgien-Kollegin offenbar mit einem Hyaluron-Präparat eingerieben hatte, das ihr eine »natürliche Hautbräune« sicherte und den »Spaß daran, nun endlich auch im Winter mehr Haut zu zeigen«. Dabei war schon hellster Frühling.

      Und all diese an die große deutsche Fernsehpforte herrisch pochenden Prothesen, auf deren Werbegelder die öffentlich und rechtlich und mit einer unterschiedslos erhobenen milliardenschweren Zwangsabgabe finanzierten Sendeanstalten eigentlich nicht angewiesen sein sollten, die also eine gewisse willkürliche, aufdringliche Rolle spielten, verlangten Einlass, begehrten Öffnung, riefen: »Platz da für die Wunden und Siechen! Die wir wieder heilen!« Doch das Tor blieb zu. An diesem Abend sogar demonstrativ. Gleich nach der Hyaluron-Mamsell kam eine Deutschlandfahne halb und eine Europaflagge zu einem Viertel ins Bild. Die starre Kamera war durch ein großes Fenster des Berliner Kanzleramts auf den Reichstag gegenüber gerichtet, konzentrierte sich aber auf die deutsche Bundeskanzlerin, die im dunkelblauen Blazer, mit einer dezenten Kette um den Hals und sanft toupierter Bob-Frisur an einem großen Schreibtisch vor dem Fenster Platz genommen hatte. Und die Königsdramen-Verhältnisse umkehrte. Der König, der »bloody dog« und »scheußliche Tyrann«, wurde ausgeschlossen. Er musste draußen bleiben. Zumindest sollte er das. Es wurde ein Bann über ihn verhängt. Und wie im deutschen Regisseurstheater, im künstlerischen wie im politischen, üblich, kam es in der Tragödie, die hier ihren Gang nahm, zu einem fundamentalen Figuren- und Charakterverwechslungstausch.

      »Nimm etwas Wasser und wasch von deiner Hand das garst’ge Zeugnis«, verlangt ja Lady Macbeth (II/3) von ihrem Mann (nach dem Mord an Duncan). Und später fragt der Arzt, wie gesagt eine Art Schlosspsychiater, als er die Lady schlafwandeln sieht (V/2): »Was macht sie nun? Schaut, wie sie sich die Hände reibt.« Und die Kammerfrau der Lady klärt auf: »Das ist ihre gewöhnliche Gebärde, daß sie tut, als wüsche sie sich die Hände; ich habe wohl gesehen, daß sie es eine Viertelstunde hintereinander tat.« Wenig später bringt sich die böse Lady Macbeth um. So hält sie Abstand zur Welt. Und wäscht ihre Hände in Schuld: bei Shakespeare (1606). Bei Angela Merkel (2020) wird die böse Lady zur guten, vorsehenden, sorgenden Kanzlerin, die das Land, das ganze große Schloss Deutschland, gegen den bösen viralen Terror- und Infektionskönig abschließt, das Tor, die Pforte verrammelt, »zu Hause bleiben«, »Abstand halten« (»im Moment ist Abstand der Ausdruck von Fürsorge«), »niemand ist verzichtbar«, »jeder wird gebraucht«, »gemeinsam schützen und helfen« als Losungen ausgibt und den »Lock-« oder auch »Shutdown«, bezeichnend das radikale Herunterfahren alles gesellschaftlichen Lebens, in den allgemeinen Umgangssprachschatz befördert – aber alles mit dem hauptsächlichen internen Rettungsvorschlag grundiert, den ihr die Lady vorgesprochen zu haben scheint: Hände waschen! Nicht gerade eine »Viertelstunde hintereinander«, aber mindestens 30 Sekunden. Für viele Deutsche, die nicht bis 30 zählen, aber dafür ein kompliziertes englisches Geburtstagslied gut singen können, wird danach in vielen aufklärenden Fernseh-Gesprächsrunden und -interviews der Rat gegeben, sich so lange die Hände zu waschen, bis man zweimal hintereinander »Happy Birthday« gesungen habe. Je lauter man das tut, desto länger dauern die 30 Sekunden …

      Was sich als Folge dieser und noch anderer, gleichartiger, wenn auch nicht so gewichtig staatsbewegender Ansprachen der Kanzlerin ergab, war ein großes, beispielloses, folgsames allgemeines Zusammenrücken: ein Volk!, eine Republik!, eine Disziplin! Eine anscheinend durch alle Schulen der Vernunft und der Aufklärung gegangene Einsicht in die Notwendigkeit, sich zurückzunehmen, bestimmte, genau definierte Grundrechte nicht wahrnehmen zu können, zum Beispiel das Recht auf Versammlungs- und Reisefreiheit. Quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Die Angst vor dem Tod durch die Heimtücke der unkontrollierbaren, weltweit und ja Kontinente und Länder wie nichts überrollenden Feldzüge des Königs Corona hatte die Menschen, die ja die einzigen Tiere sind, die wissen, dass sie sterben müssen, paradoxerweise in Abermillionen Einsamkeiten und Voneinanderabsonderungen und Abstandshaltungsregeln zusammengeschweißt. Enge in großer Distanz. Wenigstens eine Zeitlang. Ungefähr vier Wochen. Dann war die Zusammenrückgeduld vielerorts aufgebraucht. Aber gleichwohl hüpften in jeder Werbepause seitdem die Comic-Mainzelzipfelmännchen des ZDF auf Springbällen durch die Szene, über die »Abstand halten« geschrieben ward oder »Wir bleiben zu Hause« oder »Nicht in Gruppen rausgehen« oder »Bleibt gesund« oder »Hände waschen«. Es war, als hätte der Ausnahmezustand, in den die Republik versetzt und gezwungen wurde, Monsieur Alcèste aus Molières »Menschenfeind«, wenigstens so, wie ihn Botho Strauß bearbeitet hat, aufs Menschenfreundlichste, also aufs Paradoxeste gerechtfertigt: »Menschen sind mein Schlimmstes!« verkündet der Alcèste des Botho Strauß. Er meint es grundsätzlich, weil au fond und aus Existenzgrundsatz misanthropisch. Das Schlimmste freilich, was die Gefahr einer Ansteckung angeht, ist dem Menschen der andere, vom Virus womöglich befallene Mensch. Die Distanz, der mit abwehrenden Ekelgesten garnierte Abstandswille, den Alcèste zelebriert, wird, wenn das Böse in Virus-Gestalt so sichtbar unsichtbar allgemein in der Welt ist, zur wenn nicht schon menschenfreundlichen, so doch wenigstens menschenschonenden Regel.

      Aber dann der per »Tagesschau«- und »heute«-Nachrichten eingeblendete Gegensatz zur deutschen Regelschule: die wilde Kriegserklärung aus nahfernem Freundesland: »Nous sommes en guerre!« sprach Monsieur le Président de la Nation, Emmanuel Macron, sehr ernst und mit dunkler Krawatte hinter seinem Empire-Schreibtisch im Elysée-Palast postiert, in die Kamera, neben sich eine Trikolore und die Europafahne. Als schieße das Virus mit Kanonen, sitze in Kanzeln von Bombern oder an den Abschussrampen von Atomraketenbatterien oder vor den Lenksystemen von Kampfdrohnen. Als sei die Verschleißunruhe der Gegenwart, der Zerfall der Welt auf einmal angehalten in


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