Deutschlandglotzen. Gerhard Stadelmaier
Schicksalshaftigkeit und dem unhintergehbaren Gefühl, die Dinge der Weltbewegung nicht mehr wie einst so locker in Händen zu haben, wieder in der Welt nicht nur der drei Kanzlerwelpen aufgetaucht und hatte sie ganz und gar beherrscht. Ihre neue Welterfahrung war von da an die einer Kontingenz und Hilflosigkeit, die durch ein vorläufiges Nichthelfenkönnen in der Hauptsache, dem fehlenden Impf- und Kampfstoff wider den kleinen roten Ball, ausgeglichen wurde durch die in fast königlich majestätischem »Wir müssen!«- und »Wir dürfen nicht!«-Ton vorgebrachten administrativen und vor jeder Fernsehkamera geduldig in endloser Wiederholung erklärten Maßnahmen. Wie überhaupt das Wort »Maßnahme« einen ungeheuren Aufschwung erlebte. Die unbekannte Rückseite der bekannten Welt, die sich plötzlich in die völlig rätselhafte, vorerst nicht zu bewältigende Vorderseite verwandelt hatte, ließ es auch – wenigstens eine gewisse Zeit lang – nicht zu, dass den Verkündigungen und Anordnungen der drei aus besserwisserischen Gründen widersprochen wurde. Weil niemand etwas Besseres wusste oder zu wissen behauptete. Wenigstens eine Zeitlang. Noch selten in der Geschichte der Fernsehdeutschland-Welt waren die Herrschenden und die Beherrschten samt ihren Beobachtern in den Sendeanstalten und den entsprechenden Fernsehformaten so einig, kamen sich so geschlossen, so vernünftig vor. Eine Idylle in Quarantäne. Wenigstens eine Zeitlang.
Das lag vor allem an drei Figuren, die zuvor schon sich forschend und suchend auf den rückseitigen Gefilden der bekannten Welt herumgetrieben und dort die Genese von kleinen roten Virus-Bällen im Blick hatten. Und die nun sozusagen den drei Königskanzlerwelpen nicht gerade als Wahrsager und Astrologen, so doch als Wahrscheinlichkeitssager und Möglichkeitsweltendeuter, als Zukunftsdeuter und -ausrechner beigeordnet waren: die Virologen. Ihr Text, ihre Haltung bestand aus einer ständigen »Wenn, dann«- beziehungsweise »Wenn nicht, dann«-Paraphrase. Wenn wir dies oder jenes tun, zu Hause bleiben, Abstand halten, Mundschutz tragen, Schulen schließen et cetera, dann erreichen wir Erträgliches. Wenn wir dies oder jenes nicht tun, blüht uns Furchtbares. Der eine ein brillanter Wuschelkopf namens Drosten, der zweite ein grauer Herr namens Wiehler, der dritte ein schneidiger Husar namens Kekulé. Was sie auszeichnete, war, dass sie keine Macht hatten, irgend etwas anzuordnen, und dies auch gar nicht sich zu wollen trauten, weil es ihnen auch gar nicht zustand, aber danach strebten, immer besser Bescheid über den kleinen roten Ball zu wissen. Im Gegensatz zu den Mächtigen, die nicht Bescheid wussten und auch gar nicht Bescheid wissen konnten, außer vielleicht ein bisschen der gesundheitsministerielle Kanzlerwelpe, aber das anordnen mussten, was die Krise eindämmen half.
Der dramatische Urahne unserer Virologen, sozusagen ihr Rollenlieferant, ist der Arzt Astrow aus Tschechows »Onkel Wanja«; wie ja bei Tschechow sowieso alle unsere Gegenwartsfiguren wie in einem historischen Familienalbum vorweg fotografiert und umrahmt scheinen. Es gibt keinen besseren Reservoir-Dramatiker für unsere aktuellen szenischen Anknüpfungsbedürfnisse. Dr. Astrow also, in den mindestens zwei Frauen unsterblich verliebt sind (in Prof. Dr. Drosten und seinen lausbübischen Wuschelkopf sollen, Boulevardvermutungen zufolge, im viralen Frühjahr 2020 Tausende verliebt gewesen sein, mindestens so viele, wie ihn nach der ersten großen Euphorie und der dann erfolgten Disziplinlockerungssehnsucht hassten und schmähten – so geht’s halt mit der Liebe oft zu in unserer verrückten Welt, und sie kannten und liebten und hassten ihn nur aus dem Fernsehen), unser Tschechow-Doktor also kämpft wie seine modernen Kollegen vorzüglich gegen Epidemien: »Flecktyphus … In den Hütten lagen die Leute einer neben dem andern … Dreck, Gestank, Rauch, die Kälber auf dem Boden, mitten unter den Kranken … Auch die Ferkel.«
Man sieht unweigerlich, wenn man das liest und es sich plastisch vorstellt, den Wildtiermarkt im chinesischen Wuhan vor sich mit dem Gewirr von Menschen, Fledermäusen, Schlangen und Gürteltieren. Außerdem ist Dr. Astrow unaufhörlich mit der Rettung des Klimas beschäftigt, kämpft gegen das Waldsterben und für die umweltschonende Vernunft. Sein öffentliches Verantwortungsethos kann es in den Grundsätzlichkeiten mit dem Ethos jedes gegenwärtigen TV-Virologen aufnehmen: »Der Mensch ist mit Vernunft und Schöpferkraft begabt, um zu vermehren, was ihm gegeben worden ist, aber bis heute hat er nichts geschaffen, sondern nur zerstört. Wälder gibt es immer weniger und weniger, die Flüsse versiegen, das Wild stirbt aus, das Klima ist verdorben, und mit jedem Tag wird die Erde ärmer und gesichtsloser.«
Um noch einmal zu demonstrieren, wie brandaktuell Tschechows Ärzte argumentieren, werfen wir ein Selektionslichtlein auf Dr. Astrows Kollegen Dr. Jewgeni Sergejewitsch Dorn in der »Möwe«; bei Tschechow kommen schon deswegen oft Ärzte vor, weil er sich in diesem Metier am besten auskannte, außer natürlich im menschlichen Metier überhaupt, denn Tschechow war selbst Arzt und neben Shakespeare wahrscheinlich der beste Menschenkenner. Dr. Dorn also weigert sich konsequent, Menschen zu behandeln, die über sechzig sind (»Das ist Unsinn«). Mehr als Baldriantropfen, Chinin, Soda würde er ihnen – nur so zur Beruhigung, nicht zur Heilung – nicht verordnen. Auch verachtet er die Todesangst als »tierische Angst«, man »muß sie unterdrücken. Angst vor dem Tode haben bewußt nur die, die an ein ewiges Leben glauben, die Angst wegen ihrer Sünden haben.« Er würde ohne Bedenken, denkt man ihn sich in der Situation einer gegenwärtigen Intensivstation, die sogenannte Triage praktizieren, also alten Patienten die Beatmungsmasken wegnehmen, um sie jüngeren überzustülpen. Wozu, um den Tschechowschen Doktor-Dreier vollzumachen, der Militärarzt Dr. Tschebutykin aus den »Drei Schwestern« nur sein gleichgültiges, wodkagetränktes »Ist doch völlig egal!« brummen und vielleicht noch seinen Dauerspruch »Er hatte noch nicht ach gesagt, als ihn auch schon der Bär gepackt!« draufpacken würde.
Auf einmal auch rückten Ärzte, die ja mit Fragen auf Leben und Tod und Wissen und Gewissen wie »Lohnt sich noch eine Operation?« oder »Apparate abschalten? Magensonde drinlassen?« oder »Das Bein bei dieser oder jener Sepsis-Lage vorsorglich amputieren?« alltäglich gewohnheitsmäßig konfrontiert sind, als tragische Möglichkeitsfiguren ins weitere gesellschaftliche Bewusstsein. Was ja sonst die Fernsehöffentlichkeit außer in Ärztespielfilmserien kaum interessiert, wo es immer zugunsten einer Nichttragik gut ausgeht, die septischen Beine also alle dranbleiben, aber darauf kommen wir noch zurück. Die Figur, lange von den Theaterbühnen verschwunden, auf die sie eigentlich gehörte – aber die Bühnen spielen seit Jahren schon nicht mehr das, was eigentlich auf sie gehört, also muss sie sich auf geradezu schicksalhaften Umwegen den Weg zurück ins Öffentliche suchen –, wäre der Arzt am Scheideweg, der jetzt seine schaurig triumphale Wiederkehr feierte. Und weit über die g’schlamperte Schnoddrigkeit von Tschechows Dr. Dorn hinausging. »Der Arzt am Scheideweg« (»The Doctor’s Dilemma«) ist ein grundtrauerwitziges Stück des Dramatikers und Impfgegners George Bernard Shaw aus dem Jahr 1906. Sein Doktor heißt Dr. Colenso Ridgeon. Und die Grundfrage des Stücks von 1906, die im deutschen Fernsehen im Frühjahr 2020 zuerst nur in Anklängen und Berichtssplittern aus der Ferne gestellt wurde, in der Paris, Straßburg, New York, Mailand, Madrid und Bergamo liegen, sich dann je länger, je mehr mit Furcht und Hoffnungslosigkeitsphantasien und Empörungsmechanik dynamisch auflud, lautet: Welches Leben ist mehr wert? Wenn gilt, dass es nicht für alle reicht? Aber alle das wollen, wofür alle auf der Welt sind: überleben?
Für Anne Will zum Beispiel, eine der tonangebenden Gouvernanten-Primadonnen des Ersten Deutschen Fernsehens, gleichsam die Abfrage-Königin eines nationalpolitischen TV-Stuhlkreises, in den sich alle, die in der politischen Öffentlichkeit eine Rolle spielen wollen, ohne Murren einzureihen haben, um schülerhaft still dazusitzen und erst dann zu antworten, wenn sie gefragt werden, ist das gar keine Frage gewesen. Sondern eine Ungeheuerlichkeit. Spätabends hatte sie sich mit strengem, keine Aus- und Widerrede duldendem Gestus an Robert Habeck, den Vorsitzenden der Bundespartei der Grünen, im Hauptberuf Schriftsteller, gewandt und ihn gefragt, was er denn von den Interviewäußerungen Boris Palmers, des Tübinger Oberbürgermeisters und Parteifreundes von Habeck, halte, der auf dem Privatsender Sati in Sachen Corona-Schutzverordnungen gemeint hatte: »Wir schützen hier Leute, die in ein paar Monaten sowieso gestorben wären.« Wobei alle den Palmerschen Nachsatz ignorierten, dass unsere Schutz- und Restriktionsunternehmungen vor allem im wirtschaftlichen Bereich zur Folge hätten, dass in Afrika Millionen von Kindern verhungern könnten. Habeck, eine Ichgebe-sofort-zu!-Botmäßigkeit im Abgefragtenblick und -tonfall, konzedierte, ohne zu zögern, dass »der Boris herzlos« sei und dass die Partei sich Konsequenzen, sprich Rauswurfmöglichkeiten überlege. Was die Gouvernante mit gnädigem Augenliderschließen quittierte.
Dabei hatten